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3.4  Ich verschwand und überließ meine Tochter ihrem Schicksal  

 

 

 

65-87

Als sie acht Jahre alt war, schrieb Katja in der Schule einen Aufsatz:

Mein Tagesablauf

Meine Mutter weckt mich. Das Frühstück ist schon vertig. Dann esse ich auch und zieh mich an, dann wasch ich mein Gesicht und zie meinen Mantel an und zetz meine Mappe auf und geh zur Haltestelle und dann treffe ich manchmal meine freundin die traut sich noch nich aleine zur Haltestelle zu gehen deswegen ist ihre Mutter immer mit bei der Haltestelle und im Bus ist immer ihre Freundin mit ihrem Opa. Ich steige mit ihr ein sie geht gleich zu ihrer Freundin, manchmal treff ich auch welche aus meiner Klasse aber dann ist meine Freundin mit ihrer Freundin schon drausen. Zwei Stationen weiter steige ich dann aus muß ich noch ein bischen laufen bis ich an meiner Schule bin die 1. Stunde vergeht die 2. Stunde vergeht die 3. Stunde vergeht die 4. Stunde vergeht dann hab ich schluß ich gehe wieder zur Haltestelle der Bus kommt ich muß im Gedrängel einsteigen dann muß ich aussteigen ich geh nach haus das Mittagessen ist schon vertig ich esse dann mach ich Schularbeiten ich gehe dann spielen bis sechs dann komme ich zum Abendbrot. Beim Abendbrot gucke ich Fern, dann ziehe ich mich aus und putz mir die Zähne und geh ins Bett. Das wiederholt sich jeden Tag und jeden Abend.

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Wenn ich das lese, dann tut es mir weh. Mir wird klar, daß Katja mich nicht hatte, daß ich nicht für sie da war. Ich sehe manches, was ich damals, 1974 und in den folgenden Jahren, massiv verdrängt habe: ihre Sehnsucht nach Beziehung, nach Abwechslung, nach der Freundin. Daß die Freundin weggeht, zu ihrer anderen Freundin geht, hat Katja nicht zufällig festgehalten. Es scheint ein Lebensmotiv zu sein: Jemand geht weg und kommt dann nicht wieder.

Die Suche nach Katja kostet mich Kraft, geht mir zu Herzen. 1974 schrieb sie auf einer Postkarte: »Lieber, lieber, lieber Papa, ich habe mich sehr über Deinen langen, langen Brief gefreut. Aber ich denke, daß Pi (die Katze) weggelaufen ist. Ich glaube, du weißt es schon, daß das Grab von Pi in Großmutters Garten ist. Wir kommen am Samstag wieder. Deine Katja Wieck.«

Ich habe diese Karte lange Zeit übersehen, dann irgendwo vergraben, vielleicht, als ich sie erhielt, gar nicht verstanden. Als sie mir jetzt wieder in die Hände fiel, erfaßte mich ein ungeheurer Schmerz — angesichts der Sehnsucht, welche die kleine Achtjährige zum Ausdruck brachte. Ich konnte mit ihrer Sehnsucht nicht umgehen, stand nicht zur Verfügung, war den Bedürfnissen meiner Tochter nicht gewachsen.

Heute holt mich das ein. Mit meiner unerhörten Trauer kann ich jetzt kaum fertigwerden. Mich tröstet der Gedanke, daß Katja heute 27 Jahre alt ist und nicht mehr die Gefühle einer Achtjährigen hat. Daß sie auch schon herb und kräftig mit mir umgegangen ist, daß die Liebessehnsucht, die sie damals auf dieser Karte zum Ausdruck gebracht hat, heute nicht mehr so schmerzt. Im Grunde aber ist das kein ausreichender Trost.

1974 kam der erste Brief von Katja aus Dänemark: »Lieber Papa und liebe Irmgad, geht es euch gut? Mir get es gut. Wir waren erst bei einem neten freund von Mutti und dann waren wir in Skallerup gewesen in einen Hotel. Wir sind jetzt bei Hjörrink. Viele grüse, eure liebe Katja.«

Ich antwortete:

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»Liebe Katja, Irmgard und ich, wir haben uns riesig gefreut über Deinen Brief. Das war der erste Brief, den ich von Dir bekommen habe, und er war sehr schön. Du kannst schön schreiben. Du siehst fremde Länder und auch, daß es woanders auch nette Leute gibt... . Wir machen uns auch ein paar schöne Ferientage. Da gehen wir ins Kino und Baden und machen Besuche. Gestern waren wir bei Familie H. eingeladen. Die haben drei fünf Wochen alte, niedliche Kätzchen, die gerade in eine Hand hineinpassen. Vielleicht könnt ihr doch euer Meerschwein abgeben und euch eine Katze holen? Unser Mucki—Kater ist auch noch da. Neulich war er die ganze Nacht weg und betrat erst morgens wieder die Wohnung, als ich die Zeitung holte. Ich freue mich darauf, wenn Du wieder einmal zu mir kommst und wir dann einen so schönen Spaziergang machen können wie neulich im Stadtpark Steglitz. ... Ich würde mich freuen, wenn Du noch eine Ansichtskarte schickst. Viele herzliche Grüße von Deinem Papa Wilfried und auch von Irmgard.«

Darf ein Mann sich von seiner Frau trennen, wenn beide ein Kind haben? Selbstverständlich. Er muß es tun, unter bestimmten Umständen. Zwei Eltern, die sich nicht mehr lieben, tun auch ihrem Kind nicht gut. Bevor sie Kinder haben, müßten Eltern miteinander leben lernen.

Was kann der Vater tun, der von Mutter und Tochter getrennt lebt? Wie kann er sich verteidigen? Wie kann er ein Gegengewicht bilden?

Ich habe das zwanzig Jahre lang versucht. Es ist mir nicht gelungen.

Im Jahr 1977, Katja war inzwischen elf Jahre alt, erreichten uns folgende Zeilen: 

»Mit meiner Mutter verstehe ich mich nicht gut. Vor allem sagt sie mir immer, daß sie mich nicht leiden kann, daß ich egoistisch bin, blöd und streitsüchtig. Sie versteht mich einfach nicht... Außerdem wollte ich fragen, ob ich nicht einmal wieder zu euch kommen kann. Vielleicht schreibt ihr mir, wann, oder ruft mich an. Viele Grüße, Eure Katja.«

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Immer wieder diese Wendung: Katja würde gerne einmal wieder zu uns kommen, ist sich aber nicht sicher, ob wir das wollen. Heute glaube ich nicht mehr, daß ich diese rührenden Zeichen damals in genügender Deutlichkeit gefühlt, wahrgenommen und gewürdigt habe. Almuth hatte ihren Teil dazu getan. Katja schrieb nämlich auch so: 

»Lieber Papa! Da wir es alle nicht mehr aushalten konnten, nach Dänemark zu fahren, haben wir uns entschlossen, schon Freitag zu fahren. Es tut mir sehr leid, daß ich deswegen aber die Verabredung nicht einhalten kann. Ich hoffe, Du bist mir nicht allzu böse. Ich werde Dir aus Dänemark schreiben. Dann weißt Du gleich unsere Adresse. Deine Katja.«

Diesen Brief deute ich so, daß doch einiges unternommen wurde, um Besuche von Katja bei mir zu unterbinden. Die Mutter hatte kein Interesse daran — ihre Rache an mir.

Am 8. September 1978 schrieb Katja aus Passau: 

»Lieber Papa! Ich habe mich so gefreut, am Samstag zu Dir zu kommen. Daraus wird ja nun nichts. Aber als ich dann hier so lag, kam der Arzt rein und berichtete mir, daß Du angerufen hast. Ich habe mich sehr gefreut und hoffe jetzt die ganze Zeit, daß Du plötzlich da bist.«

Auf diesen Brief hatte Katja mit Rotstift ein dickes rotes Herz gemalt. Sie hatte einen Unfall gehabt und lag im Passauer Krankenhaus. Ich konnte nicht hinfahren. Konnte ich wirklich nicht fahren? Das ist wahrscheinlich eine faule Ausrede gewesen. Heute würde ich hinfahren, damals hätte ich es bestimmt auch gekonnt. Ich hätte es möglich machen können.

Während ich in alten Unterlagen und Briefen herumstöberte, fand ich ein Blatt mit einem Gedicht, das Katja einmal aufgeschrieben hat:

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Im Herbs

Da muß man lustig sein,
da ist's die rechte Zeit:
da laden tausend Apfelein
zum Spiel und Schnabulieren ein.
Die Trauben weinen gar vor Freud',
viel Tränen voller Süßigkeit. 

Mich rührt nicht nur das fehlende »t«.

 

Ich erinnere mich — als Katja mit 13 Jahren zum ersten Mal bei einer unserer Therapiereisen in Pisselberg dabei war —, daß sie plötzlich herauslief und weinte. Ich ging hinterher, versuchte, sie zu trösten, habe sie in den Arm genommen. Das war das erste Mal, daß ich mich das getraut habe. Ich blieb in Ruhe bei ihr sitzen, und sie hat mir erzählt, wie es ihr geht. Hinterher hat sie sich besser gefühlt. Ich konnte sie trösten, habe es aber viel zu selten gemacht. Es gibt dafür keine Entschuldigung. Ich hatte immer Angst, sie in den Arm zu nehmen, weil mich eine Geste der Zurückweisung zu sehr geschmerzt hatte. Mit meiner Kunst, um Katja zu werben, stand es nicht zum besten. <Narzißtische Kränkung> würden es die unbarmherzigen Deuter nennen.

Der Vater hat Katja zweifellos gefehlt. Kontakt zu mir wäre wichtig gewesen, auch für die Gestaltung ihrer späteren Beziehungen zu Jungen und Männern. Als ich einen Vortrag vorbereitete, den ich in der Lessing-Hochschule zum Thema »Tochter und Vater« halten wollte, schrieb ich an den Rand eines Vortragsblattes: »Wir brauchen noch viel Zeit, haben sie aber auch.«

Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Mir wird bewußt, um wieviel wichtiger ich Katja damals hätte nehmen müssen. Sie hatte auf ihrem Zettel, den sie in unseren Gesprächskreis mitbrachte, geschrieben: »Wieder das Gefühl, daß mich keiner mag.«

Katja hatte immer das Gefühl, daß ich Almuth in Schutz nehme und nicht sie. Mir fehlte damals das Einfühlungsvermögen für meine Tochter in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Ich dachte immer, daß ich sie daraufhinweisen muß, wie gut es ihre Mutter macht. Almuth hat es auch im großen und ganzen gut gemacht. Aber daß ich das hervorhob, tat Katja nicht gut. Almuth hat auch Fehler gemacht, die Katja zu spüren bekam. Ich habe meine Tochter nicht genügend in Schutz genommen.

Immer wieder haben wir uns geschrieben. Heute, wenn ich Katjas Briefe wieder lese, denke ich: Sie bringt sehr genau zum Ausdruck, wie sie sich fühlt und was sie eigentlich braucht. Ich jedoch neigte zu langen und komplizierten Antwortbriefen, die manchmal viel zu grob waren und immer »alles« umfassen sollten. Offenbar habe ich Katjas Gefühle nicht angenommen, wollte ich meine Tochter belehren.

Ich will zum Schluß dieses Kapitels noch einmal zusammenfassen, was mich bedrängt, wenn ich versuche, mich in Katja einzufühlen:

1. Der Vater, der auf einmal weg ist. Der große Schmerz, der wegen dieses Unglücks verdrängt werden muß. Die Sehnsucht, die bleibt, aber auch verdrängt werden muß. Die Notwendigkeit, sich auch ohne den, der einem lieb war und der verschwunden ist, zurechtzufinden.

2. Die kranke Mutter. Das bloße Kranksein und Gefährdetsein der Mutter löst Schuld und Verantwortungsgefühle bei der Tochter aus. Teile eines Lebensplans fugen sich zusammen: Helferin werden, Krankenschwester sein, andere Menschen pflegen, auf die Gesundheit der Menschen achten.

3. Menschen, die Katja nicht genug im Auge hatten. Katja muß immer vernünftig sein und darf keine Fehler machen, darf sich nicht spontan verhalten, muß immer aufpassen, fühlt sich kontrolliert.

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5   Katja fehlt meine Zuwendung 

 

 

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Am 13. April 1982 fragte mich Almuth noch einmal, ob Katja nicht bei mir wohnen könne. Sie würde sich bei mir viel wohler fühlen, außerdem sei sie, Almuth, seelisch und körperlich zu sehr belastet. Ich antwortete, daß es eine Menge Gründe gebe, warum Katja nicht zu Irmgard und mir ziehen könne, und äußerte die Befürchtung, das enge Zusammenleben strapaziere nicht nur die Beziehung viel mehr, sondern könne sie auch zerstören. 

»Immer wieder habe ich Dir Gespräche über Katja angeboten«, schrieb ich, »von dieser Möglichkeit hast Du, sicher aus subjektiv nachvollziehbaren, aber für Katja nicht guten Gründen keinen Gebrauch gemacht. Wenn wir zu dritt zusammen sitzen, passiert Unangenehmes. Katja schimpft mit Dir, Du bist sehr sanft und zurückhaltend, ich vertrete Deine Sache. Auch nicht gut für meine Beziehung zu Katja.«

Auf diesen Brief hat Almuth nicht geantwortet.

Dann lernte Katja einen jungen Mann kennen. C. war 22 Jahre alt, Katja 16. Es gab sexuellen Kontakt. Almuth war besorgt. Ich erfuhr davon und schrieb am 9. Mai 1983 an meine Tochter: 

»Liebe Katja, sicher habe ich heute wieder >nüchtern< reagiert, nicht so warm und freundlich, wie es schön wäre und wie Du es Dir wünschst. Ich kann das nicht immer... Nun liebt Dich jemand, nämlich C.,und Du willst nicht Nein sagen, Du bist so glücklich. Ich freue mich ja auch sehr mit Dir, daß Du Dich angenommen fühlst von C. Das wollte ich vor allem zum Ausdruck bringen. Du weißt manchmal noch nicht, daß Du eine sehr schöne Frau, klug und begehrenswert bist. Wer soll die Empfängnisverhütung verantwortungsvoll übernehmen? C. hat Qualitäten als Mann, aber er hat nicht erlebt, daß sein Vater seine Mutter achtete. Ohne Präservativ mit Dir zu schlafen, das ist genauso schön wie mit Präservativ. Der Orgasmus ist genau derselbe. C. ist bequem und verwöhnt. Darum will er den Gummi nicht überziehen. Viele Männer reden dummes Zeug, wenn sie behaupten, >ohne< sei es >schöner<....

Aber ein Irrtum muß ausgeräumt werden. C. ist nicht allein für die Empfängnisverhütung verantwortlich. Das können wir von ihm nicht verlangen. Er ist sich der Tragweite einer eventuellen Empfängnis nicht bewußt, sein Vater hat es ihm nicht vermittelt. ... Du bist auch für Dich und Dein Wohl und Dein Leben verantwortlich. Und ich werde Dir dabei helfen, wenn Du es magst..... Ich freue mich über Dich, daß Du da bist, ich bin stolz auf Dich und Deine Klugheit, und nun sehe ich Minderwertigkeitsgefühle. Du wirst auch diese überwinden. Noch spüre ich sie, deutlich und hautnah. Es erschüttert mich, daß Du, weil C. Dich akzeptiert und Du das erste Mal empfinden kannst, >ein Mann begehrt mich als Frau', darauf angewiesen bist, ohne Schutz mit ihm zu schlafen.

Das mußte ich Dir heute abend noch schreiben, weil es mich nicht losgelassen hat. Ich hoffe, daß Du merkst, daß ich es aus Liebe tue, die ich nicht immer zeigen kann, und daß ich Dir keinerlei Vorhaltungen machen will. Immer werde ich für Dich da sein, wenn Du irgendwie in Schwierigkeiten kommst, und nie lasse ich Dich im Stich...»

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Drei Tage später schrieb mir Almuth, daß sie meine große Sorge um unsere Tochter teile: 

»Ich war entsetzt, als ich erfuhr, daß sie ohne jedes Verhütungsmittel mit C. schläft. Trotz aller Aufklärung durch Elternhaus und Schule ist es nun dazu gekommen. Wir haben einfach in der seelischen Aufklärung versagt. Ich sehe es so wie Du, daß Katja aus ihren Minderwertigkeitsgefühlen heraus glaubt, C.'s Wünsche erfüllen zu müssen, weil sie sonst eine so wichtige Quelle der Bestätigung verlieren könnte....

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Ich denke nun wie Du, daß wir ihr einen Teil der Verantwortung abnehmen müssen, da sie in mancher Hinsicht nicht erwachsen sein kann. Ich werde mit ihr in den nächsten Tagen zur Gynäkologin, die Roswitha ihr empfohlen hat, fahren und für die Pille sorgen. Außerdem möchte ich, daß sie in den kommenden drei Wochen zu Hause schläft, um Situationen, die sie noch nicht richtig einschätzen kann, gering zu halten. Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue, es ist so schwer, ein Kind alleine zu erziehen. Vielleicht kannst Du mich in den nächsten drei Wochen unterstützen, so daß Katja sieht, daß wir wenigstens in dieser Angelegenheit der gleichen Meinung sind, und daß sie sich etwas sicherer fühlen kann.»

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Almuth hatte auf meinen letzten Brief mit einem Gesprächsangebot nicht reagiert. Deshalb gab ich ihr auf diesen Brief auch keine Antwort, wollte mich auf keinen Fall mit ihr verbünden, um so zu tun, als ob wir jetzt die Verantwortung für Katja übernehmen müssen. Für angebracht hielt ich jedoch, mit Katja in Beziehung zu bleiben und sie zu unterstützen. Ganz deutlich hatte ich in meinem Brief geschrieben, daß Katja jetzt die Verantwortung übernehmen soll.

Und Katja schrieb mir eine Karte aus Paris: »Ich möchte jedenfalls weiterhin Kontakt mit Dir, wenn nicht als Therapeut, dann als Vater. Jetzt bin ich mit C. in Paris. Es ist hier schön, und wir haben auch eine Menge gesehen. Mit C. verstehe ich mich recht gut. Wir können über alles reden.«

Ich antwortete am 28. Juli 1983: 

»Wir sollten uns als Vater und Tochter begegnen bzw. erst einmal entdecken. Ich habe seit über einem Jahr beiliegenden angefangenen Brief aufgehoben, den ich nicht abschickte, weil ich Deine Adresse nicht kannte. Immerhin ein Hinweis darauf, daß Du auch etwas bemühter um die Beziehung zu mir als Vater sein könntest. Gut, das gilt auch für mich, aber auch als Vater muß ich erst noch lernen. Du bist ja meine einzige Tochter, und ich konnte das Vatersein nicht viel üben...«

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Almuth starb im September 1984. Katja rief mich frühmorgens um fünf Uhr an und erzählte es mir. Ich fuhr hin, versuchte, mich um Katja zu kümmern, blieb einige Stunden dort, habe sie auch in den Arm nehmen können. Sie hat geweint.

Nach Almuths Tod hat Katja auf meine Frage, was sie sich denn nun von mir wünscht, geantwortet: »Ich wünsche mir, daß Du von jetzt an Vater und Mutter gleichzeitig für mich bist.« Schon vorher hatte sie in einem Brief geschrieben: »Ich empfinde, daß mir persönliche Zuwendung von Dir fehlt.«

Einen solchen Wunsch, für jemanden wie Katja Vater und Mutter zugleich zu sein, hatte ich noch nie gehört. Ich war bisher nicht einmal ein guter Vater gewesen, geschweige denn, daß ich Ansätze zu mütterlichem Verhalten gezeigt hätte. Mir war sofort klar, daß ich Katjas Wunsch nicht würde erfüllen können. Ich habe es ihr allerdings nicht gesagt.

Am 15. April 1984 war noch einmal ein Brief von Almuth gekommen. Sie war seit einer Woche mit ihrer Freundin an der Nordsee, unternahm jeden Tag kleine Spaziergänge am Meer. Jeden Tag hoffte sie auf Besserung ihres Zustandes: »Morgen kommt uns Katja besuchen. Ich freue mich sehr. ... Brauchst Du einmal ein paar Tage Ruhe und Erholung, so komm nach Skallerup! Wir haben viel Platz und werden wahrscheinlich bis zum September bleiben. ... Es ist schon eigenartig, hier Tag für Tag auf Godot zu warten. Herzliche Grüße, auch an Irmgard, von Almuth.«

Das war eine der letzten Nachrichten, die ich von Almuth bekommen habe. Sie hat offenbar ihren nahenden Tod gespürt. 

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Die Nachricht hat mich insofern berührt, weil ganz deutlich zum Ausdruck kommt, daß Almuth sich gefreut hätte, wenn ich noch einmal nach Dänemark gekommen wäre und mit ihr Verbindung aufgenommen hätte. Nach vierzehn Jahren Trennung von Almuth und all den Kränkungen,die sie mir zugefügt hatte, schien mir diese Idee jedoch völlig abwegig (wobei mir bewußt ist, daß sie jetzt nicht mehr von den Kränkungen,die ich ihr zugefügt hatte, erzählen kann). Auch heute, nachdem ich weiß, daß Almuth nach dieser Karte nur noch fünf Monate gelebt hat, bin ich mir sicher, daß es nicht gut gewesen wäre, wenn ich dort hingefahren wäre.

Seit Almuths Tod hatte ich den Schlüssel zu Katjas Wohnung. Ich fuhr immer sehr gern dorthin. Für mich war die Möglichkeit, Katja jederzeit zu besuchen und auch die kleine, von ihr ganz toll eingerichtete Wohnung zu benutzen, geradezu beglückend. Wenn Irmgard und ich Streit hatten, fuhr ich in Katjas Wohnung, verbrachte einige Tage dort allein, manche auch mit Katja zusammen. Es war ein Zufluchtsort, in dem ich zur Ruhe kommen, gründlich nachdenken und Entscheidungen fällen konnte. Auch die Möglichkeit, mit Katja über schwierige Situationen zu sprechen, war mir wichtig.

Einmal war ich auch in der Wohnung, als Katja krank war und gepflegt werden mußte. Es ging ihr sehr schlecht, ich mußte einen Notarzt rufen und nachts Medikamente aus der Apotheke holen. Ich wachte neben ihrem Bett, versuchte, sie ein bißchen zu trösten. Das hat ihr gut gefallen.

Immer wieder hat Katja Gäste eingeladen; wir haben zu dritt oder zu viert zusammengesessen, Katja hat Essen gemacht. Auch zu Festen, zu Weihnachten oder wenn sie Geburtstag hatte, lud Katja Irmgard und mich ein, und noch andere Gäste. Es wurde Musik gehört, gegessen,miteinander geredet. Wir haben viel gelacht. Es war eine sehr schöne Zeit.

Wenn ich mir das vor Augen führe, wird mir klar, wie unsinnig Distanzen und Schwierigkeiten in Beziehungen eigentlich sind. Wieviele schöne Stunden hätten Katja und ich in den letzten drei Jahren miteinander verbringen können, wenn wir nicht beide solche Dickköpfe wären. Aber es war nicht nur Dickköpfigkeit; es gab schwerwiegende Differenzen zwischen uns, die durch die verschiedenen Stationen der Lebensläufe und die unterschiedlichen Reaktionen der Beteiligten entstanden sind. Schade, sehr schade ist es doch. Ich hätte sehr gerne mehr Kontakt mit Katja, freundlichen Kontakt, und ich glaube im tiefsten Inneren, auch Katja hätte ihn gerne.

Ich schrieb immer mal wieder Briefe, in denen ich eine ernsthafte Bemühung um meine Tochter zum Ausdruck brachte; nicht auf alle bekam ich Antwort oder auch nur eine Reaktion am Telefon. Vielleicht muß ich davon ausgehen, daß Katja mit meinen Briefen genausowenig anfangen konnte wie ich mit den Briefen meiner Mutter. Und möglicherweise ergeht es Katja einmal genauso wie mir: NachJahren lese ich die Briefe wieder, merke, daß in ihnen ernsthafte Beziehungsangebote ausgesprochen worden sind,die ich nicht wahrnehmen konnte, weil ich die Verbindlichkeit nicht fühlte, nicht offen genug für jemanden war, der ein ganz anderes Leben führte.

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6  Ich fühle mich von dir nicht ernstgenommen  

 

 

Es war 1987, als sich Katja für einige Männer aus der Travestie-Szene begeisterte, am stärksten für Melitta. In dem Jahr und auch in den folgenden Jahren gab es in Berlin diese jungen Männer, die sich als Frauen kleideten, vielleicht auch als Frauen fühlten, jedenfalls als solche auftraten — mit dem Programm »Ladies Neid«. 

Katja hatte sich dafür interessiert, war mehrfach hingegangen und hatte mich schließlich eingeladen. Ich begleitete sie, die Männer gefielen mir. Als ich später erfuhr, daß einige von ihnen an Aids erkrankt waren, hat mich das sehr getroffen und traurig gemacht. Einmal mußte ich in Katjas Gegenwart weinen, als sie davon erzählte.

Melitta gefiel Katja gut. Eine von vornherein auf Distanz gelebte Schwärmerei, die niemals zu einer Beziehung hätte führen können. Katja schrieb mir in einem ihrer Briefe: »Vielleicht ist es Dir gar nicht angenehm zu hören, wenn ich über jemanden schwärme, wie zum Beispiel über Melitta. Irgendwie bist Du ja im Moment nicht mehr der wichtigste Mann für mich, der <ganz im Mittelpunkt steht>.« 

Sie merkte an, daß ich ihr bei bestimmten Themen nicht genügend zuhörte: »Wenn es um die angebliche Nutzlosigkeit der Schwärmerei für Melitta geht, hörst Du nicht mehr zu.«

War das so, daß ich zum Beispiel bei Themen wie Partnerschaft, Verliebtheit, Schwärmerei eine gewisse Geltungssucht an den Tag legte, weil ich es nicht aushielt, daß ein anderer Mann für Katja wichtiger war? Ich hatte keineswegs diesen Eindruck. Katja meinte, daß ich mich drückte, indem ich sie provozierte, zum Beispiel mit Äußerungen wie »Es gibt Leute, die mehr in der Phantasie leben als in der Realität.«

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Jedenfalls war die Folge von solchen ironischen Einwänden, daß Katja mir nichts mehr erzählte: 

»Ich empfinde manchmal, daß ich Dich mit dem, was ich sagen will, nicht mehr erreiche. Ich denke, daß Du das, was ich sage, wirklich ernster nehmen könntest und mehr darüber nachdenken müßtest.... Vielleicht klappt auch deswegen das Gespräch mit Irmgard manchmal besser, weil ich mich da einfach in meiner Sprache ausdrücken kann und mir trotzdem sicher bin, daß sie mitfühlt. Bei Dir ist es doch manchmal so, daß ich den Eindruck habe, darum kämpfen zu müssen, damit Du dich einfühlst und mich verstehst. Durch diesen Kampf, den ich denke führen zu müssen, kommt wahrscheinlich das Nette, was ich Dir gegenüber empfinde, viel zu kurz. Ich finde es sehr schade, denn ich habe Dich ja lieb und bin sehr gern mit Dir zusammen. Aber das geht dann unter, wenn ich gegen Deine Argumente an muß.«

Katja empfand es so, daß es nicht mehr zu ernsthaften Gesprächen kam, die für sie eine Stütze hätten sein können. Ich ermutigte Katja, sich zu wehren, wenn sie den Eindruck hätte, daß ich sie nicht ernstnehmen oder provozieren wolle. Und ich sagte ihr, daß ich mir keineswegs wünschte, der wichtigste Mann für sie zu sein. Wohl aber sei mir an Kontakt mit ihr gelegen, und daß sie mir erzählte, was mit ihr los war.

Katja vermißt eine weibliche Eigenschaft bei mir, nämlich sie zu ermutigen, weiter zu erzählen (um des Zuhörens willen), ohne den Aspekt, analysieren zu müssen, ohne das Gefühl, daß ich eingreifen, kommentieren, korrigieren, deuten usw. muß. Vielleicht später aktiv werden, sagt sie, aber erst einmal Verständnis entwickeln, einfühlend zuhören.

Was Melitta betrifft, hat Katja gesagt: 

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»Auch wenn es nutzlos ist — warum nicht schwärmen dürfen? Ich fühle mich nicht unwohl dabei. Ich sehe ihn gern an, wie er sich bewegt, wie er redet. Der neue Kreis ist für mich interessant, und Melitta gefällt mir von allen am besten. Mir kann dabei gar nichts Schlimmes passieren. Ich bin viel aktiver geworden in letzter Zeit, habe viel mehr Lust, unter Leute zu gehen. Melitta ist einfach ein zusätzlicher Anreiz. Man kann flirten, und das ist spannend.« 

Die Deutung, die ich lanciert habe, würde ihr überhaupt nicht einleuchten.

Mir war klar, daß gewisse junge Männer sich mir gegenüber unsicher fühlten, nicht nur weil ich Katjas Vater, sondern auch weil ich Psychotherapeut bin. Manchmal kompensierten sie ihre Unsicherheit durch Ignoranz. Bei Katjas Freund U. habe ich wahrscheinlich den Fehler gemacht, mich ihm gegenüber zu freundlich, vielleicht sogar anbiedernd zu verhalten, um die Distanz zu überbrücken. Das hat ihn wohl zu bestimmten unernsten Übergriffen herausgefordert. Katja hat recht, wenn sie auf meine große Empfindlichkeit hinweist.

Ich sagte Katja, daß ich im Gespräch im allgemeinen erst einmal eine fragende Haltung habe und nicht kämpferisch sei — eine Haltung, die mir ermöglicht, nachzudenken. Katja hielt mir entgegen, daß ich zu aggressiv gewesen sei, daß ich schlechte Stimmung und Unruhe verbreitet hätte. Ich sagte ihr dann: »Ich will auch einmal schimpfen dürfen.« Und Katja entgegnete: »Das war aber zu doll.«

Wir wurden uns einig, daß wir uns beide im Gespräch wechselseitig mehr Ruhe und Gelassenheit wünschen, daß jeder in Ruhe erzählen können möchte und jeder auch einmal schimpfen können muß.

Nach einem guten Gespräch ging ich mit Katja eines abends ins »Zest«, eine Disco, in der sich Travestie-Leute trafen. Im »Zest« sah ich Melitta an der Theke: ein gutaussehender junger Mann.

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Mit einem gewissen Stolz stellte mich Katja der ziemlich ungläubig reagierenden Bardame Antje als ihren Vater vor. Katja und ich tanzten auch miteinander. Ein sehr schöner Abend, den ich in äußerst angenehmer Erinnerung habe. Ich hatte mich bemüht, das Milieu kennenzulernen, in dem Katja sich aufhielt, auch bewundert, wie sicher sie sich in diesem Milieu bewegte, wie anmutig sie tanzte.

Solchen Abenden standen Zeiten gegenüber, in denen wir kaum eine gemeinsame Sprache fanden, uns über die winzigsten Punkte stritten, uns gegenseitig wütend und zornig machten. Als ich einmal ziemlich ratlos war, meinte Irmgard: »Wenn Katja in ihrem Leben genug bekäme, Zuwendung und Anerkennung, würde sie sich mit dir nicht so schlecht fühlen. Sie bekommt einfach nicht genug. Die Überempfindlichkeit resultiert aus einem Mangel an Zufriedenheit im Leben. Sie sucht dann äußere Anlässe und Gründe für ihren Arger und läßt ihre schlechte Laune an dir aus.«

Katja hat sich oft Gedanken über mich gemacht, vielleicht zu viele. Ich merkte es nicht rechtzeitig. Oft schrieb sie mir: »Ich wünsche mir immer, daß Du Dich auch einmal erholst, weil Du Dir so selten Ruhe gönnst.« Oder: »Überanstrenge Dich bloß nicht. Ich sollte Dich daran erinnern. Weißt Du noch?«

Es gehört zu den Aufgaben eines Vaters seiner Tochter gegenüber, daß er sich nicht überanstrengt, sich sein Leben so einrichtet, daß er nicht zu viel arbeitet und noch genügend Muße hat. Eine solch banale Aussage könnte eine wichtige Erkenntnis sein, aber meist dringt sie überhaupt nicht bis ins Bewußtsein vor. Im Grunde nehme ich die Häufung solcher tochterlicher Ermahnungen auch erst jetzt — beim Schreiben dieses Buches — wahr.

Zu Katjas Gefühl, daß ich sie nicht ernstnehme, gehörte auch meine Neigung zu unvermittelten Witzen, die bei ihr als mangelnde Aufmerksamkeit ankamen. Ich wiederum fühlte mich verletzt, als ich Katja nach einem solcher mißglückten, albernen und ironisch »unpassenden« Scherzen in den Arm nehmen wollte, sie sich aber abwandte. Dazu meinte sie, daß sie meine Umarmungen manchmal nicht als zärtlich und liebevoll, sondern als »unernst« erlebte: wenn ich ihr kumpelhaft—verspielt einen Klaps gab oder in ihren Haaren wuschelte, was sie nicht mag.

Mir war neu, daß Umarmungen und andere Zärtlichkeitsbekundungen auch als ironisch empfunden werden können. Ich hatte sie so nicht gefühlt bzw. gemeint. Also muß ich da noch mehr aufpassen.

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7. Von der Schwierigkeit, Auseinandersetzungen zu führen

 

 

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Ich möchte in diesem Kapitel kurz auf die Auseinandersetzungen, die Vater und Tochter geführt haben, eingehen. Katja hat mir oft bedeutet, daß ich Fragen stelle wie ein Lehrer, wie einer, der die Antwort schon weiß und nur prüfen will, ob der andere sie auch weiß.

Dazu fällt mir ein, daß man mir auch in der Männergruppe schon gesagt hat, ich stelle manchmal Fragen, bei denen ich mir der deudichen übereinstimmenden Meinung der anderen bereits gewiß sei oder diese jedenfalls erwarte. Und auch Irmgard spürt den Charakter der Unangebrachtheit mancher Fragen im Gespräch zu dritt. Sie geht dann darüber hinweg; Katja beantwortet meine Frage nicht, sondern geht auf Irmgards Ansprache ein. Ich fühle mich ausgeschlossen. Auch bei Freunden passiert mir das: Irmgard ist aktiv, ich gebe auf, will keine Konkurrenz, fühle mich ausgeschlossen.

Bei dem Spaziergang um den Schlachtensee, auf dem diese Dinge besprochen worden sind, habe ich gespürt, daß Katja unruhig war, wie ich sie sonst nicht kenne. Ich fühlte mich durch diese Unruhe angesteckt. — ein Indiz für unsere Schwierigkeit, Auseinandersetzungen zu führen. Und wenn wir diese führen, hängen gegenseitige Ärgernisse mit immer wieder aufbrechender Distanz zusammen. Dann ist wochenlang Funkstille.

Sobald ich die vergleichsweise harmlosen Anlässe betrachte, wegen derer Katja Distanz zwischen uns schafft, bemühe ich mich, Ärger zu unterdrücken und Verständnis zu entwickeln. Es gelingt mir nicht immer. In einem Brief fragte ich Katja: 

»Warum fällt Dir die Kontaktaufnahme mit mir so schwer? Doch nicht, weil ich, sondern vielleicht, weil Du Aggressionen gegen mich hast. Du wartest ab, in der Hoffnung, daß sich >Konflikte< von allein erledigen. Das werden sie nicht, furchte ich.Wir vergessen, was los war, schlittern in den nächsten Konflikt hinein. Der wird dem letzten umso ähnlicher sein, je weniger wir über den vorigen gesprochen haben. Auch der Charakter der Beteiligten wird erst geschmeidiger, veränderbar, wenn das Schweigen aufgegeben werden kann. Wieso hast Du Angst vor Auseinandersetzungen mit mir? Sie waren doch nie so grausam.... Du unterschätzt meine Frustrationstoleranz Dir gegenüber. ... Aber ich will Dir auch nicht nachlaufen, wenn Du eine Distanzierung für angebracht hältst. Schließlich sind ja auch solche vorübergehenden Distanzierungen nicht zu vermeiden.«

In Gesprächen kommt es immer wieder zu einer unauflösbaren Widersprüchlichkeit zwischen uns; wir können uns nicht einigen. Ich halte mich für kritikfähig, auch für korrekturbereit. Katja meint, daß dies sehr unterschiedlich sei, manchmal sei es einfach, dann wieder blockte ich total ab. Zu oft ginge ich belehrend, sozusagen »von oben herab« mit ihr um. Wenn sie mich als distanziert erlebe, werde sie unsicher und vermisse mein Interesse.

Auf meine Frage, warum sie Angst vor Auseinandersetzungen mit mir hat, antwortet Katja: 

»Im Zusammenleben mit Almuth war oft ein langes Schweigen, zum Beispiel einen ganzen Tag lang. Für mich war es sehr bedrückend, daß sie mich so ignoriert hat. Ich kenne Streit nur als Distanz ohne klärende Gespräche, höchstens mit Entschuldigungen: <Wollen wir beide wieder lieb sein?> Ich habe Angst, daß es mir zu anstrengend wird, Angst vor Ablehnung meiner Person. Wenn ich mich aufregte, ganz doll und laut, hat Almuth nicht reagiert. Sie hat dagesessen, nichts gesagt. Mutter hat geschwiegen. Ich bin dann immer noch lauter geworden. Es war immer klar zwischen uns, daß ich dir, Wilfried, ähnlich bin, so hat es Almuth jedenfalls hingestellt. Und ich denke sehr häufig, daß ich zu laut bin, zu laut rede und zu laut lache.«

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Über die Fähigkeit zur Auseinandersetzung geht es auch in einem Beitrag, den Katja zu meinem Vortrag am 10. März 1989 in der Lessing-Hochschule in Berlin geschrieben und selbst vorgetragen hat. Ich möchte Katja zum Schluß der hier erzählten Geschichte meiner Beziehung zu ihr noch einmal selbst zu Wort kommen lassen:

»Als mein Vater mich gebeten hat, für diesen Abend einen Beitrag zu schreiben, habe ich ihm sehr schnell zugesagt. Ich hatte auch gleich eine Menge Ideen zu dem Thema. Doch als ich mich hinsetzte, um einen zusammenhängenden Text zu schreiben, stellte ich fest, daß es mir sehr schwerfällt, die Gefühle, die ich Wilfried gegenüber habe, in Worte zu fassen. Vielleicht, weil ich mir meiner Gefühle oft noch gar nicht so sicher bin.

Ich denke, am besten gehe ich das Thema so an, daß ich mich frage: Was fällt mir als erstes zu meinem Vater ein?

Zuerst fällt mir ein, wie leicht ich immer noch zu verunsichern bin in Bezug darauf, ob mein Vater mich denn eigentlich gut findet. Findet er mich schön und klug? Hat er sich so eine Tochter gewünscht wie mich? Oder hätte er lieber eine andere? Wird er auch immer zu mir stehen und stolz daraufsein, daß ich seine Tochter bin?

Wilfried hat mir einmal in einem Brief geschrieben, daß er mich schön und klug fände. Und viel später waren wir einmal zusammen in einer Disco tanzen, er hat mich beobachtet und sagte mir dann, ich würde mich anmutig bewegen und sähe gut aus beim Tanzen. Es tut mir jedesmal sehr gut, von ihm so etwas zu hören, und ich bekomme das Gefühl, daß er stolz auf mich ist. Trotzdem entstehen immer wieder leicht in bestimmten Situationen starke Zweifel an mir und meiner Position als Tochter.

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Ich weiß nicht, wieviele von Ihnen beim letzten Vortrag über Väter und Töchter dabei waren. Da war ein Satz im Vortrag, daß die Väter meist enttäuscht sind, wenn die Töchter größer werden und nicht mehr so niedlich sind, wenn sie ihre eigenen Vorstellungen entwickeln und ein Vater dann das Interesse an seiner Tochter verliert.

Dieser eine Satz hat mir derart wehgetan. Ich habe sofort gedacht, daß mein Vater das auch so finden müßte. Ich glaube, die Bestätigung vom Vater ist für mich — oder auch für andere Töchter — wahnsinnig wichtig, und könnte bestimmt noch öfter kommen, wenn der Vater mehr über seine Tochter wüßte. Das ist dann auch das, was mir als zweites zu meinem Vater einfällt: Ich wünsche mir, daß Wilfried meine Situation berücksichtigt, sich einfühlt, die Dinge von meiner Seite aus betrachtet und daran Anteil nimmt.

Zum Berücksichtigen meiner Situation gehört für mich auch, ungefähr meinen Tagesablauf zu kennen. Ich weiß zwar auch, daß das ziemlich schwierig ist, denn ich arbeite als Krankenschwester und habe manchmal sehr unterschiedlich Dienst. Trotzdem meine ich, daß Wilfried wissen könnte, daß mein Frühdienst schon um sechs Uhr beginnt, und ich deshalb um acht Uhr nicht telefonisch zu erreichen bin. Oder daß er wissen könnte, wann ich Urlaub habe und wieviel Urlaub überhaupt, daß es zum Beispiel nicht möglich ist, unbegrenzt mit ihm zu verreisen.

Auch denke ich, daß ihm manchmal das Gefühl dafür fehlt, wie anstrengend meine Arbeit für mich ist, und daß ich sehr erschöpft bin, wenn ich nachmittags von der Arbeit nach Hause komme und Wilfried gerade bei mir ist. Ich denke, daß mein Vater oft zuwenig weiß, wie mein Leben so abläuft und ich es mir einrichte.

Vielleicht kann ich das, was ich mit Berücksichtigen meiner Situation meine, an einem Beispiel noch deutlicher machen. Wilfried bevorzugt die Farben blau und türkis, auch in der Wohnungseinrichtung, ich eher gelb und braun. 

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Wilfried hat mir lange Zeit Sachen in blau und türkis geschenkt, sowohl zum Anziehen wie auch für die Wohnung. Inzwischen schenkt er mir gelbe Sachen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn wir zusammen für mich Kleidung einkaufen wollen, finde ich meist nichts, weil Wilfrieds und meine Vorstellungen weit auseinandergehen.

Letztens aber habe ich mir beim Schneider einen Mantel machen lassen. Der Schneider verstand nicht sofort, wie ich den Mantel haben wollte. Da schaltete sich mein Vater ein und erklärte es ihm noch einmal, und zwar so, wie ich es wirklich haben wollte, nicht wie er es mag. In einer solchen Situation denke ich dann: Ja, mein Vater hat sich in mich eingefühlt, er hat meine eigene Vorstellung akzeptiert. Solche Situationen sind eher am Rande, und doch zeigen sie, wie ich finde, etwas ganz Wichtiges.

Wir hatten auch schon heftige Auseinandersetzungen. Im nachhinein denke ich, daß es von mir aus immer um den Wunsch ging, daß meine Gefühle und Zweifel von Wilfried beachtet werden. Wobei ich mir inzwischen sicher bin, daß die Auseinandersetzungen für uns beide auch sehr wichtig waren, bzw. die Art, wie wir uns danach verständigt haben.

Nach unserem ersten und schlimmsten Streit, vor ungefähr sechs Jahren, folgte eine ziemlich lange Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben. Dann ist mein Vater als erster wieder auf mich zugekommen. Er schrieb mir einen langen Brief. Danach konnten wir uns wieder treffen und alles noch einmal besprechen. Es war für mich sehr wichtig, zu merken, daß mein Vater mich als Person ernstnimmt und es für nötig hält, den Kontakt wieder mit mir aufzunehmen. Und daß er sich bemüht, mich zu verstehen.

Bei diesen Gesprächen ist zwischen uns eine große Nähe entstanden. Ich glaube, es kommt nicht allzu oft vor, daß der Vater bei einem Streit mit der Tochter derjenige ist, der einlenkt und die Verständigung herbeiführt.

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Natürlich gab es auch Momente, wo die Verständigung zwischen uns nicht so gut funktioniert hat.

Ich habe jetzt beschrieben, was ich mir von meinem Vater wünsche und wie ich von ihm gesehen werden möchte. Ich finde es aber auch wichtig, zu beschreiben, wie ich ihn eigentlich sehe. Ich habe Wilfried mir gegenüber lange als zu distanziert empfunden. Immer wartete ich auf eine wortlose körperliche Nähe mit ihm. Aber seine Art, auf Menschen zuzugehen, auch auf mich, passiert meist auf intellektueller Ebene, zwar auch nicht ohne Gefühle, aber weniger durch einfache praktische Hilfe oder Sympathiebeweise.

Wir hatten schon sehr viele intensive Gespräche miteinander und haben einige auch auf Tonband aufgenommen. (Anmerkung: Einige dieser Gespräche werden im Teil V des Buches abgedruckt.) Diese Art, auf mich zuzugehen, beginne ich jetzt erst richtig zu schätzen. Jetzt ist es eigentlich auch möglich, daß wir uns einmal in den Arm nehmen. Inzwischen halte ich Wilfrieds Art, sich um mich zu bemühen, sogar für sehr wichtig, weil ich glaube, daß andere Töchter auch von ihren Vätern zuwenig ernstgenommen und zuwenig gefordert werden. Sie werden nicht als Gesprächspartnerinnen, allenfalls als zärtliches Knuddeltier geschätzt.

Ich weiß auch noch, daß ich meinen Vater oft für schwach gehalten habe und es nicht ertragen konnte, wenn er geweint hat. Wahrscheinlich, weil ich dann meinte, ihm gleich helfen zu müssen, damit er nicht länger traurig ist. Gelänge es mir, Wilfried so zu schätzen, wie er ist, ihn also freizulassen, müßte ich mich nicht für seine Traurigkeit verantwortlich fühlen.

Ich wünsche mir, daß ich meinen Vater noch besser sehen lerne. Wenn wir zum Beispiel mit anderen Menschen zusammen sind, möchte ich noch mehr das Gefühl der Selbstverständlichkeit, daß wir zusammengehören, entwickeln, und die Freude, daß wir uns sehen.»

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