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1. TEIL - DIE BEDROHUNG DER INTELLIGENZ

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1. Kapitel - Endstation Gehirn

 

Das menschliche Gehirn wird mittlerweile durch sich selbst gefährdet. Wie eine Endstation ist es ein Endpunkt, in den unsere Fehler und Irrtümer in der Umweltpolitik münden, aber auch der Ausgangspunkt dieser Fehler und ihrer Korrektur. Es ist Opfer, Täter und Heiler zugleich bei fehlerhaften Veränderungen der Umwelt, die, wie wir mittlerweile wissen, unsere intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigen können. Unsere Intelligenz - wie wir erkennen, wie wir argumentieren, wie wir lernen - ist unsere Art zu überleben. Bei Individuen sind die meisten Schädigungen der Gehirnfunktion unumkehrbar, so daß der Preis, den der einzelne zu zahlen hat, offenkundig und oft ungeheuer hoch ist. Die Natur der Beeinträchtigung bringt es unweigerlich mit sich, daß sich die Fähigkeit bei denen, die darunter leiden, verringert, den Ursachen entgegenzuwirken. Für soziale Gemeinschaften lassen sich die Konsequenzen eines weitverbreiteten intellektuellen Niedergangs zwar leicht vorstellen, aber nur schwer konkret aufspüren, so daß unsere kollektive Reaktion auf diese besondere Umweltbedrohung ebenfalls minimal ist. Im Verlauf von Jahrmillionen hat sich unser Gehirn einer positiven Interaktion mit seiner Umwelt erfreut, was zu einer günstigen Entwicklung des Gehirns führte. Jetzt könnte sich dies ändern. In der langen Geschichte der menschlichen Evolution ist die gegenwärtige Bedrohung des Gehirns durch sich selbst eine völlig neuartige Situation, und in bestimmten Gemeinschaften liegt eine regressive Gehirnentwicklung daher durchaus im -7-

Bereich des Möglichen. Unser Gehirn ist der einzige Bestandteil des Ökosystems, der sein eigenes Wohlergehen direkt gefährdet, was eine einzigartige Form von ökologischer Verwundbarkeit ahnen läßt. Logischerweise sollte dem menschlichen Gehirn bei der Sorge um die Umwelt Vorrang eingeräumt werden, doch so ist es nicht. In welcher Weise und warum droht der Endstation Gehirn jetzt durch ihr eigenes Verhalten Gefahr? Was bedeutet dies für das Überleben des einzelnen und der Menschheit insgesamt? Weltweit gelten bis zu 3 Prozent jeder Gesellschaft als geistig behindert (intellectual disability), wenn man klinische Begriffe des Westens wie etwa »geistige Behinderung« (mental handicap) zugrunde legt. Aber selbst traditionellere Begriffe wie etwa das dununu der afrikanischen Shona besagen das gleiche. In manchen Weltregionen sind inzwischen schon fast 20 Prozent aller Menschen von solchen Störungen und Fehlentwicklungen betroffen. Parallel dazu ist ein weit häufigeres Vorkommen leichterer Fehlfunktionen des Gehirns ohne klinische Symptome festzustellen. In manchen afrikanischen Städten haben inzwischen 90 Prozent der Kinder Bleikonzentrationen im Blut, die zu Problemen der geistigen Entwicklung führen können. Der Grund dafür ist das Vorhandensein von Stoffen in der Umwelt, die das intellektuelle Potential zerstören, etwa Schwermetalle oder radioaktive Strahlung, sowie das Fehlen von Makro- und Mikro-Nährstoffen in der Umwelt, die für die gesunde Entwicklung und Funktionsweise des Gehirns notwendig sind, etwa Jod oder Eisen. Es gibt auch schädliche Synergien der beiden, die bedeutsam zu sein scheinen, bei herkömmlichen Analysen aber meist übersehen werden. So kann beispielsweise Eisenmangel die Aufnahme von Blei im Körper beschleunigen. Eine Einschätzung der Umweltbedrohungen für die menschliche Intelligenz ist außergewöhnlich schwierig, nicht zuletzt deshalb, weil es keinen einzelnen Begriff gibt, um sie zu beschreiben.

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Ausgangspunkt sollte daher die Benutzung eines kollektiven Begriffs sein: geistiger Verfall infolge von Umwelteinflüssen (= hier und im folgenden abgekürzt: GVU). Im englischen Original lautet die Bezeichnung environmentallymediated intellectual decline, deren Abkürzung EMID in den meisten Fachpublikationen verwendet wird. Trotz einer unzulänglichen begrifflichen Erfassung gibt es heute genügend Belege dafür, wie man bedeutsame Probleme in einem kleinen Maßstab zeigen kann. Die Frage, die das vorliegende Buch stellt, lautet folglich einfach: Sind die vorhandenen Fälle dieses geistigen Verfalls infolge von Umwelteinflüssen ein Hinweis auf etwas Größeres? Auswirkungen auf das Gehirn werden mit Hilfe vieler verschiedener und sich überschneidender Begriffe beschrieben keiner von ihnen weist ausdrücklich auf umweltbedingte Ursachen hin. Im vorliegenden Buch wird durchgehend so verfahren: Wenn die Diskussion sich aus bestimmten Quellen herleitet, ist die Terminologie der Quelle beibehalten worden. Allgemein gilt: • Geistige Behinderung im umfassenden Sinn meint die gravierenden permanenten Störungen, die man mit Begriffen belegt wie »geistig behindert« (mental handicap), »geistige Retardation oder Entwicklungsverzögerung« (mental retardation), »Lernbehinderung« (learning disabilities) - oft auch klinische Resultate genannt. • Geistige Fehlfunktionen (intellectual dysfunction): Damit sind die zahlreichen weniger schwerwiegenden permanenten oder vorübergehenden Zustände wie etwa verringerte Auffassungsgabe und Lernfähigkeit, Gedächtnisschwäche oder verringerte kognitive Funktionen gemeint - oft auch Resultate, die kein klinisches Erscheinungsbild zeigen, genannt.

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• Der Begriff geistiger Verfall (intellectual decline) bezeichnet beide Erscheinungsformen. • Der Oberbegriff ist geistiger Verfall infolge von Umwelteinflüssen (= hier und im folgenden abgekürzt: GVU): • Infolge von Umwelteinflüssen heißt aber nicht, daß »die Umwelt an sich« die eigentliche Ursache des Problems ist, sondern daß menschliches Handeln oder Unterlassen dem Verfall zugrunde liegt. • Verfall bezeichnet die Auswirkung auf das intellektuelle Potential von Einzelpersonen und Populationen. Die Auswirkungen unserer Fehler und Irrtümer beim Umgang mit der natürlichen Umwelt treten in zahlreichen Formen auf. Viele werden durch biologische Öko-Mechanismen unschädlich gemacht. Einige machen sich in der menschlichen Nahrungskette bemerkbar, andere wiederum wirken direkt auf den menschlichen Körper ein, etwa indem sie inhaliert werden, aber auch durch sensorische Penetration oder das Eindringen in die Haut. Auswirkungen sind dann im Blut festzustellen, im Körpergewebe oder in den Genen. Die Wege in den menschlichen Körper sind komplex und ungezählt, und das menschliche Gehirn ist einer der Endpunkte. Mit den Worten Buckminster Fullers »ist der Körper die mobile Umwelt des Gehirns«. Er ist eine besondere Umwelt, die eine ganze Batterie von Abwehrmechanismen gegen toxische Attacken auf das Gehirn aufbietet: z.B. Leber, Nieren und vor allem die sogenannte Blut-Gehirn-Schranke sowie die Schranke zwischen Nase und Gehirn. Aus menschlicher Perspektive könnte man die Wege der Umweltbedrohungen innerhalb der ökologischen sowie der körperlichen Umwelten auch als die natürlichen Abwehr-mechanismen bezeichnen, die einem Oberziel dienen: der menschlichen Intelligenz. Doch ist dies eine Ansicht, die den Menschen zum Maß aller Dinge macht.

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 Aus einer ökologischen Perspektive ist das menschliche Gehirn nicht die Endstation, sondern nur eine weitere Station auf einer kreisförmigen Bahn: einer Bahn, die man stillegen und umfahren kann, wenn sie dem Gesamtsystem keine Vorteile zu bringen vermag. Wenn die menschliche Intelligenz für das Überleben eines Ökosystems eine spezifische Bedrohung darstellt, könnte dieses System sich schützen, indem es die destruktiven Fähigkeiten der fraglichen Intelligenz einschränkt. Eine Population mit einem Höchstintelligenzquotienten von 70 würde das Ökosystem nicht mit dem Betrieb von Atomkraftwerken bedrohen, auch keine giftigen Emissionen verursachen oder Automobile herstellen. Die Vision mag vielleicht utopisch erscheinen - aber ein Besuch beim Zahnarzt wäre nicht besonders angenehm. Somit nimmt das Buch Endstation Gehirn einen menschlichen Standpunkt ein - daß wir nämlich wünschen, ein Teil des Ökosystems zu bleiben und ein positives menschliches Leben zu führen, das über das bloße biologische Überleben hinausgeht. Visionen von einem durch die Umwelt bedingten Ende menschlicher Populationen werden meist in Begriffen von Leben und Tod beschrieben. und gehen auf die Ansicht von Thomas Robert Malthus zurück, eine immer weiter anwachsende Weltbevölkerung werde an ihre Grenzen stoßen, weil die Ressourcen nicht in unendlicher Menge vorhanden sind. Solche klar umrissenen Prognosen lassen jedoch ein bedeutsames Zwischenstadium vor dem allgemeinen Tod aus: einen Zeitraum, innerhalb dessen es zu einem allgemeinen Rückgang menschlicher Fähigkeiten kommen würde. Mangelund Fehlernährung, ein Mangel an Mikronährstoffen und die Umweltverschmutzung würden einen allmählichen Niedergang intellektueller und damit zusammenhängender Funktionen auslösen. Die zunehmende Umweltbedrohung ist weniger eine Frage von Leben oder Tod, sondern vielmehr eine von Leben oder »Halb- Leben« für Millionen Angehörige unserer globalen Familie.

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 Geistige Behinderung (intellectual disability) ist ein natürlicher Bestandteil der menschlichen Existenz, und als Individuen stellen diejenigen, die geistig behindert sind, eindeutig eine Erweiterung des Sinns dieser Existenz dar. Unnatürlich hohe Zahlen im Verein mit einem versteckten Umfang eines Niedergangs ohne klinische Erscheinungsformen jedoch, wie er durch GVU verursacht wird, werfen für jede Gemeinschaft Probleme auf. Die Zusammenhänge zwischen nationaler Entwicklung, menschlichem Überleben und intellektuellem Potential bleiben meist auf die Erörterung begrenzt, wie die menschlichen Ressourcen verbessert werden könnten oder sollten. Der anderen Seite der Gleichung jedoch ist bislang weit weniger Beachtung geschenkt worden, nämlich dem biologischen Lernpotential, das durch äußere Faktoren in unserer chemischen, physischen und menschlichen Umwelt verringert werden kann. Man macht sich große Sorgen um Kinder, die aus pädagogischer Sicht nicht lernen. Von einer Sorge um die zunehmenden Zahlen derer, die wegen ungünstiger Veränderungen der Umweltbedingungen nicht lernen können, ist in der allgemeinen Debatte um Bildung und Entwicklung meist nichts zu finden. Statistiken über Analphabeten beispielsweise unterscheiden nicht zwischen denen, die Analphabeten sind, weil sie keine Chance hatten, lesen und schreiben zu lernen, und denen, die zwar die Möglichkeit dazu gehabt hatten, aber nicht über die intellektuelle Fähigkeit verfügten, etwas zu lernen. Diese einseitige Sicht der geistigen Ressourcen, die unserer weltweiten Bildungspolitik noch immer zugrunde liegt, wird von James Lovelock in eine erweiterte Perspektive gerückt: Menschliche Gehirne… haben sich nicht infolge des natürlichen Selektionsvorteils entwickelt, Examina bestanden zu haben, aber

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ebensowenig dadurch, daß wir irgendwelche Gedächtnisleistungen und andere mentale Übungen bewältigen können, die heute für Bildung und Ausbildung ausdrücklich gefordert werden.1 Die Einflüsse von Gesellschaft und Ausbildung sind sehr wichtig, wahrscheinlich weit wichtiger, als allgemein anerkannt wird, doch die primären Faktoren, die das Potential des Gehirns beeinflussen, sind biologischer Natur. Keine Form von Bildung oder sozialer Intervention kann beschädigte Gehirnzellen reparieren. Um ein positives Überleben zu erreichen, muß das intellektuelle Potential von Individuen und Gemeinschaften in einem bestmöglichen Zustand erhalten werden. Zunehmende Besorgnis unter Wissenschaftlern, international tätigen Agenturen und Behörden sowie der US-Regierung legt die Vermutung nahe, daß dies bei der zukünftigen Umweltpolitik absoluten Vorrang erhalten sollte. Aber wird es dazu kommen? Dieses Kapitel schließt mit einer Erinnerung an die entscheidende Natur der Politik des GVU, die vielleicht verhindern kann, daß dies geschieht.

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Im »Jahrzehnt des Gehirns«: ein Grund zur Sorge 1989 war das Jahr, in dem die US-Regierung damit beginnen konnte, ihre Aufmerksamkeit von den alten Sicherheitsbedrohungen des Kalten Krieges abzuwenden und sich den neuen »Bedrohungen ohne Feinde« in Form eskalierender Umweltprobleme zuzuwenden. 2 In jenem Jahr erklärte der 101. US-Kongreß infolge der zunehmenden Sorge um Nervengifte in der Umwelt, wie sie von Wissenschaftlern und Umweltgruppen geäußert wurde, die neunziger Jahre zum Jahrzehnt des Gehirns.3 Die Abteilung für Neurotoxikologie bei der amerikanischen Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA) in North Carolina wurde zur größten Forschungsgruppe in Sachen Neurotoxikologie in der Welt. Sie wurde mit der Kapazität ausgestattet, ein breites Spektrum entsprechender Wissenschaftsdisziplinen abzudecken, angefangen bei der molekularen Ebene bis hin zur Verhaltensforschung. Im folgenden Jahr legte das Congress Office of Technology Assessment (OTA) einen Bericht vor, dem eine Schlüsselbedeutung zukam: Neurotoxizität: Erkennung und Kontrolle von Giften für das Nervensystem.4 Dieser Bericht förderte die Erkenntnis, daß die Umweltmedizin sich allzu lange auf Krebs als Hauptresultat der von Menschen verursachten Umweltveränderungen konzentriert hatte, während sie die vielleicht wichtigeren Auswirkungen auf das menschliche Gehirn ignorierte.5 Die Entdeckung einer Krebserkrankung ist einigermaßen einfach, weil sie klinisch sichtbar ist. Auswirkungen auf die Intelligenz hingegen sind sehr schwer zu erkennen, weil die Resultate viele Aspekte umfassen und ein Kontinuum ohne klar umrissenen Endpunkt darstellen. Vor 1990 blieb das damit zusammenhängende Interesse der

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US-Regierung auf die »begrenzten« und politisch weniger sensiblen Umweltfelder von Heim und Arbeit beschränkt - der Bericht über Nervengifte zu Hause und am Arbeitsplatz ging aus Anhörungen vor einem Unterausschuß des Kongresses im Jahr 1986 hervor.6 Degenerative Erkrankunge n des Nervensystems im Zusammenhang mit dem Alterungsprozeß wurden in einem kurzen Hintergrundpapier von 1984 erörtert: Impacts of Neuroscience7 (Auswirkungen der Neurowissenschaft), und in den folgenden Jahren ging man zunehmend davon aus, daß solche Erkrankungen zum Teil auf Umweltgifte wie etwa Aluminium und seine Verbindungen zurückgeführt werden konnten. Ein weiterer Kongreß-Bericht, The Nature and Extent of Lead Poisoningin Children in the United States8 (Natur und Ausmaß von Bleivergiftungen bei Kindern in den Vereinigten Staaten), nahm erneut die politisch empfindlichere Frage von Bleivergiftungen in der Umwelt in Angriff. Von den US-Zentren zur Kontrolle von Krankheiten und Vorbeugung stammte eine Untersuchung mit dem Titel Preventing Lead Poisoning in Young Children9 (Vorbeugende Maßnahmen gegen die Bleivergiftung von Kindern), die 1991 vorgelegt wurde. Darin wurde eine weitere Absenkung der »sicheren Höchstwerte« für Blei im Blut gefordert sowie allgemeine Reihenuntersuchungen von Kindern. Diese Forderung markierte den Beginn einer großangelegten Kampagne der US-Regierung zur Verringerung der Bleibelastung. Die US-amerikanische National Academy of Sciences veröffentlichte einen Bericht mit dem Titel Measuring Lead Exposure in Infants, Children and Other Sensitive Populations (Die Messung der Bleibelastung bei Säuglingen, Kindern und anderen empfindlichen Bevölkerungsgruppen), der ähnliche Forderungen stellte und offiziell zu dem Schluß kam, daß in jeder gegebenen Population einige Menschen für umweltbedingte Bedrohungen des Gehirns anfälliger sind als andere.10

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Die allgemeine Besorgnis wurde 1992 vom US National Research Council aufgegriffen, der mit dem Titel des Buches Environmental Neurotoxicology (Umweltbedingte Neurotoxikologie) die Schaffung einer neuen medizinischen Disziplin markierte. Damit wurde das Gehirn zum ersten Mal als Gegenstand der Umweltmedizin in den Blickpunkt gerückt. Die Wissenschaft war damit aufgefordert herauszufinden, ob die sichtbaren Anzeichen und Symptome, die mit Hilfe klinischer Mittel diagnostizierbar sind, sowie die Auswirkungen bekannter Industriekatastrophen nur die Spitze des Eisbergs sind: Haben wir es mit einer Katastrophe zu tun, die weitgehend ohne klinische Symptome bleibt und sich schleichend nähert? Eine wichtige, noch unbeantwortete Frage - ja in der Tat eine zentrale Frage, vor die sich die Neurotoxikologie heute gestellt sieht - lautet, ob die bei Epidemien neurotoxischer Erkrankungen beobachteten kausalen Zusammenhänge eine Widerspiegelung isolierter Ereignisse darstellen oder aber die offenkundigsten Beispiele eines weitverbreiteten Zusammenhangs zwischen Umweltchemikalien und 11 Beeinträchtigungen des Nervensystems. Eine Besprechung des Buches Environmental Neurotoxicology in der Wissenschaftszeitschrift Science »Zeroing in on brain toxins« (Eine neue Gefahr: Gehirngifte), ging erneut auf eine Kernfrage ein, die der Report aufgeworfen hatte: Früher lag das Schwergewicht auf der Krebsforschung zuungunsten einer Einschätzung, welche Auswirkungen die Umwelt auf das Gehirn hat.12 Die Rezension kommentierte auch den »bilderstürmerischen« Unglauben der Autoren gegenüber einigen der bei der Risikoeinschätzung eingesetzten traditionellen Wissenschaftstechniken, sofern sie auf das Gehirn angewendet werden. Gleichzeitig begann die US-Regierung mit der Untersuchung speziellerer und kommerziell sensiblerer Fragen, etwa der Auswirkungen neurotoxischer Pestizide auf Landarbeiter. 13

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Die Wirkungen des Mißbrauchs gefährlicher Substanzen wurden in den Arbeiten Drugs and the Brain14 (Drogen und Gehirn) und Assessing Neurotoxicity of Drugs Abuse15 (Einschätzung der Neurotoxizität von Drogenmißbrauch) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Dieses neue Interesse der Behörden hatte eine Reihe von Büchern US-amerikanischer Ärzte zur Folge, von denen The Vulnerable Brain and Environmental Risks (Das verwundbare Gehirn und Umweltrisiken) ein typisches Beispiel ist.16 1996 äußerte eine Gruppe internationaler Wissenschaftler ihre zunehmende Besorgnis über eine neuere Form von Bedrohung durch synthetische, die Hormonfunktionen störende Chemikalien - eine Bedrohung, die potentiell sogar problematischer zu sein scheint als die durch Blei, so die Erklärung von Erice (siehe Anhang). In den USA gilt die Besorgnis der Behörden aufgrund der Forschungsergebnisse der Toxikologie vor allem den Auswirkungen des Vorhandenseins gefährlicher Wirkstoffe in der Umwelt - das ist »das Umweltproblem« aus der Perspektive einer urbanisierten reichen Nation. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Während der neunziger Jahre verstärkten die UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO ihre Bemühungen, das Fehlen von Wirkstoffen in der Umwelt auszugleichen, die für eine angemessene menschliche Entwicklung notwendig sind - ein Beispiel ist der Mangel an Mikronährstoffen oder »versteckter Hunger« - ein Sachverhalt, der erst in den neunziger Jahren als Umweltproblem erkannt worden ist, das etwas mit Bodenerosion und dem Abholzen der Wälder zu tun hat. 1996 veröffentlichte die Zeitschrift Scientific American neue Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Unterernährung, Armut und geistiger Entwicklung. 17 Die Zeitschrift New Scientist bestätigte den Zusammenhang zwischen dem Mangel an Mikronährstoffen und einem Verfall der geistigen Tätigkeiten, der durch die sogenannte Grüne Revolution ausgelöst worden war.18 Protein- und Energiemangel

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beispielsweise läßt jetzt die geistigen Fähigkeiten von Millionen Kindern in ärmeren Ländern verkümmern. Eine besondere Sorge von UNICEF und WHO gilt dem Jodmangel, einer großen Bedrohung des menschlichen Gehirns, wie Basil Hetzel in The Story of Iodine Deficiency19 und SOS for a Billion: The Conquest of Iodine Deficiency Disorders mit großer Klarheit verdeutlicht hat20 (Die Geschichte des Jodmangels und SOS für eine Milliarde Menschen: Die Ausbreitung von Krankheiten und Störungen auf Grund von Jodmangel). Danach wurden der Internationale Rat zur Eindämmung des Jodmangels (International Council for Control of Iodine Deficiency, ICCID) gegründet und Forschungszentren z.B. mit dem Programm gegen Mikronährstoffmangel an der Emory University in Atlanta beauftragt, das sich auch mit anderen Problemen in Zusammenhang mit Mikronährstoffen beschäftigt. 1990 unterstützte die Weltgesundheitskonferenz der UN (World Health Assembly) einen weltweiten Aktionsplan gegen Jodmangel, den der ICCID vorgelegt hatte. Das Jahrzehnt des Gehirns hat also diese beiden parallelen Umweltperspektiven erlebt - Probleme, wie sie durch das Vorhandensein und durch das Fehlen von Wirkstoffen verursacht werden. Aber weil diese beiden Aspekte weitgehend die stereotypen Gegensätze der reichen Welt, die durch Umweltverschmutzung und Urbanisierung geprägt ist, und der armen Dritten Welt widerspiegeln, deren Bevölkerung vorwiegend auf dem Lande lebt und unterernährt ist, wurden sie nicht gleichzeitig kritisch untersucht. Mit der immer schnelleren Globalisierung werden solche polarisierten Perspektiven für Millionen Menschen schnell zu sinnlosen Bezugssystemen. Ein umfassendes Verständnis des Problems ist von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt weil die Forschung, die zur Bewältigung des Problems nötig ist, weitgehend von den Prioritäten der reichen Nationen bestimmt wird. Das muß in Frage gestellt werden - das in den USA verkündete »Jahrzehnt

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des Gehirns« spricht nur einen Teil des globalen Problems an. Da die entsprechenden medizinischen Disziplinen oft nicht aufeinander abgestimmt sind, überdies die Terminologie verschwommen ist und wir es mit unterschiedlichen, ja widersprüchlichen regionalen Ansätzen zur Bewältigung des Problems zu tun haben, sind viele verschiedene Inseln spezialisierten Wissens entstanden, die einen wirkungsvollen Gesamtüberblick weiter behindern. Hauptziel des vorliegenden Buches ist es deshalb, einen Rahmen für ein umfassendes Verständnis zu schaffen. Das universale Musterbeispiel ist GVU wegen des Fehlens bestimmter Stoffe oder ihres Vorhandenseins, ferner die Synergie-Effekte zwischen den beiden. Dieses Paradigma ist sowohl biologischer als auch sozialer Natur. So schaffen beispielsweise die sich ausbreitenden Slumstädte der Welt das soziale Umfeld, in dem sich die Bedrohungen durch »ländliche« Unterernährung und durch »städtische« Umweltverschmutzung vereinen und wechselseitig verschlimmern (Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Das Musterbeispiel von »geistigem Verfall infolge von Umwelteinflüssen« (GVU)

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Die Politik und der geistige Verfall durch Umwelteinflüsse (GVU): Medienwirbel und Verleugnung Im Gefolge der Erörterung irgendeines neuen Problembereichs besteht natürlich die Gefahr, daß ma n Schauergeschichten erfindet. »Kinder und Gehirnschäden« ist ein Thema ungezählter Berichte in den Medien. Der »Rinderwahnsinn« (BSE), der 1996 in Großbritannien ausbrach, ist nur ein Beispiel. Heute kann man sich in der medizinischen Forschung auf der Grundlage von Arbeit an einem Dutzend Themen einen Ruf erwerben. Die Forschung wird dann in Prozentzahlen ausgedrückt, die den Eindruck einer weltweit gültigen Verallgemeinerung erwecken. Der Medienwirbel läßt sich noch verstärken, etwa durch den verständlichen Wunsch der Eltern von Kindern mit angeborenen Behinderungen, diese zu erklären und vielleicht irgend jemandem die Schuld daran zu geben. Die Debatte kann noch weiter angeheizt werden, etwa durch den Wunsch vieler Eltern, kluge Kinder zu haben. Dieser findet beispielsweise darin Ausdruck, daß man in Rußland Kindern übergroße Mengen zuckerhaltiger Nahrungsmittel verabreicht oder ihnen in Peking Klavierunterricht geben läßt - Zucker und Klavierspiel gelten beide als der Gehirnentwicklung förderlich. Schlußfolgerungen, wie sie etwa in dem Bericht des britischen National Children's Bureau gezogen werden, Children and the Environment21 , können gelegentlich widersprüchlich sein. Die Feststellung, daß die Ergebnisse einer Studie »den Schluß nahelegen, daß die meisten Kinder in britischen Städten genug Blei in sich aufgenommen haben, um ihre geistige Entwicklung zu behindern«, mag in Wissenschaftlerkreisen vertretbar sein. Diese Schlußfolgerung ließe sich auch dazu benutzen, andere

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Kommentare zu untermauern: »Na und? Sehen Sie sich unsere Kinder doch an. Selbst wenn Sie recht haben, scheint das keinen spürbaren Unterschied zu machen.« 1996 wurde die Vermutung geäußert, daß es 10 Milliarden Pfund kosten würde, eine Versorgung Großbritanniens mit bleifreiem Trinkwasser sicherzustellen. Diese Nachricht dürfte die Regierung zweifellos erfreut haben. Eine Summe in dieser Größenordnung wird nämlich nie aufzutreiben sein, mag sie auch dazu dienen, das Ausmaß der Bedrohung zu verdeutlichen, und so ließ sich das Problem wieder einmal auf die lange Bank schieben. Der Zeitpunkt, zu dem man in der Öffentlichkeit Wirbel macht, kann ebenfalls »heikel« sein. Professor Derek BryceSmith von der Reading University ist seit den fünfziger Jahren die Schlüsselfigur, wenn die Einwände ge gen bleihaltiges Benzin in Großbritannien zur Sprache kommen. Spätere Untersuchungen haben ergeben, daß seine allgemeinen Vermutungen korrekt waren, und seine Schlußfolgerungen haben in der Frage des bleihaltigen Benzins in vielen Ländern die Entscheidungs findung der jeweiligen Regierungen beeinflußt. Während der Scarman-Untersuchung der Rassenunruhen im Londoner Stadtteil Brixton stellte er die Behauptung auf, daß Verhaltensprobleme aufgrund eines hohen Bleigehalts im Blut einer der tieferen Gründe für die Unruhen gewesen seien. Die wissenschaftlichen Belege, die Verhaltensprobleme mit Blei in Verbindung bringen, werden heute nur noch selten angezweifelt, und so mag es als selbstverständlich erscheinen, daß solche Unruhen in einer Gemeinschaft, die an Bleivergiftung leidet, wahrscheinlicher sind als in Gemeinden ohne solche Probleme. In so großer zeitlicher Nähe zu einem so gefühlsbeladenen Ereignis kamen diese Argumente politisch ungelegen, und das hatte zur Folge, daß Bryce-Smith' Ruf darunter litt. An dieser Stelle ist es interessant festzuhalten, daß es auch Situationen gibt, die von regierungsamtlicher Seite bekanntgemacht werden.

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Aus China kennen wir die Zahl von 8 Millionen Menschen, die an einer durch Jodmangel bedingten geistigen Behinderung (intellectual disability) leiden, eine Zahl, die aus offiziellen Untersuchungen stammt und von staatlichen Quellen immer wieder zitiert wird.22 Wenn die Zahl der Automobile sich im selben Land innerhalb von drei Jahren verdreifacht und bleifreies Benzin nicht zu haben ist, wird auch das einen Niedergang der geistigintellektuellen Fähigkeiten bewirken, der dem durch Jodmangel verursachten gleichkommt. Von diesem Problem erfährt die Welt von der chinesischen Regierung jedoch nichts. Es liegt auf der Hand, daß der Jodmangel kein Ergebnis schlechter Politik ist; er ist vielmehr auf mangelhafte Transportplanung zurückzuführen. Landesweite Programme zur Bekämpfung des Jodmangels locken ausländische Währung in Form von Entwicklungshilfe an und haben keinerlei negative Konsequenzen. Versuche, die Umweltverschmutzung durch Automobile zu reduzieren, könnten Einfluß darauf haben, wie der explodierende Verbrauch wahrgenommen wird, von dem die Regierung annimmt, damit ließen sich weitere Bekundungen der allgemeinen Unzufriedenheit verhindern, wie etwa die Demonstrationen auf dem Tienanmen-Platz. Es ist sehr berechtigt, wenn Regierungen Schauergeschichten nicht fördern oder schüren, welche die notwendige Wirtschaftsentwicklung behindern oder unnötige Ängste auslösen könnten. Angemessene Vorsicht muß jedoch gegen ein Bewußtsein der Dynamik abgewogen werden, die zu einer Verleugnung dieses besonderen Problems führt. Die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki führten zur Entstehung vieler Mythen über »Hirnschädigungen« und »genetische Mutationen«, die von Wissenschaftlern und Regierungen jahrzehntelang ins Reich der Fabel verwiesen worden waren. Im Jahr 1990 wurde jedoch noch eine weitere, nur wenig beachtete Publikation des nationalen Forschungsrats

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der USA veröffentlicht, Health Effects of Exposure to Low Levels of Ionizing Radiation (Gesundheitliche Auswirkungen des Kontakts mit geringfügiger ionisierender Strahlung). Schließlich wurden Daten zugänglich gemacht, die bei den Überlebenden des Atombombenangriffs auf Hiroshima und Nagasaki auf eine »große (und je nach Strahlungsdosis variierende) Zunahme von schweren geistigen Retardierungen«, verbunden mit Auswirkungen ohne klinische Symptome auf schulische Leistungen hindeuteten. 23 Warum mußten wir warten, bis die Überlebenden 45 Jahre alt waren, um zu erfahren, daß sie schwere geistige Retardierungen erlitten hatten (was sich schon im Alter von 2 Jahren zeigt)? Warum sind wir erst so spät in der Lage, ihre schulischen Leistungen zu bewerten? Ist es ein Zufall, daß diese Daten, die von einem höchst emotional geprägten menschlichen Standpunkt aus zu heftigen Protesten gegen Atomwaffen hätten führen können, erst nach dem Ende des Kalten Krieges veröffentlicht wurden? Den politischen Wunsch, die Diskussion zu kontrollieren, findet man auf der ganzen Welt. Die Katastrophe der sowjetischen Atomindustrie in Tschernobyl bietet das klassische Beispiel dafür. Berichte von Wissenschaftlern und Ärzten über eine Zunahme genetischer Anomalien bei Tieren und Säuglingen wurden von der sowjetischen Führung zunächst als »statistisch unbedeutende Ausnahmen« abgetan. 1986 verabschiedete das sowjetische Gesundheitsministerium einen Maulkorb-Erlaß.24 Bei der Erörterung der Gefahr einer geistigen Unterentwicklung kommt Ivan Holowinsky zu dem Schluß: Bemühungen, den Umfang der Katastrophe abzuschätzen, sind von den Sowjets behindert worden. Diese haben gezögert, die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf Neugeborene und Kinder zu diskutieren. Diese Geheimniskrämerei verhindert unmittelbar die Möglichkeit einer genauen Einschätzung der Häufigkeit geistiger Retardierung, die man dieser Kernschmelze zuschreiben kann?.25

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 Die Haltung kommunistischer Regierungen war jedoch nicht die einzige Behinderung einer genauen Einschätzung der Probleme. Im Jahr 1991 plante die Weltgesundheitsorganisation WHO, ein Projekt zur Einschätzung der »Gehirnschädigung in utero« zu unterstützen, doch noch vor Jahresende wurden die Gelder ohne Erklärung eingefroren. Radioaktive Strahlung war aber nicht die einzige Bedrohung, die während des Kalten Krieges verheimlicht wurde. Quecksilberlecks (2,4 Millionen Pfund »Schwund«) in der Waffenfabrik Y-12 der Union Carbide in Oak Ridge, Tennessee, verursachten die höchste je festgestellte Quecksilbervergiftung in den Flüssen der Region, doch die Bewohner der Gegend wurden nicht vor den gefährlichen Quecksilberkonzentrationen in Fischen gewarnt, weil die Berichte der militärischen Geheimhaltung unterlagen. Eine spätere Untersuchung des USKongresses kam zu dem Schluß, daß die Geheimhaltung »einen praktischen Schutzschild darstellte, hinter dem sich die militärisch nicht relevanten, aber politisch brisanten Daten über die Menge des freigesetzten Quecksilbers verbergen und kaschieren ließen«.26 Selbst nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 verbot der KGB Kaydyrbek Andagulov, nach einer ungeplanten Freisetzung von Blei aus der Schmelzhütte von Oskemen, die fast 50 Prozent der sowjetischen Zink- und Bleiproduktion erzeugte, Bleivergiftungen zu diagnostizieren. Weitere geheime Untersuchungen ergaben, daß die gesamte Bevölkerung der Gegend gesundheitsgefährliche Bleikonzentrationen im Körper aufwies.27 Geheimniskrämerei bei militärischen Projekten ist aber alles andere als ein Vorrecht kommunistischer Regimes. Die Evatt Royal Commission in Australien verkündete 1985, daß Zivilisten, die der Chemikalie Agent Orange ausgesetzt gewesen waren, keine oder nur wenige Geburtsanomalien aufwiesen.

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Diese Feststellung wurde später angezweifelt, weil solche Schlußfolgerungen angesichts des Materials, das der Untersuchungskommission zur Verfügung stand, nicht hätten gezogen werden können. 28 Wenn der Kalte Krieg der einzige Grund für eine Informationskontrolle gewesen wäre, brauchte man das Problem der Verleugnung kaum weiter zu erörtern, doch das ist nicht der Fall. Umweltschützer in Indien, die auf die besorgniserregenden Mengen geistiger und anderer Behinderungen in der Nähe der Kernkraftwerke in Rajasthan aufmerksam machen, tun dies auf die Gefahr hin, gerichtlich belangt zu werden. Es ist illegal, über Kernkraftwerke zu diskutieren, angeblich wegen der militärischen Bedeutung dieser Anlagen. Militärische Sicherheitsbedenken können einige Vertuschungsversuche erklären und vielleicht sogar entschuldigen. Doch auf anderen Gebieten ist der Grund weit banaler Geld. Schmerzensgeldzahlungen an Einzelpersonen wegen Gehirnschäden (meist infolge medizinischer Kunstfehler) beliefen sich zwischen 1992 und 1994 auf den Britischen Inseln in der Größenordnung zwischen 1,5 und 7 Millionen Pfund Sterling pro Person. Wenn wir das Phänomen GVU einmal vom Standpunkt ganzer Bevölkerungsschichten aus betrachten und die möglichen Rechtskosten bedenken, könnte das die verantwortlichen Behörden teuer zu stehen kommen. Aus diesem Grund ist nicht schwer zu erkennen, weshalb hier der Wunsch herrscht, die öffentliche Wahrnehmung des Problems zu manipulieren. Die finanziellen Konsequenzen des Eingeständnisses, es gebe zwischen industrieller Vergiftung und Gehirnschäden einen Zusammenhang, sind meist so massiv, daß für die Widerle gung solcher Vermutungen praktisch unbegrenzte Summen zur Verfügung gestellt werden. Politische Vertuschungsmanöver lassen sich mit kommerziellen Interessen in Verbindung bringen. Robin Russell fragt, warum der Bericht des Transportausschusses des

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britischen Unterhauses 1994 »ein Verkaufsverbot für bleifreies Superbenzin forderte und die Verwendung bleifreien Superbenzins bei Automobilen kritisierte, die nicht mit DreiWege-Katalysatoren ausgestattet waren«, ohne daß der »Ausschuß um die Vorlage von Beweisen über nachteilige Wirkungen von Blei auf die Gesundheit« gebeten hätte. Vielmehr habe der Ausschuß - Russell zufolge - unkritisch »die dem Ausschuß von Associated Octel vorgelegten Beweise akzeptiert, Großbritanniens einzigem Hersteller von Bleizusätzen für Kraftstoffe«.29 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß in dem wichtigen Bericht des USKongresses Neurotoxicity Nikotin und Alkohol nicht erwähnt wurden, weil sie große kommerzielle Bedeutung haben; ebensowenig wurden radioaktive Chemikalien sowie biologische und chemische Kampfstoffe genannt, die eine militärische Bedeutung haben. 30 Offenere Formen der Informationsbeeinflussung durch kommerzielle Interessen sind in Fragen der Gesundheitsüberwachung junger Frauen in den maquiladoraFabriken an der mexikanischamerikanischen Grenze bekannt geworden. Dort herrscht eine weitverbreitete Sorge wegen des Ausmaßes an körperlichen und geistigen Schäden bei kleinen Kindern. Potentielle Mütter, die an gefährlichen Arbeitsplätzen beschäftigt sind, werden schon nach kurzer Beschäftigungszeit routinemäßig entlassen. Es wird der Eindruck erweckt, man habe es hier mit einer gesunden Arbeiterschaft zu tun, und weil die Frauen an zahlreichen Standorten gearbeitet haben, lassen sich Gesundheitsprobleme keiner bestimmten Fabrik zuschreiben. Bei epidemiologischen Studien hat man Gruppen mit hohem und geringem Risiko gemischt, was die Daten abschwächt, und die nachfolgende Beobachtungszeit ist oft zu kurz angesetzt, so daß gesundheitliche Spätfolgen nicht erfaßt werden. Gleiches gilt für Fabriken des britischen Unternehmens Thor Chemicals. In dessen Fabrik in Südafrika waren die

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Arbeiter hohen Quecksilberkonzentrationen ausgesetzt, die man mit Todesfällen und neurologischen Störungen in Verbindung brachte. Wie es hieß, wurden an den gefährlicheren Arbeitsplätzen Gelegenheitsarbeiter eingesetzt, die beim Auftauchen neurologischer Symptome sofort entlassen wurden. Die Atomindustrie ist einerseits besonders empfindlich, andererseits besonders mächtig. 1994 schaltete die britische Greenpeace-Organisation eine Anzeige, die ein Kind mit einem Wasserkopf (Hydrocephalus) zeigte, einer Hirnschädigung, die ein Anschwellen des Kopfes durch vermehrte GehirnRückenmark-Flüssigkeit auslöst. In der Bildunterschrift hieß es: »Atomtestopfer aus Kasachstan«. Auf sofortige Beschwerden der britischen Atomindustrie hin zensierte die britische Behörde, die die Grundsätze der Anzeigenwirtschaft überwacht, die Umweltschützer von Greenpeace und erklärte, die Verbindung zwischen radioaktiver Strahlung und Fällen von Hydrocephalus seien unbewiesen, und überdies gebe es keinerlei Beweise dafür, daß das abgebildete Kind Opfer eines Atomtests sei. Wer immer in diesem Fall recht haben mag: Der interessante Aspekt an der Sache ist die Reaktion der Atomindustrie. Wäre das gleiche Bild in der Zeit des Kalten Krieges in anderer Aufmachung erschienen, hätte man es vielleicht als patriotische Propaganda gegen die Sowjetunion gewertet. Politische und kommerzielle Vertuschungsmanöver vermischen sich auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen. Die sozialen und persönlichen Folgen einer geistigen Behinderung führen zu einem Wunsch nach Geheimhaltung, was man bedauern mag, oft aber unvermeidlich ist. Es ist durchaus verständlich, wenn manche etwas dagegen haben, Geschichten über geistige Behinderungen in indischen oder chinesischen Dörfern hochzuspielen, in denen die Möglichkeit besteht, daß die Nachkommen behindert (with a disability) zur Welt kommen. Solche Geschichten können Ehen verhindern. Dieser Wunsch, das Problem »unter der Decke zu halten«, ist auf lokaler Ebene

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durchaus nachvollziehbar. Die Ärzteschaft beugt sich dann oft dem sozialen Verlangen, Menschen mit einer geistigen Behinderung zu verstecken, indem man sie in Anstalten steckt, obgleich sie in einer Gemeinde sehr wohl weiterleben könnten. Aus einer Einrichtung in Indien wurde gemeldet, wie Wärter und Hausmeister sich bestechen ließen, um die Aufnahme von Neuzugängen zu erleichtern… Familien liefern neue Patienten oft in Ketten in der Klinik ab… In Ranchi sind fast 300 Patienten für »sozial geheilt« erklärt worden und könnten ohne weiteres nach Hause zurückkehren, aber ihre Familien wollen sie nicht wiederhaben.31 Thomas Midgley hat die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) erfunden und das Benzin verbleit. Der Zusammenhang zwischen dem Abbau der Ozonschicht und den Fluorchlorkohlenwasserstoffen ist seit einigen Jahren Streitgegenstand. Den Zusammenhang zwischen Blei und Gesundheit der Menschen kennt man hingegen schon seit zwei Jahrtausenden. Beide kann man als globale Umweltprobleme begreifen. So wie wir das Profil der Verwendung von FCKW kennen, ist uns beispielsweise auch bekannt, daß im Jahr 1997 Afrika zur Belastung der Atmosphäre mit Blei 20 Prozent beitrug und die Emissionen Nordamerikas beträchtlich verringert worden sind. Dennoch hat man Blei der Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag nicht als »weltweites Umweltproblem« dargestellt. Was den Kampf gegen die FCKW angeht, ist in den letzten Jahren schnell und international gehandelt worden, ganz im Gegensatz zu den wenigen isolierten Initiativen einzelner Länder, die Bleiemissionen in die Umwelt zu reduzieren, aber nicht zu eliminieren. Der Wunsch, das Phänomen GVU zu leugnen, kann deshalb auf allen Gesellschaftsebenen vorkommen. Staaten, Regionen, Kommunen und Familien lassen Einzelpersonen im Stich, die aufgrund des Grades ihrer Schädigung oder Versehrtheit nicht in der Lage sind, ihre Interessen erfolgreich zu vertreten.

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Wirtschaftliche Interessen führen zu einer weiteren Verschleierung, und die überenthusiastische Befürwortung oder die Publicity können kontraproduktiv sein. Es besteht wenig Aussicht, daß das Phänomen GVU im Umweltschutz hohe Priorität einnehmen wird - wahrscheinlich sind bei Umweltfreunden immer mehr Wählerstimmen zu holen, wenn man sich für die Rettung der Wale einsetzt, krebsvorbeugende Maßnahmen einführt oder etwas gegen das Absterben von Spermien unternimmt, als wenn man Gehirnzellen schützt. Die Medizin widmet sich in erster Linie der Heilung von Krankheiten. Und gegen eine geistige Behinderung gibt es kein Heilmittel, so daß das klinische Interesse nur nebenherläuft, was in der Medizin zur Bildung einer Randdisziplin führt, der sich nur eine visionäre Minderheit zuwendet. Diese Dynamik ist ein auffälliger Aspekt des Phänomens GVU. Wer wird sich zum Fürsprecher derjenigen Menschen und Gemeinschaften machen, die davon betroffen sind oder vielleicht sein könnten? Wer ist dafür zuständig, zu bewerten, was auf diesem Gebiet geschieht? Wer schützt unsere weltweiten geistigen Ressourcen? Wer oder was wird unser Gehirn vor sich selbst schützen? Wenn man die Auswirkungen von GVU einschätzen will, besteht das erste Problem darin, verläßliche Statistiken zu gewinnen. Im 2. Kapitel wird das verfügbare Material vorgestellt. Es erinnert uns daran, weshalb es so schwierig ist, relevante Daten zu erhalten; doch Zahlen sind nur ein Aspekt. Die Konsequenzen für den einzelnen und die Gesellschaft insgesamt - die individuellen und die sozialen Kosten - liefern weitere wichtige Argumente. Der Rest des Buches bewegt sich im Rahmen der vier relevanten »Umwelten« des Problems - des menschlichen Körpers, der sozialen, der ökologischen und der »begrifflichtheoretischen« Umwelt (Abb. 1.2). Im 3. Kapitel werden die notwendigen medizinischen Erkenntnisse umrissen, jedoch zugleich betont, wie wenig wir

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wissen. Diese Grenzen des Wissens werden offenkundiger, wenn wir sie, wie im 4. Kapitel, über eine bestimmte Zeit hinweg betrachten. Unser Glaube an die Möglichkeit einer »Risikoeinschätzung« ist irrig. Dies liegt zum Teil daran, daß herkömmliche Verfahren nicht sehr gut funktionieren, wenn das Gehirn der Endpunkt von Umweltbedrohungen ist. Teilweise liegt es aber auch daran, daß die Grundlage, auf der sich Berechnungen gründen, eher wissenschaftliche Gewohnheiten widerspie gelt als den weltweiten Konsens über die Menschenrechte, so daß wir genau gesagt darauf hinarbeiten sollten, die Verwundbarsten zu beschützen und nicht einfach das Überleben der Tüchtigsten zu sichern. Wir können weder die menschliche Biologie noch die grundlegende Art und Weise verändern, auf die Umweltchemikalien miteinander reagieren, trotzdem können wir auf eine Veränderung des menschlichen Verhaltens hinarbeiten. Im 5., 6. und 7. Kapitel werden daher soziale Erkenntnisse innerhalb der »geschlossenen« Umwelten von Haus und Arbeitsplatz entwickelt, ferner in der »unbegrenzten« Umwelt jenseits davon sowie in den »um sich greifenden« Spiralen von Armut, Gesundheit und Unter- bzw. Fehlernährung. Die wichtigste Frage dabei ist die, wie politische Gegebenheiten Umfang und Natur entsprechender Forschungen diktieren. Kann es uns gelingen, ein soziales Heilmittel zu finden? Im 8. Kapitel werden einige isolierte Beispiele dargestellt und wird in Umrissen aufgezeigt, in welche Richtung sich die Bildungspolitik ändern muß. Diese Faktoren sind keine Heilmittel - nur weitere Symptome des Übels.

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Abbildung 1.2: Die vier Umwelten des Gehirns

 

Das menschliche Gehirn wird nur selten als ein Bestandteil des Ökosystems in Beziehung zu dessen und zu unserem weiteren Überleben gesehen. Im 9. Kapitel wird deshalb der weitere ökologische Kontext skizziert und erläutert, wie wichtig es ist zu erkennen, wie »Super-Vektoren an Modernität« uns potentiellen Umweltrisiken näherbringen. Wenn wir uns die Evolution des Gehirns im Verlauf der Jahrtausende ansehen, entsteht ein ausnehmend besorgniserregendes Szenario. Könnte es jetzt, wo das Gehirn seine eigene Umwelt bedroht, am Ende zu einer rückläufigen Evolution des Gehirns kommen? Das 10. Kapitel geht über das Gehirn als Öko-Organismus hinaus und betrachtet den menschlichen Geist im Ökosystem. Was ist von den nach

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außen drängenden Einflüssen der »Endstation Gehirn« zu halten? Es scheint ein einzigartiges Merkmal menschlichen Verhaltens zu geben - Beharrlichkeit nämlich, die unsere konfliktreiche Beziehung zur Umwelt herausstellt. Und dann ist da noch eine tiefere, wenn auch spekulative Frage: Könnte das Phänomen GVU ein Indiz dafür sein, daß die ökologische Intelligenz die menschliche Intelligenz beeinträchtigt, um ihre eigenen Interessen zu schützen? Im l1., 12. und 13. Kapitel wird untersucht, wie unsere »begriffliche Umwelt« neue Sichtweisen und neue Abmachungen erfordert. Hier wird auf der Grundlage der gegenwärtigen Ungereimtheiten argumentiert, wie sie sich in den Disziplinen der vier relevanten »Umwelten« zeigen - in Medizin, Sozialwissenschaft, Ökologie und Evolutionstheorie, in Recht und Ethik. Angesichts der Tatsache schließlich, daß die »Endstation Gehirn« sowohl Ursache als auch Heilmittel der Bedrohung ist, die sie für sich selbst darstellt, benennt das 14. Kapitel die Herausforderungen an Umwelt und Intelligenz, die das Phänomen GVU im Licht zukünftiger Szenarien mit sich bringt.

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