Einleitung Wolkogonow-1989
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Wenn man es genau nimmt, begann das Jahr 1937 am 1. Dezember 1934. An diesem Tag wurde Sergej Mironowitsch Kirow ermordet. Aber schon die späten zwanziger Jahre hatten die Konturen der folgenden grausamen Jahrzehnte erkennen lassen. Für die Schuldigen dieser Zeit gibt es keine Rechtfertigung. wikipedia Kirow
Wir erinnern uns jedoch, daß damals die Staudämme und die Hüttenwerke aus dem Boden schossen, daß Papanin, Angelina, Stachanow und Bussygin hart arbeiteten. In diesen Jahren erreichte der Patriotismus seinen Höhepunkt, und wir errangen den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Es wäre falsch, bei der Verurteilung der Verbrechen Stalins die Errungenschaften des Sozialismus und seine prinzipielle Überlegenheit als Gesellschaftssystem zu bestreiten. detopia-2005: Hm?
Trotz der Verbrechen Stalins wurde viel erreicht. Aber unter demokratischen Verhältnissen wären die Erfolge größer gewesen. Es wäre falsch, die Verurteilung Stalins oder der Personen in seiner Umgebung auszuweiten auf die Partei und auf Millionen von einfachen Menschen, deren Glaube an die Wahrhaftigkeit der revolutionären Ideale nicht erschüttert worden ist.
Es wäre falsch, die Erfolge und die Verbrechen unserer Vergangenheit miteinander zu verrechnen: Was überwog bei Stalin? Verdienste oder Verbrechen? Die Frage ist unmoralisch. Kein Verdienst rechtfertigt die Mißachtung der Menschenrechte. Kann von Verdiensten eines Menschen überhaupt die Rede sein, wenn durch seine Schuld viele Millionen starben?
Heute wissen wir, daß Stalin ein grausamer Despot war, der das Volk gewaltsam von seiner politischen Führung entfremdete. Er schuf eine Symbiose von Bürokratie und Dogmatismus. Es liegen Quellen vor, anhand deren wir die Ursachen der Deformation des politischen Systems ergründen können.
Unser Wissenshunger läßt sich am besten durch die Wahrheit stillen, wie bitter sie auch sein mag. Lenin schrieb: Besonders »schrecklich sind Illusionen und Selbstlüge, schlimm und zerstörerisch ist die Angst vor der Wahrheit«.
Um das Phänomen Stalin zu analysieren, muß man die Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte auf marxistisch-leninistischer Grundlage betrachten. Dabei werden wir auch Arbeiten Lenins heranziehen und auswerten. Vor allem die als sein »Testament« bekannten Dokumente sind von unschätzbarem Wert.
Stalin hat sein Leben lang nicht vergessen, daß Lenin in seinem »Testament«, dem »Brief an den Parteitag« vom Dezember 1922, ihn und Trotzki als »herausragende Führer« bezeichnet hat. Er vergaß aber ebensowenig die offene und schmerzhafte Charakterisierung seiner Person. Er konnte sich auch nicht damit abfinden, daß Lenin Bucharin »Liebling der Partei« genannt hatte. Immer wieder hat Stalin versucht, Lenins Worten eine andere Bedeutung zu geben. In einer seiner Reden sagte er zum Beispiel: »Wir alle lieben Bucharin, aber die Wahrheit, die Partei und die Komintern lieben wir noch mehr.« In diesem Satz findet sich fast schon der ganze Stalin: der Idee ergeben – so, wie er sie verstand –, aber schlau und listig. Lenins Bemerkung, daß »Stalin zu grob« sei, kommentierte der Generalsekretär mit der Entgegnung, er sei »nur grob zu seinen Feinden«.
In den letzten Jahren sind bei uns viele Biographien erschienen: über Cäsar, Napoleon, Charles de Gaulle, Mao Tse-tung und andere, die für immer in der Geschichte verewigt sind. Es wurde sogar ein Buch über Hitler herausgegeben. Aber es gibt keine politische Biographie Stalins in der Sowjetunion, wohingegen im Ausland einige Dutzend Bücher über ihn veröffentlicht worden sind.
Die Lücke in unserer Geschichtsschreibung versuchen bislang zahlreiche belletristische und historische Publikationen zu schließen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Stalin-Zeit befassen. Diese Publikationen sind wie ein Regen nach einer langen Dürre. Ohne Zweifel werden bald auch wissenschaftliche Untersuchungen erscheinen. Historiker werden über Stalin wie über Chruschtschow, Breschnew und andere wichtige Personen in der Geschichte unserer Partei und unseres Staats schreiben. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, nur ein politisches Porträt Stalins zu entwerfen und keine Biographie.
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Die hitzigen Diskussionen über Stalin verstummen nicht. Einer der Gründe für das große Interesse an seiner Person ist, daß seine Zeit, legt man historische Maßstäbe zugrunde, erst vor kurzem zu Ende gegangen ist: vor etwa vier Jahrzehnten. Das Schicksal Stalins ist noch verwoben mit den Schicksalen heute lebender Menschen und ihrer nächsten Verwandten. Viele von uns sind in der Stalin-Ära aufgewachsen, und jeder von uns ist mit seiner Zeit verbunden. Die Wunden unserer Geschichte sind nicht verheilt, und wir werden sie noch lange spüren.
Ein weiterer Grund für das anhaltende Interesse an Stalin ist die Erneuerung des Sozialismus, des Humanismus, der Gerechtigkeit, der historischen Wahrheit und der moralischen Ideale. Die Stalin-Ära hat gezeigt, daß der Dogmatismus in der Lage ist, einen Tempel der ehernen und ewigen Werte zu errichten. Außer der Veränderung gibt es jedoch nichts Ewiges. Dogmatische Blindheit ist gefährlich, sie kann eine Ideologie in eine Religion verwandeln. Der Dogmatismus überträgt alle irdischen Freuden auf morgen und morgen auf übermorgen. Die revolutionäre Erneuerung unserer Gesellschaft betrifft vor allem das gesellschaftliche Bewußtsein. Nicht zufällig sind Dogmatismus und Bürokratie zum zentralen Gegenstand unserer Kritik geworden. Beides verbinden wir in hohem Maß mit den Jahren der autokratischen Herrschaft Stalins.
Schließlich will ich noch auf einen Grund unter vielen hinweisen für das große Interesse am Leben dieses Menschen. Dieser Mann erschien seinem Volk nicht als Mensch, wie Lenin, sondern er stellte sich gottähnlich über die sowjetischen Bürger. Die sowjetischen Menschen wußten nichts über Stalin, abgesehen von den zahllosen Lobeshymnen auf ihn wie von den Statuen und Bildern. Die knappe Biographie von ihm, die kurz nach dem Krieg erschienen ist, hat keine Autoren, obwohl in der Titelei G.F. Alexandrow, M.B. Mitin, P.N. Pospelow und andere aufgeführt sind. Stalin selbst hat diese Biographie bearbeitet. Sie verherrlicht den Staatsmann und Parteiführer, aber der Mensch kommt nicht vor in ihr.
1936 wurde ein Buch von Henri Barbusse herausgegeben: »Stalin«. Es genügt, ein paar Sätze darin zu lesen, um die Qualität dieser Arbeit bewerten zu können. Zum Beispiel: »Die Geschichte seines Lebens ist eine Reihe ungezählter Siege über gewaltige Schwierigkeiten. Es verging kein Jahr seit 1917, in dem er nicht große Taten vollbrachte, von denen eine einzige genügt hätte, um ewigen Ruhm zu ernten. Stalin, das ist ein eiserner Mensch. Er macht seinem Namen alle Ehre: Stalin, der Stählerne.«
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Das Akademiemitglied Jemeljan Jaroslawski hat 1939 das Buch »Über den Genossen Stalin« veröffentlicht. Jaroslawski bemerkte zu Recht, über Stalin zu schreiben bedeute, über alle Aktionen der Partei im Kampf für den Aufbau des Sozialismus in unserem Land zu berichten. Aber dann finden wir darin Sätze nach dem Muster der folgenden:
»In den Volksliedern besingen und vergleichen die Sänger den Genossen Stalin mit einem gewissenhaften Gärtner, der seinen Garten liebt; und dieser Garten ist die Menschheit. Das Teuerste, das wir haben, sind die Menschen, sind die Kader. Die Fürsorge, die der Genosse Stalin den Kadern, dem Menschen, dem lebenden Menschen, zuteil werden läßt, das ist das, was das Volk am Genossen Stalin schätzt, das ist das, was wir vom Genossen Stalin lernen können.«
Der Kominternfunktionär Karl Radek widmete Stalin in seinem 1934 erschienenen Buch »Porträts und Pamphlete« ein langes Kapitel. Es liest sich wie die Lobpreisung eines Messias. Die Hymne auf den Führer, mit der Radek sich erniedrigte, bewahrte ihn nicht vor einem tragischen Schicksal.
Der wissenschaftliche Wert solcher und ähnlicher Werke sowie der Mengen von geschönter Erinnerungsliteratur, die die Stalin-Zeit behandelt, ist gering. In ihnen zeigt sich das Klima der Unterwürfigkeit und Speichelleckerei, das Stalin und seine Gesinnungsgenossen unter Einsatz von Gewalt erzeugt haben, besonders nach dem 17. Parteitag (1934).
Stalin hat hart daran gearbeitet, daß die Menschen nach seinem Tod so über ihn dachten, wie er es wollte. Er und seine Mitstreiter waren dabei nicht ohne Erfolg, wie sich in unserer Literatur zeigt. Viele Seiten der Chronik unseres Landes sind unbeschrieben, viele sind entstellt, und manche wurden herausgerissen. Dieser Umstand hat dem Autor die Arbeit schwergemacht.
Eine andere Schwierigkeit ist mehr allgemeiner Art. Jeder Mensch birgt in sich einen Mikrokosmos unerklärlicher Welten. Alle diese Geheimnisse nimmt er mit ins Grab. Wir werden niemals alles über einen Verstorbenen erfahren, aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, vieles über das zu erfahren, was ein Mensch gedacht hat.
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Über die Gedankenwelt Stalins geben nicht nur seine Berichte, Briefe und Aufzeichnungen Aufschluß, sondern auch sein Handeln, wie es sich in der sozialen Wirklichkeit niedergeschlagen hat. Dazu gehören seine Verbrechen. Die Stalinsche Gedankenwelt ist nicht mehr gänzlich geheimnisvoll, wenn man betrachtet, wovon sie sich nährte und worin sie sich ausdrückte. Dennoch wird unser Versuch, Stalins Taten zu erklären, in einigen Fällen in einer Sackgasse enden.
Menschen, die außerhalb einer demokratischen Kontrolle stehen, die mit uneingeschränkter Macht ausgestattet sind, gewöhnen sich an das Gefühl der Unfehlbarkeit. Solche Menschen sind meist von vielen anderen Menschen umgeben, aber sie sind immer einsam. Bei Stalin hielten sich in der Regel Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow, Malenkow und Berija auf. Stalin hatte niemanden, mit dem er sich vergleichen konnte, niemanden, mit dem er diskutieren konnte, niemanden, dem er etwas beweisen mußte, niemanden, vor dem er sich zu rechtfertigen brauchte. Die Einsamkeit auf dem Gipfel, die uneingeschränkte Macht stumpften seine Gefühle ab, verwandelten sein Denken in kalte Berechnung. Jeder Schritt, der immer gleich zu einem »historischen«, »schicksalhaften«, »entscheidenden« wurde, tötete fast unmerklich das Menschliche im Menschen.
Als Grundlagen für meine Analyse dienten Lenins Arbeiten, Parteidokumente, Materialien vieler Archive: des Zentralen Parteiarchivs, des Obersten Gerichtsarchivs der UdSSR, des Zentralen Staatsarchivs der Sowjetischen Armee, des Archivs des Verteidigungsministeriums der UdSSR, des Archivs des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR und andere Archive und Museen. Im Archiv des Verteidigungsministeriums der UdSSR hatte ich beispielsweise Gelegenheit, viele interessante, einzigartige, nie veröffentlichte Dokumente einzusehen. Sie beziehen sich im wesentlichen auf die militärischen Aspekte von Stalins Tätigkeit.
Schon die erste Bekanntschaft mit den Erklärungen Stalins zu militärischen Fragen zeigt, daß Stalin ganz und gar nicht immer das glaubte, was er proklamierte. Um dies zu belegen, ziehe ich auch Erinnerungen von Zeitgenossen Stalins heran.
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Hier ein Beispiel: Stalin liest den Urteilsentwurf des militärischen Kollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR gegen die Generäle D.G. Apollos, W.J. Klimowskich, A.T. Grigorjew, A.A. Korotkow, denen unter anderem »antisowjetische Verschwörung und vorsätzliche Wehrkraftzersetzung an der Westfront« zur Last gelegt wurden. Ohne zu Ende zu lesen, stieß der »Führer« hervor: »Reden Sie keinen Blödsinn!«
Daraufhin strich man »antisowjetische Verschwörung«, »verschwörerische Ziele« und »feindliche Tätigkeit« und schrieb statt dessen: »(...) offenbarten ihre Feigheit, die Unfähigkeit, ihre Befehlsgewalt anzuwenden; sie zeigten organisatorisches Unvermögen und ließen einen Verfall der militärischen Führung zu (...).«
Obwohl die Beschuldigungen nach wie vor ungerechtfertigt waren und das Urteil, welches am 22. Juli 1941 vollstreckt wurde, hart war, zeigt diese Episode, daß der »Führer« im Angesicht der Gefahr, die ihn und das Land bedrohte, nicht mehr das alte »Verschwörerspiel« spielen wollte. Wo liegen die Ursachen für die Irrationalität, Grausamkeit und Hinterlistigkeit dieses Menschen? Etwa in der religiös-dogmatischen Nahrung, die er während seiner Jugendjahre in großen Mengen verschlang? Oder in der eigenartigen Eifersucht, die er gegenüber anderen Politikern wegen deren intellektuellen Formats empfand? Liegen die Ursachen in seiner Verbitterung, die schon vor der Oktoberrevolution entstanden war?
Stalins Biographie vor der Oktoberrevolution besteht im wesentlichen aus sieben Verhaftungen und fünf Fluchten. Seit seinem neunzehnten Lebensjahr erfüllte er illegal Aufträge von Parteikomitees. Er wurde immer wieder verhaftet, wechselte häufig seinen Namen, beschaffte gefälschte Pässe, befaßte sich mit der »Expropriation« von Geld zugunsten der Parteikasse und wechselte häufig den Wohnsitz. In den Verbannungsorten und Gefängnissen hielt er sich nicht lange auf, er floh und versteckte sich von neuem. Der Gedanke, ins Ausland zu gehen, ist ihm nicht in den Sinn gekommen.
Eine große Hilfe für dieses Buch stellten viele Zeitungen und Zeitschriften dar, zum Beispiel Ausgaben der »Prawda« aus über dreißig Jahren, des »Bolschewik«, des »Politrabotnik« und viele andere. Ich konnte auch auf Zeitungen und Zeitschriften zurückgreifen, die nur in den zwanziger Jahren erschienen sind. Es ist bekannt, daß im Ausland eine umfangreiche Literatur über Stalin existiert.
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Es werden jährlich auch Dutzende und aber Dutzende von Büchern veröffentlicht, die das Ziel haben, mit »Hilfe Stalins« die Idee des Sozialismus zu diskreditieren. Aber Stalins Praxis, den Sozialismus in Mißkredit zu bringen, war weitaus gefährlicher als die Werke bürgerlicher Sowjetologen.
Ferner sind Aufzeichnungen von ausländischen Politikern, die seinerzeit Stalin begegnet sind, als Zeugnisse nicht uninteressant; wie zum Beispiel von Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill, Charles de Gaulle, Mao Tse-tung, Enver Hodscha. Das gilt auch für einige kleinere Arbeiten von Stalins Tochter Swetlana Allilujewa, die sie in der Emigration herausgegeben hat.
Ich machte mich ferner mit den Argumenten politischer und ideologischer Gegner Stalins innerhalb des Landes vertraut, mit Arbeiten Leo Trotzkis, Grigorij Sinowjews, Lew Kamenews, Nikolaj Bucharins, Alexej Rykows, Michail Tomskis und anderer. Sie alle waren sowohl Mitstreiter als auch Schüler Lenins. Niemand von ihnen hat sich für einen Schüler Stalins gehalten. Sosehr auch später Lasar Kaganowitsch, Wjatscheslaw Molotow, Kliment Woroschilow, Georgij Malenkow, Andrej Schdanow und andere, die ihre Plätze einnahmen, versuchten, den Eindruck zu vertuschen: Stalin handelte nach dem alten Gesetz der Diktatoren. Die Menschen, die er einsetzte, zeichneten sich durch Unterwürfigkeit aus und konnten ihm seinen Rang nicht streitig machen.
Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin und andere waren Anfang der zwanziger Jahre wesentlich bekannter als Stalin. Trotzki und Stalin waren in den Jahren der Revolution und des Bürgerkriegs nicht einmal vergleichbar, was ihre Popularität in Partei und Volk betrifft. Trotzki ging in die Geschichte ein als ein anerkannter Führer der Oktoberrevolution, als einer der Gründer der Roten Armee und als bedeutender Theoretiker. Vor dem Jahr 1927 hatte er schon 21 Bände seiner Werke veröffentlicht! Dieser energische Politiker, dem es beim Verfassen seiner Arbeiten an literarischem Talent nicht mangelte, kokettierte nicht selten vor dem Spiegel der Geschichte und versuchte, seine Ansprüche auf einen Platz an der Parteispitze zu rechtfertigen. Wahrscheinlich liebte er sich in der Revolution mehr als die Revolution selbst.
Als ich mich mit den Bänden seiner Werke vertraut machte, war ich erstaunt darüber, daß Trotzki bereits in den Jahren des Bürgerkriegs sorgfältig darauf achtete, was später über ihn geschrieben werden sollte. Briefe und alle möglichen Schriftstücke, die er erhielt, bewahrte er sorgsam auf.
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So sammelte er auch Anfragen von Diplomaten, die ihn um Audienz baten, und er archivierte Zeitungsausschnitte, die über ihn und seine Arbeit berichteten. Trotzki war davon überzeugt, daß nach dem Tod Lenins die Führung der Partei auf ihn übergehen müßte. Und das nicht ohne Grund.
Häufiger als alle anderen war Stalin das Hauptziel von Trotzkis Attacken. Allerdings hat er den Großteil seiner antistalinschen Literatur erst nach seiner Verbannung aus der UdSSR verfaßt. Trotzki charakterisierte Stalin als den »Herausragendsten in der Partei an Mittelmäßigkeit«. Im übrigen hat Trotzki es kaum verborgen, daß er sich für ein intellektuelles Genie hielt. Trotzki versuchte häufig, seine Gegner als minderwertig darzustellen. So sagte er zum Beispiel 1924 über Sinowjew, er sei »von einer aufdringlichen Mittelmäßigkeit«, dem belgischen Sozialistenführer Emile Vandervelde bescheinigte er »glänzende Mittelmäßigkeit« und dem Menschewiken Irakli Zereteli »begnadete und ehrliche Mittelmäßigkeit« usw.
Nach der Verbannung aus der UdSSR blieb Trotzki eine nie nachlassende Leidenschaft: der Haß auf Stalin. Besonders deutlich tritt dies in seinem letzten, unvollendeten Buch »Stalin« hervor. Obwohl Trotzki darin versichert, persönliche Motive spielten keine Rolle: »Unsere Wege sind vor so langer Zeit und so weit auseinandergegangen, und er ist für mich in solch einem Maße Geschütz historischer und feindlicher Kräfte, so daß meine persönlichen Gefühle für ihn sich nicht von jenen unterscheiden, die ich für Hitler oder für den japanischen Mikado empfinde; das Persönliche zwischen uns ist schon lange verglüht.«
Niemand auf der Welt hat soviel Vernichtendes, Böses, Polemisches über Stalin geschrieben wie Trotzki, und es hat niemand soviel zur Entlarvung Stalins beigetragen wie er. Stalin erwiderte die Angriffe Trotzkis mit ebensolchem Haß. Besonders deutlich zeigte sich dies bei ihren Auseinandersetzungen in der Zeit der Schlacht um Zarizyn und während des Bürgerkriegs.
Am tragischen 21. Januar 1924 schickte Stalin folgendes Telegramm in den Süden: »Man übermittle dem Genossen Trotzki, daß am 21. Januar 1924 um 6.50 Uhr der Genosse Lenin unerwartet verstarb. Der Tod erfolgte durch eine Atemlähmung. Beerdigung am Samstag, den 26. Januar. Stalin«
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Als er das Telegramm schrieb, wußte Stalin sicher: Jetzt steht ihm ein erbitterter und schonungsloser Kampf gegen Trotzki um die Führung in der Partei bevor. Stalin dürfte allerdings kaum geahnt haben, daß er Trotzki zwar besiegen, aber niemals von ihm loskommen würde. Die bürokratischen Befehlsmethoden, die Gewalt, das »Anziehen der Schrauben«, deren Verfechter Trotzki gewesen war, wurden zu Stalins Rüstzeug. Liegt vielleicht hierin ein Ursprung der künftigen Tragödie? Bis zur Ermordung Trotzkis im August 1940 hinterließ der Kampf zwischen Stalin und Trotzki Spuren im Denken des Generalsekretärs. Um die tiefen Schichten von Stalins Innenwelt zu verstehen, habe ich den Kampf studiert zwischen dem Generalsekretär und dem Mann, den er für seinen größten Feind hielt.
Ich hatte die Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, die Stalin begegnet waren. Sie waren so oder so in den Strudel der Ereignisse geraten, die durch Stalin hervorgerufen wurden. Ergiebig waren auch die Gespräche mit einer Reihe von Menschen aus der engeren Umgebung Stalins: mit ehemaligen Mitarbeitern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, des Rats der Volkskommissare und des NKWD; mit ehemaligen höchsten sowjetischen Militärführern, mit Menschen aus politischen und gesellschaftlichen Institutionen - mit den Menschen also, deren Leben auf diese oder auf jene Weise durch die Handlungen oder Entscheidungen des »Führers« bestimmt wurden.
Ich habe diesem Buch den Titel »Stalin. Triumph und Tragödie« gegeben, weil ich versuchen will zu zeigen, wie der Triumph eines Menschen sich in die Tragödie eines Volks verwandelte. Nikita S. Chruschtschow setzte auf dem 20. Parteitag in seinem Bericht die Akzente auf seine Art. Er sagte über Stalin unter anderem folgendes:
»Wir können nicht sagen, daß es sich hier um die Taten eines machttrunkenen Despoten handelte. Er war zu dem Schluß gelangt, daß dies im Interesse der Partei, der arbeitenden Massen, im Namen der Verteidigung der Ziele der Revolution getan werden müsse. Hierin liegt die ganze Tragödie!«
Ich glaube, daß diese Betrachtungsweise nicht richtig ist. Sie rechtfertigt Stalin. Der »Führer« liebte mehr als andere auf der Welt seine persönliche Macht. Er benutzte seine uneingeschränkte Macht zu ungeheuerlichen Repressalien, und darin sah er keine Tragödie.
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Stalin gewöhnte sich schnell an die Gewalt als Attribut der absoluten Macht. Die Verfolgungsmaschine, die Stalin in den dreißiger Jahren mit voller Kraft wüten ließ, machte nicht nur die Funktionäre der unteren Ränge besessen, sondern auch Stalin selbst.
Es ist denkbar, daß das Abgleiten zur Idee der Gewalt eine Reihe von Etappen durchlief: Zunächst war es ein Kampf gegen wirkliche Feinde, dann folgte die Vernichtung von persönlichen Gegnern, und schließlich wurde die Gewalt angewendet als Demonstration der Ergebenheit vor dem »Führer«. Im Schatten der Bedrohung von außen wurde eine Atmosphäre der geistigen Belagerung geschaffen. Dies war der spezifische Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins, der im Jahr 1937 seinen Höhepunkt erreichte: Die Gewalt triumphierte über das Recht und der Personenkult über die Volksmacht.
Konnte man denn wirklich glauben, daß von den sieben Politbüromitgliedern, die im Mai 1924 auf dem ersten Parteitag nach Lenins Tod gewählt wurden, alle außer Stalin plötzlich zu »Feinden« wurden? Sogar in den Zeiten der mittelalterlichen Inquisition hatte niemand auf solch einer »Sauberkeit« bestanden. Stalin vernichtete die »Feinde«, und die Wellen gingen weiter und weiter. Das war der tragische Triumph einer bösen Macht.
Manchmal ist es schwer, zu erklären, warum Stalin, der doch schon alle seine Gegner vernichtet hatte, es für nötig befand, die Verfolgung der besten Leute der Partei und des Staats fortzusetzen. Und dies am Vorabend des drohenden Kriegs.
In den Organen des Innenministeriums (NKWD) hatten einige Bolschewiki früh die Gefahr des Systems der allgemeinen Verdächtigungen und Repressionen erkannt. Allein aus ihrer Mitte wurden mehr als 23.000 zu Opfern der barbarischen Gesetzlosigkeit.
Nicht einmal die schlimmsten Grimassen der Geschichte aber konnten letzten Endes das sowjetische Volk daran hindern, sich der Verwirklichung von hohen Idealen zu nähern. Sogar die tragischsten Jahre haben es nicht vermocht, in Millionen von sowjetischen Menschen den Glauben an humanistische Werte auszulöschen. In der Dialektik des Triumphes und der Tragödie verbirgt sich die unendliche Komplexität des Seins. Auch wenn die Volksmassen die entscheidende Rolle spielen, so hängt von den Persönlichkeiten in der Geschichte doch viel ab.
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Das Tragische bestand hier darin, daß Stalin von Millionen nicht als Mensch aus Fleisch und Blut, sondern als ein Symbol des Sozialismus, ja als seine Inkarnation empfunden wurde. Die häufig wiederholte Lüge kann einem als Wahrheit erscheinen. Die Vergötterung des »Führers« rechtfertigte, unter Berufung auf die Umtriebe der »Feinde«, in den Augen der Menschen die Verletzung des Rechts und schrieb alle Erfolge einem einzigen Menschen zu. Um so mehr, als Stalin es verstand, grandiose Vorhaben zu propagieren.
Stalin liebte es, besonders vor großem Publikum, sich bei der Verkündung wichtiger Entschlüsse auf die Klassiker des Marxismus-Leninismus zu berufen. Hier offenbarte er eine allgemeine menschliche Schwäche. Die Menschen suchen die Sicherheit. Selbst solch ein mächtiger Mann wie Stalin zog es vor, sich hinter ideologischen Klischees, hinter der Autorität einer Theorie, hinter den unvergänglichen Ideen seines großen Vorgängers zu verstecken.
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Viel gaben mir die Erinnerungsbücher berühmter sowjetischer Militärführer: Iwan Bagramjan, Alexander Wassilewski, Arsenij Golowko, Andrej Jeremenko, Georgij Schukow, Iwan Konew, Nikolaj Kusnetzow, K. A. Meretzkow, Kirill Moskalenko, Konstantin Rokossowski, S. M. Stemenko und anderer. Selbstverständlich habe ich berücksichtigt, daß die Zeugnisse dieser verdienten Personen in einer Zeit geschrieben wurden, da über Stalin noch nicht viel bekannt war. Und kurz nach dem 20. und 22. Parteitag war es nicht möglich, das Thema des Personenkults völlig offen zu analysieren. Soldaten, besonders auf höheren Kommandoebenen, haben die erbarmungslose und ungerechte Hand Stalins am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Aber außer A. W. Gorbatow und wenigen anderen Militärführern ist es kaum jemandem gelungen, klar zu sagen, was sie wußten. Sich über die Repressionen, Fehler und Versäumnisse Stalins zu äußern war faktisch verboten.
Es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs war Stalin gegen seinen Willen gezwungen, die Gewalt innerhalb des Landes einzudämmen. Die Militärführer befaßten sich in ihren Memoiren vorwiegend mit Stalins verteidigungspolitischer Aktivität. Ihm war es gelungen, den politischen Willen im Kampf um den Sieg über den Faschismus zu stärken. Vor diesem Hintergrund läßt sich die einseitig positive Darstellung Stalins durch viele Militärführer erklären. Viele tragische Schicksale scheinen weitgehend verborgen geblieben zu sein.
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Einige Zehntausende von Soldaten gerieten vor dem Krieg in den Fleischwolf der Säuberungen und kamen um. Sie konnten ihren Nachkommen nichts mehr berichten. Heute wissen wir, daß Stalin auch zu Anfang des Kriegs nicht nur einmal auf grausame Methoden zurückgriff. Er ließ viele Offiziere ermorden, denen er die Verantwortung für die Niederlagen aufbürden wollte.
Wenn man heute auf die Vergangenheit schaut, kann man sich des Erstaunens, des Entsetzens und der Verständnislosigkeit nicht erwehren. Wie konnte das sowjetische Volk solches Leid so lange ertragen? Worin sind die Wurzeln dieser Leidensfähigkeit zu suchen? Etwa in der 250jährigen Unterdrückung durch die Reiter der Goldenen Horde? In dem endlosen Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit? Oder im nie aufhörenden Kampf gegen die Kälte und die unübersehbaren Weiten des Landes? Möglicherweise. Als wichtigste der Ursachen für die Leidensfähigkeit des sowjetischen Volks erscheint mir die Überzeugung, daß der Weg, der 1917 eingeschlagen wurde, richtig ist.
Jedes Jahrhundert hat sein »Mittelalter«. Ich bin davon überzeugt, daß die sozialistische Entwicklung unserer Gesellschaft ohne die Entartungen der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre vonstatten gegangen wäre, wenn sich nach Lenins Tod nicht ein solches Defizit an Volksmacht herausgestellt hätte. Die Tragödie war nicht unvermeidlich.
Heute ist es einfach, über die Alternativen zu sprechen und ein Urteil zu fällen über die Vergangenheit. Es ist leichter, die Umstände zu analysieren, als sie zu bewältigen. »Der Historiker hat stets das Recht, dem Schicksal, das eingetroffen ist, Hypothesen gegenüberzustellen«, schrieb der französische Sozialist Jean Jaurès. Es hat in der Tat historische Alternativen gegeben.
Heute wissen wir, daß nach Lenins Tod auch Trotzki und Bucharin eine reale Chance hatten, sich an die Spitze der Partei zu stellen. Ich glaube, daß Sinowjew und Kamenew weitaus schlechtere Aussichten hatten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß uns vergleichbare Heimsuchungen erwartet hätten, wenn es Trotzki gelungen wäre, die Führung der Partei zu übernehmen.
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Er war ein Verfechter der sozialen Gewalt, und er hatte kein klares, wissenschaftliches Konzept für den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR. Bucharin hatte ein solches Konzept, und er verstand die politischen Grundsätze der Partei. Aber bei all seiner persönlichen Anziehungskraft, bei all seiner Intelligenz, bei all seiner Menschlichkeit - während langer Jahre glaubte er nicht an die historische Notwendigkeit, die ökonomische Kraft des Landes schnell zu steigern. Und dies, obwohl die Sowjetunion eingekreist war durch imperialistische Staaten, die mit den Bolschewiki abrechnen wollten.
Nach Lenins Tod bis zum Beginn der dreißiger Jahre erwarb sich Stalin den Ruf, einer der konsequentesten und willensstärksten Verfechter der Politik einer Festigung des ersten sozialistischen Staats der Welt zu sein. Eine andere Frage ist es, wie Stalin selbst sich diesen Kurs vorstellte.
Nein, Stalin besaß keine Eigenschaften, die es ihm ermöglicht hätten, Lenin zu ersetzen. Aber solche Eigenschaften besaß niemand. Stalin besaß nicht die Genialität Lenins, nicht die theoretische Tiefe Georgij Plechanows, nicht die Kultur Anatoli Lunatscharskis. In intellektueller und moralischer Hinsicht stand er weit unter vielen, möglicherweise unter den meisten Führern der Revolution. Als aber die Machtkämpfe um die Parteispitze begannen, zeigten sich Stalins Zielstrebigkeit, seine Härte, seine Schlauheit und seine Hinterlistigkeit. Trotz seiner Schwächen hatte Stalin etwas, was die anderen nicht hatten. Dazu gehörte seine Fähigkeit, sich geschickt des Parteiapparats zu bedienen, um seine Ziele zu erreichen. Er sah im Apparat das ideale Instrument der Macht.
Von Lenins Warnung vor Stalin wußten bei weitem nicht alle Bolschewiki. Nachdem die Delegierten des 13. Parteitags im Mai 1924 erfahren hatten, wie Lenin Stalin beurteilte, unterdrückte Stalin vorübergehend seine negativen Eigenschaften, was ihm in vielerlei Hinsicht die Unterstützung der Partei sicherte. Unter diesen Umständen waren die Chancen anderer, die Führung der Partei zu übernehmen, relativ gering. Viele in der Parteispitze hatten Stalin nicht vollständig durchschaut. Als sie es taten, war es zu spät. Stalin war ein großer Schauspieler. Geschickt spielte er unzählige Rollen: zunächst die des bescheidenen Führers und des Kämpfers für die Reinheit der Parteiideale, später die des »Führers«, des »Vaters des Volkes«, des Militärführers, des Theoretikers, des Kunstexperten und des Propheten.
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Besonders gewissenhaft versuchte er die Rolle des treuen Schülers und Mitarbeiters des großen Lenin zu spielen. So gelang es Stalin, in der Partei und im Volk Schritt für Schritt an Popularität zu gewinnen. Letzten Endes geht es jedoch nicht um Persönlichkeiten, sondern darum, daß das demokratische Potential, das Lenin begonnen hatte aufzubauen, nicht erhalten wurde.
Jahrzehnte später versuchen wir einen Menschen zu finden, der in der historischen Rückschau eine Alternative zu Stalin hätte darstellen können. Die effektivste Alternative wäre wohl eine Gruppe von Leninisten gewesen, die die Partei geführt hätte und verpflichtet gewesen wäre, den Willen Lenins zu erfüllen. Aber die »Leninsche Garde« legte eine unerklärliche Kurzsichtigkeit an den Tag. Wenn die demokratischen »Sicherungen« gefestigt worden wären, wenn vor allem eine echte kollektive Führung geschaffen worden wäre, dann hätte es keine entscheidende Rolle gespielt, ob ein Führer die anderen überragt hätte oder nicht. Wenn zum Beispiel ein Parteibeschluß die Amtsdauer des Generalsekretärs und anderer befristet hätte, dann wären die kultischen Entartungen nicht aufgetreten. Fehlen solche Begrenzungen der Macht, dann hängt das Schicksal eines Landes stark ab von der Frage, welche Person das Steuer führt.
Oft wird vom »Stalinismus« gesprochen. Man kann über die Richtigkeit dieses Begriffs streiten, jedoch sollte man eine Tatsache nicht außer acht lassen: daß nämlich hinter diesem Wort ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen steht. Es keimte, weil die gerade entstandenen demokratischen Anfänge der Volksmacht deformiert wurden; ohne Demokratie verliert der Sozialismus nicht nur seine Kraft, sondern auch seine Attraktivität.
Der Stalinismus ist meines Erachtens ein Synonym für die Pervertierung der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus. Diese Pervertierung zeigt sich vor allem in der Entfremdung der werktätigen Massen von der Macht, in der Ausuferung der Bürokratie und in der Festigung dogmatischer Klischees im gesellschaftlichen Bewußtsein. Das Austauschen der Volksmacht durch die Selbstherrschaft erzeugt eine spezifische Form der Entfremdung. Diese Entfremdung macht die Menschen sozial apathisch; sie höhlt die sozialistischen Werte aus und erstickt die Dynamik der Bewegung. Der riesige und schmerzende Schatten Stalins hat sich auf alle Sphären unserer Existenz gelegt.
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Sich völlig aus der bürokratischen und dogmatischen Umnachtung zu befreien erweist sich als ganz und gar nicht einfach.
Vor dem Hintergrund der tief im Volk verwurzelten ethischen Werte erscheint die Persönlichkeit Stalins besonders armselig. Stalin war nicht nur zu seinen politischen Gegnern erbarmungslos. Er diskriminierte jeden Standpunkt, der sich von seinem unterschied. Wer nicht für ihn war, der war sein Feind. Für Stalin war die Pflicht gegenüber Partei und Staat, die bedingungslos erfüllt werden sollte, immer wichtiger als die Menschenrechte.
Das wichtigste Werk Stalins war die Formierung einer allumfassenden bürokratischen Zwischenschicht. Sie war die wichtigste Stütze seiner Methoden, Schritte und Absichten. Solange die bürokratische Methode im Denken und im Handeln lebt, wird es Anhänger Stalins und seiner »harten Hand« geben.
Stalin ist nicht nur Geschichte. Er ist in gewisser Weise auch Weltanschauung. Er ist ein Faktor, der den Rang von Werten bestimmt und die Wege zu ihrer Erlangung beschreibt. Es wäre zu einfach, alle Sünden, Fehler und Unzulänglichkeiten auf Stalin und sein Erbe abzuwälzen. Allerdings sind die Hauptkrankheiten unserer Gesellschaft die Bürokratie, der Dogmatismus und die Autoritätsgläubigkeit, wie sie in den Jahren der Alleinherrschaft Stalins entstanden.
Die eigene Zeit zu überdauern ist nur wenigen vergönnt. Einer von ihnen ist Stalin. Noch lange werden die Auseinandersetzungen über ihn anhalten, immer wieder wird man über seine Rolle in unserer Geschichte diskutieren. Diese Diskussionen werden mit Haß, mit Hochachtung, mit Bitterkeit und Fassungslosigkeit geführt. Wie auch immer, am Schicksal Stalins können wir uns noch einmal überzeugen, daß am Ende die Macht der großen Idee stärker ist als die Macht eines Menschen. Gleichgültig, was für ein Titan er gewesen sein mochte - die Macht der Zeit ist absolut.
Die Zeit fließt mal lautlos, mal mit dem Donnerhall des Kriegs und der Revolution. Sie spült die größten Denkmäler, die Menschen gesetzt wurden, hinweg. Von unvergleichlich längerer Dauer sind die philosophischen Denkmäler, die Monumente der Kultur. Die Ilias, die Sonette Petrarcas, die Lehren Kants, das Igorlied. Die Ideen der sozialen Gerechtigkeit und des Humanismus sind am vollständigsten von den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus formuliert worden. Die Stalinsche Pervertierung vermochte es nicht, die Anziehungskraft des sozialistischen Ideals zu vernichten.
Der Versuch, ein Stalin-Porträt zu verfassen, ist nicht nur ein Exkurs in die nähere Vergangenheit. Man darf nicht vergessen, daß die Prozesse der Geschichte, die zeitlich weit von uns entfernt sind, weiterhin ihren Einfluß ausüben, und sie werden noch lange auf Gegenwart und Zukunft einwirken. Und die Zukunft ist uns oft näher, als manche glauben.
Bei meiner Arbeit an diesem Buch trieb mich ein Gedanke an: die Wahrheit über Stalin zu sagen. Das Gericht der Menschen kann trügerisch sein, das Gericht der Geschichte ist unfehlbar.
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