Wolle & Kowalczuk
ROTER STERN über Deutschland
2001
by Christoph Links Verlag |
2001 240 (255) Seiten TV-Doku gleichen Namens (Grimme-Preis) Video1 detopia: |
Inhalt Vorwort: "Soldaten sehn sich alle gleich" (7) Anhang Anmerkungen (241) Abkürzungen (249) Personen- und Ortsregister (250) Bildnachweis (254) Angaben zu den Autoren (255) Fünf Jahrzehnte lang standen auf deutschem Boden sowjetische Truppen, die dreimal stärker waren als die Nationale Volksarmee der DDR. An der Nahtstelle zwischen Ost und West verfügten diese Eliteeinheiten über atomare Mittelstreckenraketen auf mobilen Abschußrampen und standen für offensive Kampfhandlungen gegen die Bundesrepublik bereit. Zugleich diente die Streitmacht der Absicherung des östlichen Herrschaftsblocks, was während des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 und beim Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 besonders deutlich wurde. Die Autoren dokumentieren nicht nur die politische und militärische Entwicklung von 1945 bis 1994, sondern schildern anhand von bisher geheimen Dokumenten und überraschenden Zeitzeugenaussagen auch das Innenleben der Kasernen und der streng abgeschirmten »Russenstädtchen« sowie das oft konfliktreiche Verhältnis zur ostdeutschen Bevölkerung. Zahlreiche Fotos, Statistiken und Faksimiles komplettieren diese einzigartige Überblicksdarstellung. In Zusammenarbeit mit ORB, Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg |
»Die Russen kommen!« — Das Ende des Zweiten Weltkriegs (19) April 1945 (19) Schlacht um die Seelower Höhen (21) Tragödie der Reichshauptstadt und Kapitulation Hitlerdeutschlands (22) Erste Begegnungen mit den Russen (27) Sowjetische Kriegspropaganda (31) Vergewaltigungen (35) Erste politische Maßnahmen (40)
Demokratische
Erneuerung oder Sowjetisierung? — Die Nachkriegsordnung auf dem Verhandlungstisch der Siegermächte (45) Der Alliierte Kontrollrat (50) Sowjetische Militäradministration (SMAD) (54) Sowjetische Generale in Deutschland (58) Entscheidungshoheit der Besatzungsmacht (63) Bodenreform (64) Demontagepolitik (67) Schul- und Hochschulreform (76) Entnazifizierung (80) Sowjetische Militärtribunale (82) Speziallager (86) Aufbau des ostdeutschen Polizeistaates (89) Alltag der Besatzung (94) Schrittweise Übertragung der Regierungsgeschäfte an die DDR (98) »Waffenbrüder-Klassenbrüder« — Die sowjetische Armee in der DDR (104) Die Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen (GSBT) 104 # Stationierungsabkommen und Stationierungskosten 106 # Die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) 114 # Die GSSD als strategischer Vorposten der Sowjetarmee 118 # Wünsdorf oder »Wjunsdorf«? 123 # Sowjetische Geheimdienste in Deutschland 126 # Leben in den Kasernen 132 # Straftaten der sowjetischen Soldaten 145 # Neue Beziehungen im Zeichen von Glasnost und Perestroika 153 Armee an der Nahtstelle des Kalten Krieges - Die sowjet. Truppen in den Krisen des Sowjetblocks (160) Deutschland in Zeiten der Blockkonfrontation (160) Berlin-Blockade 1948/49 (163) Volksaufstand in der DDR im Juni 1953 (167) Gründung des Warschauer Paktes 1955 (179) Mauerbau 1961 (182) Ende des »Prager Frühlings« 1968 (190) Polnische Krise 1980/81 (201)
»Lebe
wohl Deutschland« — Das
Ende der DDR und der Abzug der sowjetischen Truppen
(206) |
"Soldaten seh'n sich alle gleich"
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Am 8. Mai, dem »Tag der Befreiung«, herrschte meist strahlender Sonnenschein. Das frische Grün der Bäume, der blaue Himmel und der bunte Fahnenschmuck verbreiteten eine feierliche und fröhliche Stimmung. Die öffentlichen Gebäude und Einzelhandelseinrichtungen waren beflaggt, und auch die pflichtbewußten Staatsbürger hatten eine Fahne aus dem Fenster gehängt. Zumeist war es die Fahne vom 1. Mai, die sie aus praktischen Gründen hatten hängen lassen.
Zum »Tag der Befreiung«, der in der DDR bis 1968 als gesetzlicher Feiertag schulfrei war, fuhren die Klassen, gekleidet mit weißer Bluse und blauem Halstuch, gemeinsam zu einem der Soldatenfriedhöfe für die gefallenen Helden der Sowjetarmee. Da fast überall in den letzten Kriegstagen gekämpft worden war, gab es zahlreiche Soldatengräber im Lande. Je nach Größe und Bedeutung des Ortes waren sie mit Blumenrabatten, Marmortafeln, Obelisken und Skulpturen verziert. An anderen Stellen standen sowjetische Panzer vom Typ T 34 oder Sturmgeschütze auf gemauerten Podesten.
In Berlin war das monumentale Ehrenmal im Treptower Park ein beliebtes Ziel für solche Ausflüge am »Tag der Befreiung«. Dort steht inmitten des Parks auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel ein überlebensgroßer Sowjetsoldat in Bronze. In der Rechten hält er ein gewaltiges Schwert, auf dem linken Arm trägt er ein kleines Mädchen. Unter seinem mächtigen Stiefel liegt das zertretene Hakenkreuz. Barhäuptig und mit unmilitärisch langen Haaren blickt der Bronzesoldat ernst und zugleich gütig in die Ferne. In den Lesebüchern der DDR-Schulen war die Geschichte von dem tapferen sowjetischen Soldaten, der während der Kämpfe in Berlin ein deutsches Mädchen aus den Flammen einer brennenden Ruine gerettet hat, nachzulesen.
Auch als Aufsatzthema war die Geschichte beliebt, und brav schrieben Generationen von Schulkindern, diese Heldentat zeige, daß der Sowjetsoldat gekommen war, das deutsche Volk vom Faschismus zu befreien. Zum Schulstoff gehörte auch ein Gedicht von Johannes R. Becher, »Staatsdichter« und von 1954 bis 1958 Minister für Kultur: »Sterne unendliches Glühen«. Kalt und glatt wie Marmor sind die Reime dieses Dichters der Stalin-Oden und doch so sentimental und eingängig wie die damals modernen deutschen Schlager.
Die Lesebuchgeschichte, die Lieder und Gedichte waren so süßlich betäubend wie der Veilchengeruch des sowjetischen Einheitsparfüms »Krasnaja Moskwa«, nach dem das ganze Imperium zwischen Wladiwostok und Marienborn duftete. Es war eine Märchenwelt, die sich uns auftat. Sie war so bewegend und irreal, so schön und erhaben wie der Film über Ilja Muromez, den altrussischen Recken, der gegen die Tataren zu Felde zog, einen furchtbaren Drachen besiegte und die schöne Wassilissa der Macht der Goldenen Horde entriß.
Die Amerikaner kämpften um die Seele des deutschen Volkes mit Kaugummi, Jazzmusik und Comicstrips. Die Russen hatten einen höheren Anspruch. Sie wollten das vom faschistischen Ungeist vergiftete deutsche Volk zu den humanistischen Werten bekehren. Im Moskauer »Verlag für fremdsprachige Literatur« erschienen großformatige bunte Bücher mit den Märchen Alexander Puschkins oder Alexej Tolstois Nacherzählung von Carlo Collodis Kinderklassiker »Pinocchio«. Als »Burattino« eroberte er die Herzen der Kinder und wurde zum Namenspatron von Kindergärten und Spielzeugläden. Väterchen Frost, die Hexe Baba-Jaga und Karandasch mit der Bleistiftnase wurden so populär wie Tarzan und Donald Duck im Westen.
Der Kalte Krieg in den Kinderzimmern und auf den Schulhöfen wurde durchaus mit einer gewissen Verbissenheit geführt. Taschenkontrollen am Schultor waren an der Tagesordnung. Mit wichtiger Miene wurden die bunten Bildergeschichten aus dem Westen als »Schund- und Schmutzliteratur« vom Pionierleiter »eingezogen«. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Väterchen Frost und Burattino im Kampf gegen Tarzan keine Chance hatten.
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Wer
hat vollbracht all die Taten,
Dank
euch, ihr Sowjetsoldaten!
Wem
dankt all das Gute und Schöne
Vergeßt
nicht das Blut der Söhne, |
Die
Welt von Licht überflutet -
Es
hat auch für dich geblutet
Sterne
unendliches Glühen,
Es
brachte der Welt den Frieden |
Johannes
R. Becher: |
Doch es war nicht ihre Schuld. Es gab zauberhafte sowjetische Kinderfilme und wunderbar gestaltete Bücher vom Zaren Saltan, vom Tierhäuschen, von Nimmerklug in Knirpsenstadt, dem Zauberer in der Smaragdenstadt oder von der Fürstin Koschka. Das Märchenbuch des russischen Dichters Samuil Marschak erschien seit 1957 in zahllosen Auflagen in deutscher Übersetzung im Kinderbuchverlag Berlin. Es beginnt mit den Versen: »Tili Bom! — Denkt euch ein Haus,/ wie ein Prunkschloß sieht es aus,/ Tor und Fenstersims und Giebel/ fein geschnitzt, bemalt nicht übel!/ Schon der Teppich, goldgewirkt,/ vor der Tür für Reichtum bürgt./ In dem Haus wohnt eine Dame,/ Fürstin Koschka ist ihr Name.«
Die Sowjetunion war so ein Märchenschloß voller wunderbarer Dinge. Den Atomeisbrecher »Lenin«, die Staudämme an der Wolga und immer wieder den Sputnik gab es als Bilder in den Kinderzeitungen, im Fernsehen und als Nippes. Als Gastgeschenk oder Reiseandenken hielten solche Herrlichkeiten Einzug in die Wohnzimmer der DDR: ein goldener Spasskiturm mit rubinrotem Stern beispielsweise, dessen eingebaute Spieldose das Glockenspiel des Kreml intonieren konnte. Oder ein Modell des »Sputnik 1«, der die Funksignale des ersten künstlichen Erdtrabanten spielte. Wie ein Triumphmarsch tönten die Morsezeichen und verbreiteten die Botschaft vom Sieg des Kommunismus. »Hejo, Sputnik, hoch am Himmelszelt, sag, was siehst du bei der Reise um die Welt?« sangen die Jungen Pioniere.
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Und der sowjetische Erdtrabant antwortete in einer Art Wechselgesang: »Ich seh' vom Gelben Meer herüber bis zum Elbestrand die Schar der befreiten Völker, mittendrin mein Heimatland. Die Fahnen leuchten rot und die Gesänge klingen froh!« Darauf der Chor: »Hejo Sputnik, otschen choroscho!«
Die Schulkinder verzierten kleine Schulheftchen im Oktavformat, sogenannte Vokabelhefte, mit einem Sputnik aus Buntpapier. In solche »Sputnikhefte« wurden regelmäßig die guten Taten eingetragen: die Resultate der Altstoffsammlung, die Lernergebnisse und die sportlichen Erfolge.
Gut und Böse waren wie im Märchen genau verteilt, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Sowjetsoldat für alles Gute, Wahre und Schöne auf der Welt stand: gutmütig, einfach, stark und am Ende immer siegreich. So sah auch die bronzene Heldengestalt aus, die sich als zentrales Bildmotiv durch die politische Ikonographie der DDR zog.
In der Wirklichkeit trugen die Sowjetsoldaten keine Schwerter. Sie sahen auch nicht so heroisch und denkmalwürdig aus wie der Bronzesoldat mit seinem wehenden Umhang, dem harten kantigen Gesicht und dem langen Haarschopf. Die echten Rotarmisten wirkten im Gegenteil recht schäbig in ihren olivgrünen verwaschenen, oft nur notdürftig geflickten Uniformen, ihren schiefsitzenden, meist viel zu großen Käppis und den unförmigen und sicher auch unbequemen Knobelbechern. Kahlgeschoren mit kindlich großen Augen schienen sie eher erbarmungswürdig.
Furcht und Haß erregten diese Soldaten am Tage schon lange nicht mehr. Vielmehr erzeugte es Mitleid, daß sie fern der Heimat in Deutschland ihren Dienst leisten mußten. Der Muschik in Soldatenuniform wurde eher als Opfer denn als Protagonist des Systems empfunden. »Soldaten sehn sich alle gleich / Lebendig oder als Leich« sang Wolf Biermann in einem seiner besten Lieder.
Zur Begeisterung der Kinder fuhren die Russen, wie man eigentlich immer sagte, mit kleinen Pferdewagen umher, auch dann noch, als solche Fuhrwerke in der DDR eigentlich schon lange zur Vergangenheit gehörten. Diese Panjewagen wurden von kleinen zottigen Pferden gezogen. Die Soldaten lachten, wenn die Kinder den Pferden ein Stück Zucker gaben, und ließen sie ein Stück mitfahren. Es war eine besondere Welt mit einer besonderen Farbe. Die Pferdewagen, die windschiefen Zäune der Kasernen, die Schilderhäuschen am Kasernentor, selbst die Häuser waren oft mit einem unnachahmlichen grünen Anstrich versehen. Man nannte diese charakteristische Farbe »Russengrün«.
Hinter den Zäunen führten die Russen ihr eigenes Leben, fernab vom Alltag der DDR. Die wenigen Begegnungen mit der deutschen Bevölkerung waren streng reglementiert, und es gab sie weitaus seltener, als man angesichts der ständigen Freundschaftsbekundungen glauben möchte. Auch von den Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR waren sie streng isoliert. Wenn sie auf Truppenübungsplätzen einmal aufeinandertrafen, stellte sich jenseits der offiziellen Freundschaftsparolen schnell ein Einvernehmen her.
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"Marsch
der Freundschaft"
Im
Anschluß an Manöver
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Es gibt eine natürliche Solidarität derer, die auf der gesellschaftlichen Stufenleiter ganz unten stehen. Wenn sie sich von ihren Vorgesetzten unbeobachtet wähnten, versuchten sie Kleinigkeiten aus den Armeebeständen zu verkaufen, oder sie boten Kofferradios, Uhren und Rasierapparate zum Verkauf an. Teilweise wurden diese Produkte ohne westliche Lizenz in der Sowjetunion einfach »nachgebaut«. Sie waren tatsächlich preiswert und von solider Qualität. Den Familienangehörigen begegnete man gelegentlich in Geschäften oder auf der Straße. Auch sie lebten in der geschlossenen Welt der sowjetischen Kasernen, hatten dort ihre eigenen Kindergärten, Schulen, Ambulatorien und Geschäfte.
Das »Magasin« war die einzige für die DDR-Bevölkerung interessante Einrichtung der Besatzungsmacht. Dort gab es zu moderaten Preisen russischen Kaviar, Ölsardinen in Büchsen mit Öffner, Zigaretten mit Pappmundstück Marke »Belomorkanal«, den Krimsekt »Sowjetskoje Schampanskoje« und das beliebte Mischka-Konfekt. Auf dem bunten Einwickelpapier war eine Braunbärenfamilie nach einem Gemälde des berühmten russischen Waldmalers Iwan Schischkin abgebildet.
Natürlich gab es in der DDR viele Leute, die grundsätzlich etwas gegen die Sowjetunion hatten, und sei es nur deswegen, weil sie der Meinung waren, daß die SED-Herrschaft allein und ausschließlich auf den Bajonetten der Besatzungsmacht ruhte. Das sowjetische Eingreifen am 17. Juni 1953 rettete die Arbeiter-und-Bauern-Macht vor den Arbeitern und Bauern, und niemand hat dies deutlicher empfunden als die Herrschenden selbst. Drei Jahre später schlugen sowjetische Truppen den Aufstand des ungarischen Volkes blutig nieder. Am 13. August 1961 sicherten sowjetische Panzer den Bau der Mauer in Berlin. Im August 1968 beendeten die Sowjetpanzer das Experiment des Prager Frühlings, das Sozialismus und Menschlichkeit miteinander in Einklang bringen wollte. Wiederum zwölf Jahre später fuhren polnische Panzer sowjetischer Bauart auf den Straßen des Nachbarlandes auf, um ein Regime zu retten, das so gründlich abgewirtschaftet hatte wie selten ein System in der Geschichte. Jeder in der Welt wußte, daß die Verhängung des Kriegsrechtes in dem aufsässigen Land nur vor dem Hintergrund sowjetischer Interventionsdrohungen möglich war.
Trotz all dieser historischen Erfahrungen konnte der überwiegende Teil der DDR-Bevölkerung sehr genau zwischen dem einzelnen Soldaten und dem System unterscheiden, das den grauen Zinnsoldaten aufgestellt hatte, um die pax sovietica in der westlichsten Provinz des Großreiches zu garantieren. Der Sowjetsoldat in all seiner Schäbigkeit blieb irgendwie auch immer der Befreier vom Hitlersystem. Bei allem Unrecht und Leid, das die Besetzung Deutschlands im Jahre 1945 mit sich gebracht hatte, wußte man in der DDR doch sehr genau, wer an diesem Krieg schuld gewesen war und wer ihn gewonnen hatte. Der Sieger war weniger die Sowjetunion oder die Kommunistische Partei oder gar Stalin, sondern der einfache russische Soldat. Über Stalins schwere strategische Fehler, die Millionen Sowjetsoldaten Tod und Gefangenschaft gebracht hatten, konnte man seit den Enthüllungen der Chruschtschow-Zeit auch in der DDR einigermaßen offen reden. Viele lasen damals den 1962 erschienenen Roman von Konstantin Simonow »Die Lebenden und die Toten« oder sahen den gleichnamigen sowjetischen Film aus dem Jahr 1964.
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Verabschiedung einer Raketeneinheit in Waren an der Müritz,
die im Rahmen der Abrüstungsvereinbarungen 1988 in die Sowjetunion zurückverlegt wurde.
Die russischen Soldaten und Offiziere in diesen Filmen und Büchern kämpften nicht für Stalin, sondern trotz Stalin und dessen Terrorsystem. Es folgten weitere Bücher von Simonow und anderen Autoren, in denen das Leid und der Heroismus des einfachen Sowjetmenschen dargestellt wurden. Die Romane aus der Sowjetunion wurden statt der offiziösen Geschichtsdarstellungen gelesen. Die literarischen Texte erzählten jene Geschichten, die im Schulunterricht und in den Geschichtsbüchern der Sowjetunion wie der DDR nicht vorkommen durften. Auch wenn die deutschen Leser oder deren Väter auf der anderen Seite der Front gekämpft hatten, empfanden viele den russischen Soldaten als eine Art Kameraden auf dem Leidensweg des 20. Jahrhunderts.
Wolf Biermann hat in seinem »Wintermärchen« versucht, diesen Widerspruch in poetischen Metaphern zu erfassen. Während einer Reise von Berlin nach Hamburg im Jahre 1964 sieht er aus dem Zugfenster Soldaten der Sowjetarmee am Bahngleis stehen und Machorka rauchen. Sie waren die Befehlsvollstrecker einer Besatzungsmacht, die in ihrem Herrschaftsbereich jeden Widerstand unterdrückten, und doch waren sie auch die Befreier vom Faschismus.
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Schwanheide
ist der Grenzbahnhof
Die
Grenze selbst war kaum zu sehn
In
ihren Fingern hielten sie
Im
Weiterfahren dachte ich:
Im
letzten Krieg, im blutigsten
Für
nichts für altes und für mich |
Ich
salutiere innerlich
Euch
werd ich immer vorteilhaft
Der
Zottelbär, der russische
Wie
Becher ihn besungen hat
Genossen
mit dem roten Stern
Ihr
habt ja dem Heil-Hitler-Volk |
Ihr
exportieret ja nicht nur
Die
Macht des Proletariats
Die
ganze rote Richtung war
Von
damals noch ein Krüppel war
Wenn
ich wo Rotarmisten seh Wolf Biermann: Deutschland. Ein Wintermärchen, Kapitel V. Aus Nachlaß 1 von Wolf Biermann, © 1977 bei Kiepenheuer |
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Als es seit den fünfziger Jahren möglich wurde, mit Intourist die Sowjetunion zu bereisen, griffen viele DDR-Bürger in Ermangelung anderer Reisemöglichkeiten gern zu den Angeboten der staatlichen sowjetischen Touristikgesellschaft. Die Reiseziele waren so begrenzt wie die etwas attraktiveren Ferienplätze am Schwarzen Meer oder im Kaukasus. Es gab auch eine Menge Bürokratie, und die Gruppenreisen von Jugendtouristik waren mit ideologischen Belehrungen und offiziösen Freundschaftstreffen verbunden. Immerhin konnte man reisen, und es gab im Osten ein großes und interessantes Land zu entdecken.
So notorisch wie die Redereien über den Zustand der öffentlichen Toiletten im Wunderland des Kommunismus war die Erfahrung der russischen Gastfreundschaft gerade gegenüber Deutschen. Die Gruppenreisenden kehrten aus Moskau und Leningrad mit der Botschaft zurück: Die Russen sind ohne Haß gegenüber den Deutschen. Auch sie können sehr genau zwischen dem Hitlersystem und dem einfachen Soldaten unterscheiden, der in den Krieg geschickt wurde. Sie sind gegenüber den Verhältnissen in Deutschland voller Neugier und Aufgeschlossenheit.
Die Neugier war beiderseitig. Auch kritische Geister und heimliche Systemgegner in der DDR wußten, daß die Verhältnisse nur im Einvernehmen mit der Sowjetunion geändert werden könnten. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten gerade Intellektuelle immer wieder die Vorgänge in der Sowjetunion. Im Februar 1956 war es die berühmte Geheimrede Nikita Chruschtschows vor dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die auch in der DDR die Hoffnung auf bessere Zeiten nährte. Es war der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der mit seinem Roman »Tauwetter« der Periode ihren Namen gab.
Die Intellektuellen der DDR verfolgten sehr genau alle Vorgänge in der Sowjetunion. Anfang der sechziger Jahre begannen sowjetische Ökonomen über neue Modelle der Wirtschaftsführung nachzudenken. In der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei betrachtete man diese Diskussionen als grünes Licht für Wirtschaftsreformen, deren Ziel eine höhere Effizienz der Planwirtschaft war. Parallel dazu vollzog sich die zweite Phase der Entstalinisierung. In der Kulturpolitik gab es bemerkenswerte Lockerungen. Dies hatte durchaus Auswirkungen auf die DDR und die anderen kommunistischen Länder. Im Januar 1968 wurde in der Tschechoslowakei aus den vorsichtigen Reformen von oben eine gesamtgesellschaftliche Aufbruchsbewegung, welche die Macht der alleinregierenden Partei hinwegzuschwemmen drohte.
Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in Prag legten sich Resignation und gesellschaftlicher Stillstand wie Mehltau über das Sowjetimperium. Während der Perestroika, als in der Sowjetunion eine neuerliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begann, sprach man von der Periode der Stagnation. Doch diese Bezeichnung scheint die traurige Wirklichkeit auf unzulässige Weise zu beschönigen. In den langen Jahren der Senilität Leonid Breschnews schritt ein gesellschaftlicher Fäulnisprozeß voran, der die seltsamsten Sumpfblüten gedeihen ließ. Hinter der brüchigen Fassade der alten Ideologie und der überkommenen Machtansprüche vollzog sich die Vereinigung der herrschenden Nomenklatura mit der frühkapitalistisch agierenden mafiosen Halbwelt der »Neuen Russen«.
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Soldat
Soldat in grauer Norm
Soldat
Soldat, wo geht das hin |
Soldat,
Soldat (1963)
Soldat
Soldat, in grauer Norm
Wolf
Biermann: Alle Lieder, S. 103-104. |
Nach Breschnews Tod am 10. November 1982 lösten einander verschiedene Greise im Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei ab. Die Nachfolgekrise wurde zum Dauerzustand, und zu Recht wurde dies als Ausdruck der Unfähigkeit zu einer wirklichen Erneuerung empfunden.
Doch im März 1985 unterbrach der bis dahin vollkommen unbekannte und verhältnismäßig junge Michail Gorbatschow überraschenderweise die Herrschaftsfolge der Gerontokraten. Der Mann mit den freundlichen Augen und dem Muttermal auf der Glatze wurde in der DDR schnell populär — populärer, als er es in seiner Heimat jemals war. Die Reden klangen verheißungsvoll. Für manche DDR-Bürger schienen sich nun endlich die Träume von einem demokratischen und menschlichen Sozialismus zu verwirklichen.
Anderen erschienen die Redensarten von Demokratie und Umbau der Gesellschaft wie ein verwelkter Blumenstrauß einer längst vergangenen Liebe. Das Interesse an den Vorgängen in der Sowjetunion war jedenfalls ungeheuer groß. Wieder waren es vor allem Filme und Literatur, welche die Botschaft von »Glasnost« und »Perestroika« transportierten. Die beiden Begriffe gingen schnell in den deutschen Sprachgebrauch über. Besonders nach dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« wurden die deutschsprachigen Broschüren der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti zum Geheimtip. Die alte Parole »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« erhielt einen neuen ironischen Sinn.
Die Staatsmacht der DDR war bis in die Grundfesten verunsichert. Die Freundschaft zur Sowjetunion war bei allen ideologischen Wendungen und Verrenkungen immer die unabänderliche Größe gewesen. Nun stellte sich die SED-Führung unter Erich Honecker fast offen gegen die Sowjetführung. Was auch immer die Absicht der sowjetischen Reformer gewesen sein mag — Tatsache ist, daß sich die Russen dem Demokratisierungsprozeß in der DDR nicht in den Weg stellten. So konnte sich die Bevölkerung 1994 ohne übergroßen Schmerz, aber auch ohne Haß von den abziehenden Truppen verabschieden.
Wir wissen heute mehr über die Sowjetunion als die Jungpioniere, die vor einigen Jahrzehnten gläubig und ergriffen Blumensträuße auf die Gräber der Sowjetsoldaten gelegt haben. Wir wissen Bescheid über Heldenkitsch und über die Ästhetik der Stalinzeit, die in ihrer Verherrlichung des Todes fürs Vaterland der Ästhetik der besiegten Nazis so verdächtig ähnlich war.
Aus der Distanz der Jahre ist deutlich: Die Jungpionierparolen der frühen Jahre waren so brüchig wie die Granitplatten der Monumente des Heldengedenkens. Hinter der Fassade aus Marmor und Granit zerfraß der Rost die Stahlträger, die das Bauwerk zusammenhalten sollten. Und doch bleiben die Ikonen der Kindheit lebendig. In all unserem Wissen um die historischen Zusammenhänge gedenken wir in Achtung und Trauer der sowjetischen Soldaten, die in einem Krieg gegen die faschistische Tyrannei starben und die hier in fremder Erde begraben liegen.
Wir erinnern uns an die olivgrün uniformierten Fremden in unserem Land und gedenken mit Respekt jenes Rußlands, das 1989 über den eigenen Schatten der machtpolitischen Ambitionen und der Welterlösungsideologie sprang und sich der Einheit und Freiheit der Deutschen nicht in den Weg stellte.
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