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SCIENCE FICTION  oder WISSENSCHAFTLICHE PHANTASTIK 

Was ist das eigentlich? 

 

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Wenn heute jemand über wissenschaftliche Phantastik oder Science Fiction schreibt, gerät er unweigerlich in die Zwangslage, darzulegen, was er darunter versteht. Die Vorstellungen von SF sind so verschiedenartig, daß es nahezu gegensätzliche Definitionen oder wenigstens Umschreibungen des Gegenstands gibt. Eine kleine Auswahl mag das zunächst dokumentieren.

eike barmeyer schränkt Science Fiction ein und sieht in ihr lediglich «eine exemplarische Massen- und Markt­literatur, Bestandteil der Unterhaltungs­industrie, wenn auch ihre Möglichkeiten über die Unterhaltungs­literatur hinausweisen». (8, 9)

kingsley amis versteht unter SF Erzählprosa, «die eine Situation so darstellt, wie sie sich in der Realität nicht ereignen kann. Vielmehr wird eine Situation hypothetisch angenommen, die auf der Basis einer Erfindung in Wissenschaft oder Technik oder Pseudowissenschaft oder Pseudo-Technik beruht und die menschlichen oder außermenschlichen Ursprungs sein kann.» (vgl. 44, 10)

In «The Reader's Encyclopaedia of American Literature» wird betont, daß es sich um ein «Kurzgeschichtenmedium» handele, «in dem das anscheinend Unmögliche durch Zitieren angeblich wissenschaftlicher Hypothesen und Entdeckungen bisher unbekannter mechanischer Kunstgriffe als möglich dargestellt wird. Science Fiction ist meist ein Traum von der Zukunft, manchmal geht er in Erfüllung.» (vgl. 44, 9)

     

Kopplungsmanöver

von Raumschiffen. 

Gemälde von Andrej Sokolow

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Dem steht dieter hasselblatts Auffassung entgegen: «SF entwirft keineswegs Zukunft, sondern Alter­native, sie springt in die andere Wirklichkeit, sie meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. Man sollte SF nicht im Hinblick auf Zukunft lesen, sondern im Hinblick auf Möglichkeiten ...» (49, 19 f.)

Nach Ansicht des jugoslawischen Literaturwissenschaftlers Darko Suvin ist die SF «ein literarisches Genre, dessen notwendige und hinreichende Bedingung das Vorhandensein und das Aufeinanderwirken von Verfremdung und Erkenntnis sind, und deren formaler Hauptkunstgriff ein imaginativer Rahmen ist, der als Alternative zur empirischen Umwelt des Autors fungiert». (120, 27)

Hans-Jürgen Krysmanski wiederum glaubt, sich dem Phänomen Science Fiction von der Utopie des 20. Jahrhunderts her nähern zu können, und führt den Begriff der «utopischen Methode» in die Diskussion ein. (71)

Energisch erklärt Bernd Ulbrich, ein SF-Autor der DDR: «Was soll SF? Vor allem Literatur sein ... Die Fiktion, der ein Narr oder cleverer Geschäftsmann das Prädikat Science beigegeben hat, kommt ohne jede Prädikatisierung aus, ja, ich meine, eine solche fügt ihr Schaden zu und engt sie ein.» (122, 163) Seiner Meinung nach ist das Dilemma durch Einführung des Begriffs «der wirklichkeitsüberschreitenden Verfremdung» zu lösen. (122, 162)

Peter Wilfert, Lektor des renommierten Goldmann-Verlages in der BRD, bringt folgenden Vorschlag ein:

«Die Unterscheidung der drei Sparten phantastischer Literatur, nämlich Horror, SF und Fantasy, hat bisher am konsequentesten der russische Literaturwissenschaftler Jurij Lotman in einein kleinen Aufsatz vollzogen ... Kurz und schematisch dargestellt, geht es um die Abbildungsrelation zwischen einem Element (Wesen, Ort, Erkenntnis) der realen Alltagswelt des Lesers und einem Element des fiktiven Systems innerhalb der Romane. Die Horror-Literatur beschreibt im Roman zuerst die reale Welt und dann, wie in diese ein dahinterliegender übernatürlicher Kosmos mit Gespenstern und Dämonen einbricht, deren Existenz ja die reale Welt negiert. Science Fiction entwirft eine nichtreale Welt, in der aber Elemente der Lebenserfahrung des Lesers — nur weitergedacht und in die Zukunft verlegt — ihren Platz haben. Fantasy, zumindest in ihrer genuinen Form, zeigt nur eine nicht-reale Welt ohne Bezüge zu unserem lebensweltlichen Kosmos. Schauplatz, Zeit und Figuren dieser Romane sind ohne Bezug zur Erfahrung des Lesers. Der Autor schafft hier sein eigenes System von Wahrheiten, das keine empirische Grundlage mehr besitzt.» (133, 1862)

In seinem Roman «Die Stimme des Herrn» läßt Stanislaw Lem den Wissenschaftler Dr. Rappaport amerikanische Bücher des Genres lesen, «das durch eine hartnäckige Verkennung der Tatsachen Science Fiction genannt wird». (81, 143) Die Enttäuschung über die Eintönigkeit der Bücher wird vom Ich-Erzähler Peter Hogarth mit einem Mißverständnis erklärt: «Die Autoren der pseudowissenschaftlichen Märchen bieten dem Publikum das, was es selber haben will.» (81, 143)

Von da ist es nur noch ein Schritt zu der polemischen Feststellung von Michael Pehlke und Norbert Lingfeld: «Zur Science Fiction ist zu rechnen, was die Verlage unter diesem Namen auf den Markt werfen.» (100, 16)

Da gibt es Vorschläge zur Überwindung der Misere und zur Erneuerung der wissenschaftlichen Phantastik als «Science Creation» (60, 27), aber auch heftige Angriffe und Verdammung als «Science-triction» (124,39).

Diese Unsicherheiten und Auffassungsunterschiede sind darin begründet, daß Science Fiction eine historische Erscheinung ist. Sie formiert sich unter konkreten kulturhistorischen Bedingungen, sie baut auf bestimmten Traditionen auf, hat geschichtlich weit zurückreichende Wurzeln. Während ihres Entwicklungsprozesses treten bestimmte charakteristische Elemente mit der Zeit zurück, andere gewinnen an Bedeutung. Die SF erreicht bestimmte Höhepunkte, es treten markante Wendungen hervor, Etappen des Aufstiegs wechseln mit solchen der Stagnation und des Rückgangs. Sie ist in diesem historischen Prozeß einem kleinen Bach vergleichbar, der aus verschiedenen Quellen entspringt.

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Eine Venusstadt. Gemälde von andrej sokolow

Er windet sich dahin, wird — durch Zuflüsse gestärkt — zum Fluß, bildet Einzelarme aus, die wieder zurückführen zur Hauptströmung. Ab und zu erweisen sich solche Nebenarme als tot. In manchen steht das Wasser als trübe, übelriechende Lache. Doch unaufhaltsam wächst der Fluß an, so daß er im Laufe der Jahrhunderte schließlich zu dem breiten, kaum noch überschaubaren Strom wird, als den wir ihn heute kennen.

Welche Position kann man nun selbst einnehmen bei dem Versuch, einen Abriß der wissenschaftlich-phantastischen Literatur zu schreiben? 

Eine allgemeingültige Definition für alle diese Werke zu geben ist unmöglich. Eine solche Darstellung muß m.E. den geschichtlichen Wandel an wesentlichen Werken und Autoren vorführen bzw. für die Gegenwart — bei der nahezu unübersehbaren Fülle von SF-Literatur — anhand bestimmter Themen, Topoi und Motive die wichtigsten Tendenzen demonstrieren.

Eine weitere Prämisse: die aufzuführenden Werke müssen eindeutig der Phantastik zuzuordnen sein. Das weisen eigentlich schon die im allgemeinen synonym gebrauchten Bezeichnungen Science Fiction und wissenschaftliche Phantastik aus. Die Schwierigkeit besteht nur darin, daß die Grenzen des Begriffsinhalts und -umfangs von «Phantastik» sehr verschwommen sind.

Stanislaw Lem stellt beispielsweise Überlegungen über phantastische Objekte an: «So sind z.B. ein Zwerg, ein Bewohner des Jupiter oder eine fliegende Schnecke Begriffe nicht existierender, aber phantastischer Dinge. Afrikanische Götter, zweiköpfige Hunde oder Computer, die Menschen hypnotisieren können, sind dagegen Begriffe existierender Dinge ..., die dennoch von vielen für phantastisch gehalten werden.» (78, 5)

In des Mondes Nähe. Gemälde des Kosmonauten A. Leonow.

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Phantastisch können also nicht-existierende Objekte sein, aber auch solche, an deren Existenz man sich noch nicht gewöhnt hat, oder solche, die einem uns fremden Kulturkreis angehören, oder überhaupt nur potentiell mögliche Dinge u.a.m.

In jüngster Zeit haben zwei Autoren unterschiedlicher Literaturbereiche und aus den beiden großen Gesellschaftssystemen unserer Zeit Meinungen zur Phantastik geäußert, die wir teilen. Der kirgisische Schrittsteller Tschingis Aitmatow hat im Zusammenhang mit seinem Roman «Der Tag zieht den Jahrhundertweg» bekannt: 

«Was die Bedeutung phantastischer Fiktion betrifft, so hat bereits Dostojewski geschrieben: <Das Phantastische in der Kunst hat Grenzen und Regeln. Das Phantastische muß sich so eng mit dem Realen berühren, daß es nahezu glaubhaft wird.>  Dostojewski hat das Gesetz des Phantastischen exakt formuliert. In der Tat: ob es die Mythologie aus alter Zeit ist, der phantastische Realismus von Gogol, Bulgakow, Garcia Marquez oder die wissenschaftliche Phantastik — bei all ihrer Unterschiedlichkeit überzeugen sie gerade kraft ihrer Überschneidungen mit dem Realen. Das Phantastische überhöht gewisse Seiten des Realen und zeigt sie, gestützt auf seine <Spielregeln>, philosophisch verallgemeinert, darum bemüht, ihr Entwicklungspotential maximal zu enthüllen.» (2, 7 f.)

Von diesen Überlegungen her kommt er zu folgender Bestimmung: «Das Phantastische ist eine Metapher des Lebens, das sich mit seiner Hilfe unter neuem, unerwartetem Blickwinkel darbietet. Besonders unentbehrlich wurden die Metaphern in unserem Jahrhundert, und das nicht nur, weil wissenschaftlich-technische Errungenschaften in das Gebiet der Phantastik von gestern eindrangen, sondern vor allem, weil die Welt, in der wir leben, phantastisch ist — zerrissen von ökonomischen, politischen, ideologischen und rassischen Widersprüchen.» (2, 8)

Ungefähr gleichzeitig hat sich die berühmte amerikanische SF-Autorin Ursula K. LeGuin im Vorwort zu ihrem Roman «Winterplanet» dagegen ausgesprochen, Science Fiction als «extrapolative Literatur» zu definieren. Sie bestimmt ihr Werk als «ein Gedankenexperiment», dessen Zweck es ist, «die Realität, die gegenwärtige Welt zu beschreiben» (83, 179). «Science-Fiction sagt nicht vorher, sie beschreibt.» (83, 180) Dann spezifiziert sie das genauer und kommt zu dem Schluß: «Alle belletristische Literatur ist eine Metapher, ebenso sind es eine alternative Gesellschaftsform, eine alternative Biologie; auch die Zukunft ist eine. In der Literatur ist die Zukunft eine Metapher ...» (83, 182)

Ein SF-Film nun auch als Comic.

Zwischen den Metaphern anderer phantastischer Genres und denen der Science Fiction gibt es eine Fülle von Übergängen, ja selbst beim gleichen Autor gehen die Formen häufig ineinander über, so daß eine exakte Scheidung nicht immer eindeutig möglich ist.

Als Faustregel mag gelten: SF unterscheidet sich von den anderen phantastischen Genres durch die Eigentümlichkeit, die mit den Beiwörtern «wissenschaftlich» bzw. «science» bezeichnet wird. Die Metaphern des Lebens werden in der Science Fiction (pseudo)wissenschaftlich eingekleidet. 

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Kann im Märchen die Hexe einfach auf einem Besen reiten oder ein Ring alle Wünsche erfüllen, so wird in der wissenschaftlichen Phantastik versucht, den jeweiligen Vorgang zu begründen und auf eine solide Basis rationaler Erklärungen zu stellen, indem man technische, naturwissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse heranzieht oder «erfindet». Gerade in unserem Jahrhundert sind mit der immer stärkeren Differenzierung des geistigen Lebens der Menschen weitere und neue Wissenschaftsdisziplinen an der Glaubwürdigmachung der phantastischen Metaphern beteiligt, so z.B. die Kybernetik, die Elektronik, die Psychoanalyse.

Gegenwärtig existieren unter Wissenschaftlern, die sich mit SF beschäftigen, drei unterschiedliche Positionen über den Zeitpunkt, an dem dieses Genre in der Literatur in Erscheinung tritt. Die einen setzen SF mit der phantastischen Literatur aller Völker und Zeiten gleich und beginnen demzufolge mit Mythen, Märchen und den ersten greifbaren Zeugnissen der frühen Menschheits­vergangenheit. Eine völlig entgegengesetzte Meinung wird von denen vertreten, für die die Geschichte der SF mit dem Entstehen des Begriffs beginnt, ungefähr 1929, als Hugo Gernsback den Terminus prägte

Solche Darstellungen haben dann erhebliche Schwierigkeiten mit Autoren wie Verne und Wells (ja selbst mit Gernsbacks schon vor dem ersten Weltkrieg erschienenen Roman «Ralph 124 C41 plus»). Ausklammern möchte man sie nicht. Daher bezieht man sie dann als Vorläufer oder unmittelbare Bahnbrecher doch mit ein. 

Eine dritte Gruppe setzt SF gleich mit literarischen Erscheinungen, die im Zusammenhang stehen mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Die wenigsten innerhalb dieser Gruppe gehen allerdings so willkürlich vor wie Brian Aldiss, der zunächst durch seinen Titel «Der Millionen-Jahre-Traum» auf die lange Geschichte hinweist, dann jedoch subjektiv den Beginn der SF mit dem Jahre 1818 festlegt, weil damals Mary Shelleys «Frankenstein» erschienen ist.

Unserer Meinung nach entsteht SF in der Epoche, in der natur- und vor allem gesellschafts­wissen­schaft­liche Fragestellungen, Probleme, Errungenschaften, Erkenntnisse und Möglichkeiten in die traditionelle Phantastik eindringen. Diese Tendenz entwickelt sich während der Renaissance. Deshalb setzt unser Abriß mit jenem bedeutsamen Abschnitt unserer Geschichte ein, in dem der Mensch sich seiner selbst bewußt wird, in dem er aufbricht in unbekannte Weiten und die Natur immer umfassender für seine Zwecke umgestaltet. 

Die phantastischen Quellen, Vorläufer und Traditionen werden nicht explizite behandelt, sondern an geeigneten Stellen im Vergleich mit einbezogen, so daß auch dadurch deutlich wird, wie sich SF selbst bei Benutzung tradierter Motive und Themen von der Phantastik der vorwissenschaftlichen Zeitalter, aber auch einiger neuerer Erscheinungsformen unterscheidet.

Die Science Fiction tritt in die Geschichte der Kunst als Prosaliteratur ein. Im Laufe der Jahrhunderte werden jedoch die Grenzen zu anderen literarischen Gattungen genauso überschritten wie zu anderen Künsten. Daher begegnet uns wissenschaftliche Phantastik in Form von Romanen, Erzählungen, Novellen, Kurzgeschichten, Skizzen, Märchen, aber auch von Gedichten, Hörspielen, Dramen, Fernsehspielen, Filmexposes. Werke der Malerei, der Musik, des Films, der Plastik sind ebenfalls zu erwähnen. Die Spannweite reicht von humanistischen Werken der Weltliteratur bis zu banalen, seichten, ja inhumanen Produkten im untersten Trivialbereich.

Diese Vielfalt macht die historisch ordnende Darstellung so schwierig, ist zugleich aber für die Leser von ungeheurem Reiz.

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