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Liebe und Utopie

 Denn alle Lust will Ewigkeit

  Interview - Gambaroff 

Jeder von uns ist ein Engel mit nur einem Flügel. Und wir können nur fliegen wenn wir uns umarmen.  --Luciano de Crescenzo--

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»Schicksal ist das, was beim Dividieren nicht aufgeht und was zurückbleibt ... Wolke, Staub, Sturm, Erkältung, Dschungel und Ähnliches«, heißt es in Franz Werfels <Stern der Ungeborenen>. Und »Ähnliches« ist die Liebe. 

Weil in utopischen Staatsromanen alles beim Dividieren aufgehen muß, hat man die Liebe abgeschafft. Das heißt natürlich nicht, daß die Utopier sich hassen — das wäre ja nun wirklich gegen alle Regeln —, aber ein bißchen gefühlskalt sind sie schon. Die Liebe wurde, frei nach H.G. Wells, gebürstet und gereinigt, auf Milchdiät gesetzt, in ihrer Wildheit gedämpft und so zum Liebling und zur Zierde Utopias.

In Skinners <Futurum 2> herrscht Ratlosigkeit: »Was ist das, Liebe? ... Doch nur ein anderer Name für die Anwendung von positiver Verstärkung.« In Cabets <karien> wird eine unpassende Neigung sogleich durch »Vernunftszuspruch« erstickt, und »ein Emporlodern und Überbrausen der Leidenschaft und der Begierde ist hier zu Lande vor der Heirath nicht gut möglich, denn hier beaufsichtigen sich alle gegenseitig«

Liebe ist anarchistisch, sie sprengt Fesseln, überschreitet Grenzen. In <1984> werden Winston Smith und Julia wegen dieses revolutionären Verbrechens vernichtet. »Mit größter Sorgfalt verhindern wir, daß ein Mensch den anderen zu sehr liebt«, sagt Mustafa Mannesmann in <Schöne neue Welt>, ein Satz, der allerdings genauso gut in einer positiven Staatsutopie stehen könnte. 

Auch der beste aller Staaten kann die leidenschaftliche erotische Liebe nicht brauchen, weil sie mehr will als einen idealen Staat. Kann es wirklich der Sinn der Liebe sein, sie möglichst unschädlich zu machen? Viele Menschen brauchen dazu gar keinen Staat, sondern besorgen es schon selber.

Das Wesen der Liebe aber ist Grenzüberschreitung, und nur wer selber nicht aus seiner Haut kann, hält das für Sünde. Zerstörerisch wird die Grenzüber­schreitung erst, wenn künstlich errichtete Mauern niedergerissen werden müssen. Läßt man die Liebe frei, führt sie nicht ins Chaos, sondern in eine Ordnung, allerdings in eine höhere als die der Konvention.

Alle Menschen wollen lieben; wer es nicht will, wollte es einmal und ist enttäuscht worden. Die Liebe ist daher die größte persönliche Utopie, gleichzeitig intim und universal. 

 

In Platons <Symposion> findet sich der Mythos von den Kugelmenschen: Ursprünglich gab es drei Geschlechter, Kugeln, die aus zwei Frauen oder zwei Männern oder einem Mann und einer Frau zusammengesetzt waren. Weil die Kugeln zu mächtig wurden und die Götter stürzen wollten, teilte Zeus sie wie Früchte in zwei Hälften. Seitdem laufen die Menschen umher und suchen sehnsüchtig ihre passende Hälfte ... »Die Erzeugung und Geburt im Schönen« ist für Platon der Sinn der Liebe, der körperlichen und der seelischen. Die Erzeugung ist das Ewige, das Unsterbliche im Sterblichen. Also zielt die Liebe auf Unsterblichkeit.

Steigt für Platon die Liebe auf einer Art Himmelsleiter von unten nach oben, so realisiert sie sich in der östlichen Weisheit in der Spannung zwischen zwei Polen, dem Yin und Yang, dem Weiblichen und dem Männlichen, der Erde und dem Himmel. Das Ganze, das Vollkommene entsteht durch das Gleichgewicht beider Kräfte.

Für Sam Keen ist unsere »erotische Unordnung« die Ursache für unsere ökologische Krise; die Entfremdung von Körper und Natur hat dieselbe Wurzel. In seinem Buch Die Lust an der Liebe engagiert sich Keen für die Wiedereroberung der Liebe: Der Mensch wird als kindliches »Lustbündel« geboren, wird zum jugendlichen Rebellen und Romantiker, zum pragmatischen Familiengründer und im günstigsten Fall zum Ich-Sucher und Abenteurer. In jeder dieser Phasen kann er verharren, kann er verantwortungslos, depressiv oder machtgierig werden. Doch selbst wenn er alle diese Stadien gut bewältigt — das wirkliche Ziel des Lebens ist es, ein Liebender zu werden. Und das bedeutet mehr, als Sex, Sentimentalität und familiäre Geborgenheit zu genießen.

Die Liebe drückt sich für Keen in verschiedenen Schichten aus: im eigenen Körper, in der Familie, in Freundschaft, aber auch in der Politik, in Technologie und Ökologie und schließlich in der Mystik. Alle diese Schichten gehören eng zusammen, es gibt keinen >privaten< Bereich, in den die Liebe gehört, und keinen öffentlichen, in dem sie nichts zu suchen hat. Kein Liebender kann seine Gefühle abgrenzen — alles ist miteinander verbunden.

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Interview mit Marina Gambaroff  

 

Über das Thema »Liebe und Utopie« sprachen wir mit Marina Gambaroff. Marina Gambaroff, geboren 1943, studierte Psychologie und Theaterwissenschaften. 1972-1975 war sie Mitarbeiterin an der Psychosomatischen Klinik Gießen, Ausbildung zur Psychoanalytikerin. 1975 Niederlassung mit freier Praxis, seit 1984 in Frankfurt. Dozentin am Gießener psychoanalytischen Institut. Veröffentlichungen in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften. 1984 erschien ihr Buch <Utopie der Treue>.

 

1)  Die Grundvorstellung von Liebe ist wohl eine Symbiose- und Verschmelzungsphantasie. 

Ich würde sagen, ja und nein. Sicher, es gibt diese Verschmelzungsphantasie: wenn alle Gegensätze aufgehoben sind und das Gefühl der Vollständigkeit und der Beseeligung über das Ineinanderfließen entsteht. Ich glaube aber, daß es auch einen anderen Bereich gibt, der sich vielleicht, durchaus parallel mit diesem symbiotischen Erleben, herstellen läßt. Und das ist das Erleben der Andersartigkeit des anderen.

2)  Sie meinen als Glücksgefühl, nicht aus realistischer Notwendigkeit? 

Ja, und zwar deswegen, weil ich glaube, daß man in der Andersartigkeit des anderen erstens sich selbst sehr stark zu fühlen beginnt, daß das Selbstgefühl dann etwas Beglückendes wird und der andere in seiner Konturiertheit plötzlich so etwas wie ein Geschenk wird.

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Und dann glaube ich zweitens, daß es Momente erotischer Begeisterung gibt, in denen es zu einem Umschlag kommt: Wo das Verschmelzen und das Andersartigsein sich nicht mehr unterscheiden lassen, wo sozusagen eine neue Dimension erreicht wird, in der dieser Gegensatz keine Rolle spielt und aufgehoben ist.

3)  Also wäre das eine Utopie der Liebe, daß beides da ist: das Verschmelzen und das Gegenüberstehen - und daß daraus etwas Drittes wird.

Dieser dritte Zustand dürfte etwas sehr Unpersönliches sein. Ich will das einmal ganz naiv formulieren, auch mit einer gewissen Scheu, weil ich finde, daß das ein sehr empfindsamer Bereich ist, der mit Worten sehr schwer zu fassen ist. Wenn man ihn erleben kann, ist er ja auch beinahe unfaßlich oder fast unglaublich. Ich glaube, daß die erotische Liebe zwischen zwei Menschen einer der Wege ist, um das Prinzip Liebe überhaupt zu erfahren, doch daß das Prinzip etwas ist, das letzten Endes gar nichts mehr mit den Personen zu tun hat, denn es führt schon mehr in die spirituelle Seinserfahrung hinein. 

4)  Also könnte man andersherum auch sagen, daß die Utopie der Liebe eigentlich eine Transzendenz, ein Überschreiten der Liebe ist.

Ein Überschreiten, und daß sich deshalb vielleicht so viele nach dieser Erfahrung sehnen. Obwohl man ja nicht weiter beeinträchtigt ist, wenn man nicht liebt, ist es doch erstaunlich, mit welch intensiver Sehnsucht Menschen Liebe anstreben. Wahrscheinlich haben wir alle eine unbewußte Vermutung oder Ahnung, daß die Liebe zwischen zwei Individuen ein Weg sein könnte, der zur Transzendenz führt.

Die Erfahrung zeigt jedoch, daß sehr viele oder die meisten in diesem Gerangel hängen bleiben, in den mit jeder Liebe entstehenden alltäglichen Verwirrungen.

Ich glaube also, daß die höchste Beglückung letzten Endes, wenn man mutig genug ist, nicht in der individuellen Liebe liegt, sondern in der Transzendenz der individuellen Liebe hinein in einen Raum, der sozusagen ein Zipfelchen des Göttlichen zu sehen ermöglicht. Mit dem Tantra als Kult der Ekstase gibt es ja einen schon seit Jahrtausenden beschrittenen Weg über die Sexualität hinaus in etwas hinein, das mit individueller Beziehung nichts mehr zu tun hat.

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Und darin läge ein Bezug zu meiner Utopie von Liebe, wobei ich jetzt nicht sagen will, daß unbedingt Tantra der Weg sein muß. Tantra ist ein Bild, in dem, so finde ich, sehr schön deutlich wird, daß die Vereinigung von Mann und Frau, die gemeinhin als eine ganz private Sache angesehen wird, bei der zwei Menschen Spaß aneinander haben, in etwas anderes hineinführt.

Das hat sicher mit der New-Age-Bewegung zu tun, mit dem recht eigenartigen Sektenboom. Die New-Age-Bewegung und der Sektenboom unserer Tage machen deutlich, daß es ein starkes Bedürfnis nach spirituellem Erleben gibt, das völlig verschüttet ist.

 

Mir fällt auf, daß Sie inhaltlich gegen die traditionelle Psychologie oder Psychoanalyse argumentieren. Es macht nachdenklich, mit welcher Kälte die psychoanalytische Literatur von Liebe redet, zum Beispiel Freud: Ich weiß nicht, ob das Wort Liebe überhaupt bei ihm vorkommt, aber wenn, dann sicherlich nur in einem ganz gefühlskalten Sinn. Haben die Psychologen eingesehen, daß ihr mechanistisches Bild von Beziehungen zwischen den Menschen doch nicht ausreicht?

Ich weiß nicht, ob dies die Psychologen oder die Psychoanalytiker im allgemeinen eingesehen haben. Ganz persönlich vermisse ich in der psychoanalytischen Literatur, soweit ich sie kenne, eine Beschäftigung mit mystischen Erfahrungen. Freud war immerhin so ehrlich, daß er gesagt hat:

Das ozeanische Gefühl kenne ich nicht. Ich habe den Eindruck, daß in der Geschichte der Psychoanalyse die Beurteilung derartiger Erlebnismöglichkeiten und Erlebniserweiterung eher pathologisiert, also als krankhaft abgetan wird. Das Ganze wird im negativierenden Sinn dem narzißtischen Bereich zugeschlagen. Das sind dann eben Menschen, die mit ihrem Größen selbst Verschmelzungserlebnisse haben, die im Grunde unreif sind. In dieser Beziehung vermisse ich tatsächlich viel in der Psychoanalyse.

 

Es heißt ja auch in der Psychoanalyse: Symbiose oder symbiotisches Verlangen und eben nicht Verschmelzung. Das ist doch verächtlich gemeint.

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Oder anders ausgedrückt: Die Sehnsucht nach Verschmelzung wird sofort als unreif abgewertet, als infantil und als Stufe, die man überwinden muß.

Sie wird sehr früh angesiedelt, sehr prägenital, und daher dem oralen oder gar präoralen Bereich zugeschlagen. Die humanistische Psychologie ist da einen Schritt weiter gegangen.

 

Freud sagt, das Ziel der Psychoanalyse sei, die Menschen arbeits- und liebesfähig zu machen. Was versteht er denn eigentlich unter liebesfähig?

Daß es darum geht, überhaupt eine Beziehung zu einem anderen Menschen aufrechtzuerhalten, die im wesentlichen durch zärtliche und libidinöse Strebungen charakterisiert ist, in der die aggressiven Impulse nicht die Oberhand gewinnen, in der auch ein Moment der Stabilität eine Rolle spielt und vielleicht die Flucht nicht immer wieder nötig ist.

 

Diese Definition ist sehr gemäßigt und weit entfernt von der Utopie des »dritten Zustandes«, die Sie vorhin entwickelt haben. Sind viele oder vielleicht sogar die meisten Menschen schon gestört darin, eine solche Utopie überhaupt zu haben? Woran liegt es, daß wir nicht einmal mehr die Utopie haben können — ganz abgesehen von der Chance ihrer Verwirklichung?

Es liegt an unserer Ängstlichkeit. Ich glaube - und das ist jetzt eine sehr schwerwiegende Behauptung —, daß man nur dann wirklich lieben kann, wenn man bereit ist, relativ viel Angst auf sich zu nehmen, weil, ich sage das jetzt einmal so dahin, Liebe ein ziemlich einsames Geschäft ist. Man muß einfach bereit sein, jemanden zu lieben, und dabei das Risiko eingehen, daß von ihm eventuell gar nichts zurückkommt. Andererseits möchte ich auch sagen, daß immer dann, wenn man dieses Risiko eingeht, sehr viel zurückkommt.

 

Paradoxerweise gehen ja viele dieses Risiko viel eher ein, nämlich an jemanden >hinzulieben<; es scheint irgendwo ja auch ungefährlich, denn man hat die Sache dann total in der Hand. Die wirklich schwierigen und gefährlichen Dinge sind doch die, bei denen vielleicht nicht das gleiche zurückkommt, wo aber doch eine Enge zwischen zwei Menschen ist.

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Ja, das ist die andere Seite. Es gibt sicherlich verschiedene Formen von Angst in der Liebe. Die eine Form der Angst ist: Ich liebe, es wird nicht erwidert, und ich stehe allein da mit meiner Liebe. Die andere Angst ist: Ich liebe und bekomme tatsächlich eine positive Antwort darauf; dann entsteht ja erst der intensive Kontakt, und enger Kontakt macht mir so viel Angst, daß ich weglaufen möchte. Das sind zwei verschiedene Formen, sicherlich auch psychodynamisch verschiedene Ebenen, auf denen sich diese Leute befinden, die das so oder so für sich erleben.

Mir ist einmal aufgefallen (ich habe es nicht nachgeprüft, aber ich vermute, daß es trotzdem richtig ist), daß das Wort »allein« mit »alleinig« zu tun haben muß; wenn man sich mit allem verbunden fühlt, kann es einem doch eigentlich nur gut gehen, und trotzdem haben wir so viel Angst vor dem Alleinsein, weil wir es offensichtlich immer als Isoliertsein verstehen.

Ich denke, daß eine beglückende Liebe den Menschen dazu instand setzt, dann auch die Bäume oder die Steine, die Häuser oder die Tiere oder andere Menschen zu lieben, als würde irgend etwas in ihm geöffnet werden. Auch das ist ein Paradox: das Alleinseinkönnen und die Liebe zu jemand anderem, also das Nicht-Alleinsein - beides bricht etwas auf.

Für einige ist es sicher leichter, an jemanden >ranzulieben<. In einem ganz banalen Bild: das junge Mädchen, das irgendeinen Mann anschwärmt, doch wehe, er wendet sich ihr zu, dann kriegt sie nämlich die Panik. Solange er ein ferner Schwarm bleibt, ist das Gefühl, das da fließt, mit Sicherheit auch Liebe; gleichzeitig kann man sagen, es ist eine ganz unreife Form von Liebe. Trotzdem ist es ein gewaltiges, ein anarchisches Gefühl und zugleich etwas, das dem Mädchen die Welt aufreißt oder sie verändert.

 

Utopie der Liebe: Damit verknüpft sich die Erwartung, gerade nicht mehr einsam zu sein.

Nein, einsam nicht, aber alleinsein zu können, halte ich für die Liebe für ungeheuer wichtig. Ich glaube wirklich, daß man nur lieben kann, wenn man auch alleinsein kann, und das ist wahnsinnig schwer; darum meinte ich vorhin, Liebe sei ein schweres Geschäft.

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Außerdem meine ich, daß eine gute Voraussetzung für die Liebe, also auch für das, was Balint unter »genitaler Eroberungsarbeit« versteht, die Tatsache ist, daß das Selbstwertgefühl einigermaßen stabil ist. Dieses permanente »Liebst du mich?« oder »Gib mir Versicherung darüber, wer ich bin« oder »Halte mich« – wenn die Liebe dazu mißbraucht wird, bedeutet das eher Abstriche.

Andererseits ist es natürlich eine Utopie, alleinsein zu können, sich soviel Wert beizumessen, daß man sich mit einer großen Sicherheit an die >Eroberungsarbeit< machen kann und nicht ständig in Skrupel, seien sie auch unbewußter Art, zurückfällt, sich immer wieder zu fragen: Darf ich das, kann ich das, bin ich das wert, werde ich überhaupt eine Resonanz haben? Also: Mut, Risikobereitschaft, die Fähigkeit, alleinsein zu können, ohne sich zu isolieren, und im Grunde auch der Mut, sich so auszudrücken, wie man gerade fühlt — das sind sicherlich gute Bedingungen, um die Liebe zu erleben, wenn auch nicht gerade einfache.

Andererseits möchte ich sagen, daß auch der verklemmteste Mensch die Kapazität zur Liebe hat. Es ist merkwürdig, aber im Grunde schwanke ich immer hin und her zwischen einer Idealvorstellung davon, wie man sein müßte, um lieben zu können, doch gleichzeitig weiß ich auch, und das ist wahrscheinlich das Eigentümliche an der Liebe, daß sie etwas ist, das vermutlich jeder Mensch, und sei es auch in der verdrehtesten Form, erleben kann. Es ist mit Sicherheit eine Qualität, die wir uns alle teilen, ähnlich wie irgendwelche Mystikerinnen oder Mystiker von ihren Erlebnissen sagen, daß sie vor Liebe vergingen, und im Grunde ganz erotische Bilder dafür benutzen; das ist vielleicht für Menschen der adäquateste Ausdruck von Liebe, die starke Erotik.

Wenn man diese Texte liest, hört es sich so an, als würde durch ihre Verfasser etwas hindurchgehen, das mit der Person gar nichts mehr zu tun hat. Man wird zum Gefäß von etwas. Das meinte ich vorhin mit »überpersönlich«.

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Als ein Ideal der Liebe gilt auch, daß man den anderen hundertprozentig so akzeptiert, wie er ist. Das soll geradezu das Kennzeichen der Liebe sein. Würden Sie das ebenso sehen oder meinen Sie, daß Liebe auch gewisse Ansprüche an Veränderung des anderen stellen darf?

Bei all diesen Fragen gibt es wohl nur paradoxe Antworten. Ich glaube, daß es zur Liebe dazugehört, zu sagen: Ich bin froh, daß es dich gibt, so wie du bist. Und daß du da bist, so wie du bist, ist gut. Also ein grundsätzliches Akzeptieren der Existenz und der Form des anderen. Das ist etwas ungeheuer Wichtiges, aber sicherlich ist genauso wichtig, dem anderen dann auch klarzumachen — und das ist eben oft die Krux: ressentimentfrei und ohne eine bereits angestaute Irritation und Zorn klarzumachen —, was einem nicht so gut an ihm gefällt. Das finde ich mit am schwierigsten, jedenfalls für mich persönlich.

Ich weiß ganz genau, daß zur Liebe auch der Haß gehört; je klarer man dem anderen seinen Haß zeigen kann, desto mehr ist das auch die Liebe, so meine ich jedenfalls. Liebe ist Offenheit, und wenn die Gefühle klar sind, unverstellt, dann können es auch negative Gefühle sein.

Nicht umsonst spricht man im Tibetanischen Totenbuch davon, das klare Licht der Leere zu erreichen. Die Klarheit muß etwas zu tun haben mit einer großen Ruhe, die sozusagen alles annimmt, egal, welche Ausstülpungen von Gefühlen da gerade präsent sind. Das ist allerdings eine Utopie, die furchtbar schwer zu leben ist - in aller Klarheit jemandem zu sagen: ich liebe dich, und in aller Klarheit demselben zu sagen: das hasse ich an dir oder das mag ich nicht. Die Klarheit in der Liebe wie die Klarheit im Haß – das ist die Liebe.

 

Der Psychoanalytiker Michael Balint bezieht in seine Vorstellung der »genitalen Liebe« die Auseinander­setzung mit der äußeren Realität mit ein. Vielleicht könnten wir jetzt unsere Utopie der Liebe unter Einschluß des »Realitäts­prinzips« erweitern.

Ich würde unter genitale Liebe rechnen, daß man in der Lage ist, zu ertragen, daß der andere etwas völlig konträr zu mir erlebt, daß das nicht gleich ein feindseliges Sich-Absetzen ist und daß man andererseits aber auch nicht alle Energie aufwenden muß, um den anderen von seiner Sichtweise zu überzeugen. Hier spielt sehr das Moment der Andersartigkeit mit, das ja ein Teil meiner Utopie war.

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Weiter gehört für mich zur genitalen Liebe das Moment der Freiheit, also das Gefühl einer Freiwilligkeit in der Beziehung, und das ist ja sehr oft in gestörten Paarbeziehungen etwas, das für die Leute unmöglich ist. Da spult sich irgend etwas nach einem bestimmten Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Bild, das sich lebensgeschichtlich entwickelt hat, dann auch im Erwachsenenleben ab, wo es einfach keine Freiheit mehr gibt. Oder es spielt sich auf dem sado-masochistischen Kanal ab oder über die Abhängigkeit und Unabhängigkeit oder wie auch immer. Idealerweise gehört zur genitalen Liebe, daß es in jedem Moment der Beziehung immer eine freiwillige Entscheidung für die Beziehung ist, auch durchaus im Sinne des Konkurrenzmarktes, nämlich um den anderen zu kämpfen und ihn gegen Rivalen oder Rivalinnen erobern zu wollen, also nicht so zu tun, als seien nun durch die Verbindung von zwei Menschen die Besitzverhältnisse klar.

Das Gefühl, jemanden >besitzen< zu wollen, finde ich andererseits sehr legitim, denn ich glaube, es ist eine wichtige Quelle von Attraktion und Energie, den anderen wirklich als Besitz zu betrachten und zu behandeln. Ich finde es völlig falsch, das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu sagen, man darf den anderen nicht besitzen wollen. Darin liegt ja auch etwas Zupackendes, das im Grunde dazugehört, darin steckt eine leidenschaftliche Seite, nämlich in den anderen eindringen zu wollen, ihm unter die Haut zu gehen, ihn aufzufressen. Zur Genitalität gehört also auch, daß all die anderen psychosexuellen Positionen integriert sind.

Ferner gehört sicher zur genitalen Liebe, sowohl auf seilen des Mannes wie auf Seiten der Frau, mit dem eigenen Geschlecht, spezifisch jetzt auch mit dem eigenen Genital, positiv umgehen zu können, sich seiner nicht schämen zu müssen, es nicht verstecken zu müssen; das ist auch ein Stück Realität.

 

Balint nennt noch ein Merkmal, das ich sehr bemerkenswert finde: die Instabilität. Vielleicht können wir damit auf Ihren Begriff von Treue kommen. Dauer und Treue verbindet man ja miteinander, auf der anderen Seite jedoch diese Vorstellung von Instabilität ...

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Instabilität heißt für mich, die Liebe ist nicht fixiert, ist nicht fixiert auf: Jetzt sind wir nun einmal zusammen, und du gehörst mir und ich gehöre dir, und jetzt ändert sich nichts mehr daran. Genitale Liebe ist ja überhaupt die Plattform, auf der Entwicklung am ehesten möglich ist, und Entwicklung ist immer etwas Instabiles. Die Genitalität ist vielleicht ein Synonym für größtmögliche Entwicklungspotenz und von daher instabil. So würde ich sie interpretieren, ähnlich, wie man sagt, die Liebe ist ein Kind der Freiheit und läßt sich nicht in den Käfig sperren.

 

Wie verbindet sich das mit der Utopie von Treue, wenn Instabilität zur Utopie von Liebe dazugehört?

In uns allen dürfte ein Bild oder eine große Sehnsucht (und damit auch eine Utopie) herumspuken, mit einem Menschen alles zu erleben; mit einem Menschen heißt, in eine andere Sprache übersetzt, aber auch, den Zustand der Liebe zu wiederholen, also auch Hoffnung auf die Wiederholbarkeit. Doch ist es mit das Schwierigste, zu akzeptieren, daß nichts in derselben Form wiederholbar ist. Ich finde das sehr beunruhigend. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, daß selbst in solch einer Phantasie von großer Liebe auch ein Stück von Wiederholbarkeit steckt, was wahrscheinlich dem »instabil« von Balint widerspricht.

Treue in einer Beziehung bedeutet für mich nicht, daß sich nichts verändern darf, und auch nicht, daß es keine anderen Menschen mehr für mich gibt, eher im Gegenteil: Indem ich eine immer tiefer gehende Beziehung zu einem Menschen habe, geht damit auch das Gefühl der tiefen Verbundenheit mit anderen Menschen einher.

Vielleicht können wir jetzt noch kurz auf die Praxis kommen, in welcher Form des Lebens oder des Zusammenseins man dieser Utopie, die wir jetzt entwickelt haben, am nächsten kommen kann. Sie haben sich gegen die Kleinfamilie ausgesprochen.

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Die Kleinfamilie ist deshalb so problematisch, weil sie eine Überfrachtung bedeutet. Ich glaube, die Ideologie der Kleinfamilie ist, daß einer alles sein soll. Was vor Jahrhunderten noch aufgeteilt war in sexuelle Gefährtin, Mutter der Kinder und Hetäre, die mehr den geistigen Bereich abdeckt – jetzt einmal nur in der Aufteilung der Frauen –, das soll jetzt alles eine Frau erfüllen.

 

Gehört das nicht gerade zu unserer Utopie, daß man dies alles mit einem Menschen erlebt?

Auch das ist wieder ein Paradox. Es gehört einerseits dazu, und andererseits gehört vielleicht auch zur Utopie, zu sehen: die und die und die Qualitäten habe ich bei dem und die habe ich bei der, und die genieße ich oder an denen begeistere ich mich total. Doch indem ich weiß, daß es diese Qualitäten gibt, weiß ich genauso deutlich, daß es andere nicht gibt. Und man kann sich von der einen Form, die aber nicht alles ist, absolut begeistern lassen. Ich empfinde das alles deswegen als ein so spannendes Feld, weil es nur über Paradoxien einzuholen ist, wenn überhaupt.

Es ist so: Der andere ist ein Spiegel von dir, indem er so ist, wie du bist, und indem er auch völlig anders ist. Die übliche Kleinfamilie in ihrer Abkapselung ist der Tod der Liebe. Ich glaube, die Abkapselung ist das Wesentliche; wenn es ein sehr abgeschlossenes System ist, das wenig Öffnungsmöglichkeiten hat, dann gleicht es einem Dampfkochtopf, der über lange Jahre angeheizt wird. Wenn es da nicht zu einer Explosion à la Dampfkochtopf kommt ...

 

Es kann aber auch eine Art In-sich-Zusammenfallen der Energien geben.

Ja, ein Zustand des Abtötens, bei dem gar nichts mehr passiert, bei dem dann psychosomatische Beschwerden oder Ähnliches auftreten, aber nach außen hin alles ganz prima ist.

Was Groß- oder Kleinfamilie betrifft, habe ich eine ganz persönliche Utopie. Da ich organisatorisch leider eine Null bin, bin ich sehr pessimistisch, ob ich sie je verwirklichen werde. Ich stelle mir vor, daß es etwas ganz Wunderbares sein muß, mit Leuten, die ich sehr gern habe oder die ich auch einmal geliebt habe bzw. noch liebe, in einem größeren Verbund zusammenzuleben.

Daß da Paarbildungen sind, Paare mit Kindern oder einzelne mit Kindern, daß jede Einheit auch ihre Rückzugssphäre haben müßte, aber daß es ein offenes Haus ist – nicht im Sinne einer engen Wohngemeinschaft oder Kommune, in der alles miteinander geteilt werden muß und die Intimität verlorengeht. Es gibt vielleicht zehn Menschen, Männer wie Frauen, die für mein Leben sehr wesentlich waren. Wenn sich das realisieren ließe, mit ihnen einen etwas engeren Lebensverbund zu schließen, in dem auch die Kinder ihren Platz haben, wäre das schön für mich.

 

Ein solcher Verbund müßte doch wohl nach außen offen sein, weil sich ja die Beziehungen ändern können.

Ich stelle mir ein großes Haus vor, in dem verschiedene Parteien wohnen. Das Ganze müßte über eine Wohn- oder Zweck­gemein­schaft hinausgehen; nicht nur, daß man sich gemeinsam eine Waschmaschine anschafft, sondern daß es eine Gruppierung von Menschen ist, die miteinander zu tun haben, daß vielleicht auch einige miteinander arbeiten. Es gibt dabei sicherlich gruppendynamische Konflikte, neue Probleme, die man vorher nicht erwartet hat. 

Trotzdem stelle ich mir die Lebensform des ganzen Hauses ähnlich wie in den handwerklichen und bäuerlichen Betrieben vor 200 bis 300 Jahren vor, nur auf unsere modernen Lebensbedingungen umgepolt. Das ist meine persönliche Utopie.

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