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Frieden und Utopie  
Kampf gegen die Wahrscheinlichkeit  

Es gibt in der technischen Welt, in der wir leben, im Grunde nur eine einzige Utopie, die alle anderen Utopien in sich enthält, nämlich die Utopie des Weltfriedens.   --Georg Picht-- 

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 Als der Erfinder der Neutronenwaffe, Samuel Cohen, im Vatikan zu Gast war, wurde er vom Papst gefragt, ob er für den Frieden arbeite. Dazu Cohen: »Ich versicherte ihm, daß ich mein Bestes getan hätte und daß ich durch sein Vorbild inspiriert gewesen sei.« 

Wir haben genügend atomare Sprengköpfe, um die Erde mehrfach zu vernichten. Jeden Tag werden weltweit mehr als eine Milliarde Dollar für die Rüstung ausgegeben, während jedes Jahr mehr als fünfzehn Millionen Menschen, die meisten davon Kinder, an Unterernährung sterben. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf dieser Erde Krieg herrscht. Die Wörter »Frieden«, »Sicherheit« und »Entspannung« werden besonders eifrig von denjenigen benutzt, die an der Aufrüstung der Milchstraße arbeiten.

Wollen wirklich alle den Frieden? 

Nicht einmal für utopische Staatsromane, die allerdings vor zwei Weltkriegen und ohne die Aussicht auf ein atomares Inferno geschrieben wurden, ist Pazifismus ein absoluter Wert. In Platons Staat werden schon Kinder militärisch ausgebildet, ist >Männlichkeit< weitgehend mit Tapferkeit im Krieg identisch. In Thomas Morus' Utopia steht zwar der schöne Satz: »Den Krieg verabscheuen die Utopier aufs höchste als etwas ganz Bestialisches, womit sich jedoch keine Art wilder Bestien so beständig beschäftigt wie der Mensch«, aber dann folgt eine Liste mit Gründen für einen >gerechten< Krieg, die sich sehen lassen kann. Und auch die Frauen leisten einen Wehrdienst ab. 

In Campanellas Sonnenstaat ist natürlich auch das Kriegswesen, wie alles andere, straff durchorganisiert. Es untersteht dem Ministerium der Macht. Die Jungen werden ab dem zwölften Lebensjahr für den Kampf trainiert, und auch die Frauen, denen die Spartanerinnen und Amazonen als leuchtendes Beispiel gelten, lernen zum Beispiel, brennende Pfeile abzuschießen.

Ihre besondere, <typisch> weibliche Aufgabe ist es außerdem, die Kämpfer in der Schlacht zu ermutigen, sie mit »Schmeicheleien und freundlichen Worten« zu weiteren Taten zu bewegen. »Und es ist erstaunlich, wieviel das allein schon ausmacht. Mancher Soldat greift, um sich vor Frauen und Kindern tapfer zu zeigen, um so heftiger an.«

Wir wissen es heute besser. Dennoch scheint <Dritter Weltkrieg> für viele Männer eine Art Videospiel zu sein, das aufregende Action verspricht. Und manche Frauen sehen noch immer ihre Aufgabe darin, die Männer mit »Schmeicheleien und freundlichen Worten« dazu zu ermutigen, oder sie meinen, daß die Männer allein auslöffeln sollen, was sie sich selber eingebrockt haben. Nur: Es gibt zwar mittlerweile eine Neutronenwaffe, die zwischen Menschen­material und Sachgütern unterscheiden kann, aber jene Waffe, die Menschen mit zwei x-Geschlechtschromosomen verschont und nur die mit einem y-Chromosom tötet, ist – zum Glück – noch nicht erfunden ...

Vielleicht ist Krieg Männersache, aber Frieden ist auf jeden Fall auch Frauensache. Und wenn Frieden mehr als die Ruhe vor dem Dritten Weltkrieg sein soll, ist er eine Utopie.

Und was meinte der <Vater> der Neutronenwaffen 1981? »Wenn die Nato beschließen würde, Neutronenwaffen in Europa zu stationieren, dann ist es für die Zivilbevölkerung einfach und billig, Schutzkeller zu bauen.«

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Interview mit Constanze Eisenbart  

Über das Thema »Frieden und Utopie« sprachen wir mit Constanze Eisenbart. Constanze Eisenbart (geb. 1929) ist wissen­schaftliche Referentin an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengesellschaft (FEST) in Heidelberg. Sie studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie. 1956 Promotion. 1956–1958 war sie Mitarbeiterin der Evangelischen Akademie Bad Boll. Nach dem Tod von Georg Picht mit der Herausgabe seiner unveröffentlichten philosophischen Schriften betraut. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Humanökologie und Frieden (1979) und Kernenergie und Dritte Welt (1984).

Georg Picht (1913-1982), Philologe, Pädagoge und Religionsphilosoph, 1946-1956 Leiter des Landerziehungsheims Birklehof (Hinterzarten), 1952-1962 Mitglied des Dt. Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, seit 1958 Leiter der Heidelberger FEST. Werke u. a.: Unterwegs zu neuen Leitbildern (1957) und Die deutsche Bildungskatastrophe (1964).

 

1)  Frieden, Sicherheit, Entspannung, das sind ziemlich statische Begriffe. Das hört sich so an, als würde man nur auf einen Punkt zuzugehen brauchen, und dann steht man da, und es ist Frieden, und es ist Sicherheit, und es ist Entspannung. Ist Frieden denn einfach Nicht-Krieg? 

Frieden ist sicher nicht nur ein Zustand der Abwesenheit von Krieg. Die Friedensforschung ist sich heute darin einig, daß man Frieden als einen Prozeß beschreiben muß. Frieden ist etwas, das in der Geschichte statthat; und in der Geschichte gibt es keine stationären Zustände, sondern immer nur Bewegung.

Allein schon die Vorstellung, man könnte irgendwo einen Schritt machen und dann herrsche Frieden, ist unhistorisch und damit unrealistisch. Analoges gilt für den vieldeutigen Begriff der »Sicherheit«. Vollständige Sicherheit können Völker sowenig erlangen wie Individuen. Was politisch erreichbar sein könnte, wäre eine Art Gleichgewicht, in dem bestimmte Minimalbedingungen von Unverletztheit, ohne die Menschen nicht existieren und sich nicht entfalten können, erfüllt sind. Alle anderen Kriterien zur Bestimmung von Sicherheit wie von Frieden sind ohnehin regional, kulturell und religiös verschieden. 

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2)  Zur Zeit versteht man unter Frieden vor allem, daß nicht ein Dritter Weltkrieg ausbricht.

Wenn man davon ausgeht, daß der Dritte Weltkrieg ein großer Atomkrieg sein wird, dann ist seine Verhinderung zweifellos das vorrangige Ziel aller Bemühungen um Frieden. Dahinter müssen Differenzierungen in der Ausgestaltung eines denkbaren Friedens­prozesses zurücktreten. Allgemein kann man sagen, daß Frieden nicht zu verwechseln ist mit konfliktfreien Zuständen. Diese gibt es nicht. Es ist undenkbar, daß Menschen ohne Konflikte miteinander leben. Vermutlich meint »Frieden« nicht einmal die völlig gewaltfreie Austragung von Konflikten. Zur Zeit muß sich alle Friedenspolitik erst einmal daran messen lassen, ob sie etwas beiträgt zur Vermeidung des großen Nuklearkrieges, denn dieser bedroht die Gattung Mensch in ihrer Existenz.

3)  Georg Picht hat gesagt, daß die einzige relevante Utopie heutzutage der Weltfrieden sei. Können wir erst einmal definieren, was er unter Utopie verstand?

Picht unterschied zwischen »blinder Utopie« und »aufgeklärter Utopie«. Utopie ist eine der Formen, in denen Menschen Zukunft antizipieren. Ohne irgendwelche Vorstellungen von der Gestalt, die ihre Zukunft haben sollte, können Menschen überhaupt nicht in die Zukunft hinein denken. Deswegen gehört offenbar ein gewisser Einschlag utopischen Denkens zu der Weise, wie Menschen sich in der Welt bewegen, hinzu. Solche Utopien kann man »aufgeklärt« nennen, wenn sie sich Verhältnisse zum Ziele setzen, die realistischerweise angesteuert werden können, obwohl es sie gegenwärtig – das ist im Begriff des »Zieles« enthalten – noch nicht gibt.

Nach der Überzeugung von Georg Picht, die er in einer Reihe von Arbeiten über 20 Jahre hinweg immer wieder vorgetragen hat, gehört im nuklearen Zeitalter die Vermeidung des Atomkrieges, also jener Friede, der Bedingung der Möglichkeit des Überlebens der Gattung Mensch ist, zu den aufgeklärten, ja notwendigen Utopien.

»Blinde Utopien« dagegen sind Leitvorstellungen der Art, wie Menschen sie sich immer auch gebildet haben; sie sind nicht von der Vernunft bestimmt, sondern von illusionärem Wunschdenken, vom Streben, die Wirklichkeit so zu verändern, daß sie mehr Macht, mehr Wohlstand,

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mehr Bequemlichkeit bietet, ohne daß dabei die Folgen solchen Strebens für andere Menschen, für künftige Generationen und für die übrigen Lebewesen auf der Erde bedacht werden. Die Errichtung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation etwa resultiert aus einer gigantischen Utopie, die »blind« ist, weil sie zu viele Kräfte außer acht läßt, die eine realistische und verantwortliche Überlegung einbeziehen müßte.

 

Zu der Utopie Weltfrieden: Worin unterscheidet sich Georg Picht da eigentlich von Carl Friedrich v. Weizsäcker?

Die Unterschiede haben sich im Laufe der Jahrzehnte sehr weit eingeebnet. In den frühen sechziger Jahren hat Carl Friedrich v. Weizsäcker, wenn ich ihn richtig verstanden habe, immer noch gemeint, eine Weltregierung sei wohl unentbehrlich, weil sie allein imstande sei, den großen, den globalen Frieden zu sichern. Georg Picht dagegen hat nie geglaubt, daß es wünschenswert und möglich wäre, die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen und Kulturen der Erde soweit auszugleichen, daß eine handlungsfähige Weltregierung etabliert werden könne. Heute erweisen sich aus mancherlei Gründen viele einzelne Staaten bereits als zunehmend >unregierbar<. Wie sollte da die gesamte Völkergemeinschaft staatsförmig verwaltet werden können?

 

Weizsäcker sagt: Der Dritte Weltkrieg ist wahrscheinlich.

Darin stimmen beide völlig überein. In seinen letzten Aufsätzen zu diesem Thema hat Georg Picht immer wieder hervorgehoben, daß seine Hoffnung, die Menschen würden doch noch einen Weg am Atomkrieg vorbei finden, nur noch in der Überlegung begründet sei, daß die gesamte Geschichte der Menschheit ein Kampf gegen die Wahrscheinlichkeit gewesen ist und daß dies auch heute gilt. So müsse die Möglichkeit immerhin ernst genommen werden, daß es den Menschen noch einmal wieder gelingen könnte, im Kampf gegen die wachsende Wahrscheinlichkeit eines globalen Zerstörungskrieges den Sieg davonzutragen. Jedes nüchterne politische Kalkül widerspricht jedoch einer solchen »hope against hope«.

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Viele behaupten, daß man diese Utopie vom <Weltfrieden> nur durch einen tiefgreifenden Bewußtseins­wandel verwirklichen kann, daß man also nicht einfach pragmatisch weiterdenken darf, sondern irgendwo auf einer ganz anderen Ebene neu beginnen muß. Was meinen Sie, welche Ebene müßte das sein oder was für ein Bewußtseinswandel? Oder halten Sie den überhaupt nicht für notwendig?

Er ist dringend notwendig, das ist gar keine Frage. Wir haben trotz aller Unterschiede weltweit ein politisches System, eine politische Denkweise und politische Kategorien, die sich in einem anderen Zeitalter ausgebildet haben — polemisch betrachtet: in der Steinzeit, realistisch betrachtet: in der Epoche der frühen Agrargesellschaften. Diese Denkweisen und Organisationsformen sind den technischen Apparaturen nicht angemessen, die wir inzwischen entwickelt haben und die wir dazu benutzen, um unsere Umwelt und schließlich uns selbst zu zerstören. Wir brauchen politische Kategorien, politische Modelle, Konflikt­austragungs­verfahren, Steuerungs- und Kontrollinstrumente, die ebenso hochdifferenziert sind wie die Techniken, die wir entwickelt haben, um uns gegenseitig umzubringen. Dazu bedarf es eines Bewußtseinswandels, wenn wir nicht einfach Politik-Technologie betreiben wollen. Es bedarf der Offenheit für neue Formen des Denkens, die wohl nur aus einem Bewußtseinswandel hervorgehen können.

 

Können Sie genauer beschreiben, was Sie unter Steinzeit-Bewußtsein verstehen?

Die Menschen haben zu Beginn ihrer Geschichte nur überlebt, weil sie gelernt hatten, in einer übermächtigen und außerordentlich bedrohlichen Umwelt mit Hilfe ihrer biologisch etwas differenzierteren Ausstattung die Natur soweit in Schach zu halten, daß diese Natur sie gelegentlich überleben ließ. Gelegentlich — denn wir wissen nicht, wie unendlich groß die Zahl derer ist, die in den frühen Epochen der Menschheitsgeschichte den übermächtigen Naturgewalten zum Opfer gefallen sind.

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Außerdem mußten unsere frühen Vorfahren so viel List und so viel Gewalttätigkeit in sich ausbilden, daß sie sich auch ihrer menschlichen Feinde, die ihre Konkurrenten waren um das bißchen Nahrung, Feuerholz, Schutzhöhlen, Kleidung usw., das zur Verfügung stand, erwehren konnten.

Im harten Kampf ums nackte Überleben gab es wenige Freunde und eine Welt voller Feinde. Aus dieser Epoche stammt noch heute unsere politische Grundausstattung.

Es gab also zwei Feinde, die unter allen Umständen in Schach gehalten werden mußten; eine übermächtige Natur und ein Gegner, der ebenso schlau, listig und gewandt war wie man selbst und der einen mit Vernichtung bedrohte, wenn man ihm nicht zuvorkam und ihn seinerseits vernichtete. Es gab nicht genügend erschließbare Ressourcen für alle Menschen, die friedlich nebeneinander leben wollten. Das ist jedoch nicht mehr die Situation, in die wir heute gestellt sind. Wir haben die Natur in einer Weise domestiziert, daß wir im Begriff sind, sie so gründlich zu schädigen, daß sie uns nicht mehr ernähren und tragen kann. Und wir haben Waffen entwickelt, durch deren Anwendung nicht nur unsere angeblichen oder wirklichen Gegner in Menschengestalt vernichtet würden, sondern zugleich unsere eigenen Lebensbedingungen irreparabel geschädigt. Diese Waffen sind also kein Selbstbehauptungsmittel mehr, sondern Selbstmordwaffen.

Eine ganz primitive Denkstruktur, das Freund-Feind-Schema, entscheidet über die Verwendung von Kriegs-Werkzeugen, die viel destruktiver sind als alles, was wir uns in unserer Phantasie ausmalen können. Trotz aller Warnungen, aller Zahlen, Darstellungen und Untersuchungen sträubt sich unsere Vorstellungs­kraft, sich für das Ausmaß der von uns verursachbaren Zerstörungen zu öffnen. Vor der Therapie muß aber die Diagnose stehen, denn einen Zustand, den man sich wahrzunehmen weigert, wird man nicht bessern.

 

Wie müßte dieser Bewußtseinswandel aussehen?

Das erste wäre, daß wir uns selbstkritisch klarmachen, daß unsere geistige und vermutlich auch unsere moralische Ausstattung für eine angemessene Behandlung der Fragen von Krieg und Frieden eben nicht mehr angemessen ist. Außerdem müssen wir unsere Einstellung zur Natur überprüfen

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und versuchen, aus Ausbeutern und Gegnern zu Partnern der Natur zu werden. Wir müssen also eine Art Kooperation statt eines Vernichtungsverhältnisses zur Natur aufbauen. Das geht jedoch nicht mit bloßen Willenserklärungen oder mit >Aussteigen< aus dem geschichtlichen Beziehungsgeflecht, in dem wir uns befinden. Man kann das Netz der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Natur und Kulturen nicht zerreißen, sondern man muß es behutsam entlasten. Um nicht die alten Fehler wiederzubegehen oder neue, ebenso gefährliche zu machen, muß man von der Struktur dieses Netzes mehr verstehen. Dazu gehört viel und gründliches Nachdenken. Ich weiß auch nicht zu sagen, wie das im einzelnen aussehen wird, und kann nur die Richtung, in die man sich bewegen muß, mit diesen Überlegungen anzeigen.

Ferner müssen wir lernen, daß es uns, auch wenn wir bestimmte Menschen, Gruppen oder Staaten ablehnen, fürchten oder unerträglich finden, nicht mehr gestattet ist, die Austragung daraus resultierender Konflikte mit Waffen zu vollziehen. Wir müssen neue Verfahren zur Konfliktaustragung finden, die weder andere noch uns selbst in der Existenz bedrohen.

Innerstaatlich ist das in nichttotalitären Ländern durch die Gewaltentrennung gewährleistet. Der aufgeklärte liberale Rechtsstaat ist eine sehr hohe zivilisatorische Leistung. Dennoch haben wir offenbar immer noch nicht begriffen, daß heute ein analoges Verfahren für die Staaten untereinander erforderlich ist: In der Staatengesellschaft brauchen wir ähnliche Mechanismen zur Konfliktregulierung wie innerhalb der Staaten. Ich wäre allerdings skeptisch, wenn uns zu ihrer Organisation nichts anderes einfallen würde als die Etablierung einer Weltregierung; ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß sie die gigantische Aufgabe, auf dem gesamten Globus Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne Gewaltanwendung zu lösen vermöchte.

Die Weltgesellschaft muß sich also etwas einfallen lassen. Wenn sie darauf ebenso viele Gedanken verwenden würde, wie sie es z.B. jahrzehntelang auf die Entwicklung von Waffen getan hat, wenn sich die menschliche Intelligenz auf die Entwicklung von friedlichen Mechanismen zur Konfliktaustragung konzentrieren würde, statt sich für die Entwicklung immer noch raffinierterer Tötungsmethoden mißbrauchen zu lassen, würde sie wahrscheinlich eine Fülle von konstruktiven neuen Formen politischen Handelns und neuen Institutionen entwerfen.

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Ein erster Schritt könnte bereits darin bestehen, daß sie in das vorhandene Gewaltenteilungssystem auch jene Gewalten neu eingliedert und zu kontrollieren versucht, die sich erst lange nach Montesquieu ausgebildet haben und für die es noch keine Regulierungsmechanismen gibt. Ich meine erstens die diffuse, aber unheimlich starke Macht, die wir »Wissenschaft und Technik« nennen, und ich meine zweitens die vom territorialen Einzelstaat nicht mehr regulierbare Macht der international organisierten Wirtschaft. Dies sind die beiden wichtigsten Mächte, die in den letzten zwei Jahrhunderten auf den Plan getreten sind; für beide besitzen wir keine wirksamen Kanalisierungs- und Kontrollmechanismen.

 

Dieses Bewußtsein, von dem Sie sprechen, ist doch schon bei vielen Menschen vorhanden, nur: Es ist ein Bewußtsein ohne jede Macht, denn es gibt ganz deutlich eine Trennung zwischen denjenigen, die so denken, und denen, die politisch handeln. Meinen Sie, man könnte erreichen, daß dieses neue Bewußtsein auch politische Macht bekommt?

Politiker artikulieren häufig das, was im kollektiven Unbewußten der Gruppe, die sie repräsentieren, unerhellt schwelt. Sie formulieren nicht klare Gedanken und präzise Konzepte, sondern machen sich zum Sprachrohr von Ängsten und Ahnungen, die unaufgeklärt bleiben und sich deshalb auf irrationale Zielvorstellungen und blinde Utopien richten. Hier liegt auch ein gewisses Versagen der Intellektuellen vor; sie entwickeln zwar über viele Sachverhalte kluge Gedanken, benutzen aber im allgemeinen eine Sprache, in der sich diese Gedanken nicht an große Zahlen von Menschen weitervermitteln lassen. Zum Teil sind allerdings die Sachverhalte, die sie schildern, wirklich so kompliziert, daß man sie nicht über einfache sprachliche Leisten schlagen kann; zum anderen Teil geben sich die Intellektuellen jedoch auch schlicht keine Mühe, nach einer Sprache zu suchen, die andere Menschen verstehen. Außerdem vermeiden sie es gern, sich in Situationen hineinzubegeben, in denen sich Politiker, jedenfalls in demokratischen Ländern, ständig vorfinden. Sie brauchen sich nämlich nicht für jede Entscheidung, die sie treffen, vor einer Wählerschaft zu rechtfertigen.

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Deshalb ist es für uns Intellektuelle sehr viel leichter, aus Distanz und Überblick heraus klug zu reden, als es für die Politiker ist, denn wir müssen ja, grob gesagt, nicht das <verkaufen>, was wir vertreten. Statt dessen brauchen wir unsere Einsichten nur möglichst fachgerecht und für unsere Zunftgenossen verständlich zu formulieren, um sozial akzeptiert zu werden. Ein Politiker dagegen muß sein Programm, selbst wenn es gedankenreich und originell sein sollte, so zurechtschneidern, daß er es an Stammtischen und auf Wahlversammlungen an den Mann bringen kann. Differenzierte Antworten auf differenzierte Problem­stellungen sind jedoch dem Bewußtsein einer großen und vielschichtigen Wählerschaft schwer zu vermitteln. Deswegen ist die erforderliche generelle Bewußtseinsänderung nur mühevoll und langsam zu erreichen. Trotzdem dürfen wir nicht aufhören, nicht nur von anderen, sondern auch von uns selbst zu fordern, daß wir etwas dazu beitragen.

 

Wenn Sie sagen, daß Politiker das Unbewußte im Menschen ansprechen, heißt das also: das vorhin von Ihnen geschilderte Steinzeit-Bewußtsein?

Dieses >Steinzeit-Bewußtsein< haben wir im Raum des Politischen alle. Es liegt tiefer als die Bewußtseins­schichten, von denen ich gerade rede. Jetzt spreche ich von vagen, gefühlsbestimmten und unaufgeklärten Tendenzen im kollektiven Unbewußten. Im übrigen ist es nicht so, daß Kollektive der Vernunft nicht zugänglich sind, sofern man ihnen mit Vernunft und Klarheit gegenübertritt. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erlebt, daß in denjenigen Gesellschaften, in denen so etwas überhaupt zugelassen wird, große Gruppen von Menschen sehr schnell in der Lage sind, höchst differenzierte politische Meinungen auszubilden und politisch höchst differenziert zu optieren. Allerdings war dabei oft mehr von Wünschen und Forderungen und weniger von politischen Preisen die Rede, die für die erstrebten Ziele zu bezahlen sein werden.

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Wie meinen Sie das?

Das meine ich ganz handfest. Ein Beispiel: Ich habe einen hohen Respekt vor der Friedensbewegung und teile wahrhaftig ihren dringenden Wunsch, daß der Friede erhalten werden muß, daß kein Krieg ausbricht, daß abgerüstet werden sollte. Ich empfinde es aber als etwas naiv, daß die Wortführer der Friedensbewegung glauben, auf eine einseitige Abrüstung der westlichen Seite würde gewiß eine große Versöhnungswelle der östlichen Seite antworten.  

Ich finde, man kann einseitige Abrüstung nur fordern, wenn man auch unter Umständen bereit ist, dafür in Kauf zu nehmen, daß in das dann entstehende Machtvakuum sofort eine andere Macht einströmt. Man darf doch nicht verschweigen, daß wir um des Friedens willen eventuell auch bereit sein müßten, unsere politische Freiheit zu riskieren. 

Ich glaube zwar nicht, daß hier eine blinde Mechanik waltet. Es muß nicht so sein, daß in dem Augenblick, in dem der Westen in Mitteleuropa einseitig abrüstet, die Rote Armee oder die Nationale Volksarmee der DDR in die Bundesrepublik einmarschiert — aber wenn man so tut, als brauche man darüber nicht einmal nachzudenken, so halte ich das für unverantwortlich.

Man muß sicherlich bereit sein, für bestimmte politische Optionen, die man richtig findet, jene Nachteile in Kauf zu nehmen, die mit ihnen verbunden sind. Man muß bereit sein, für den Verzicht auf bestimmte gefährliche Energieformen unter Umständen höhere Energiepreise zu bezahlen. Man muß bereit sein, für die Erhaltung der Wälder eine Geschwindigkeitsbegrenzung und teure Katalysatoren zu akzeptieren, um nur einmal ein paar ganz einfache Beispiele zu nennen. Man kann jedoch nicht immer nur Forderungen aufstellen und die stets in irgendeiner Weise damit verbundenen Einbußen verschweigen.

 

Ernst Bloch hat gesagt: Jede Utopie hat ihren Fahrplan. Welche Richtung würden Sie favorisieren, um die Utopie Weltfrieden zu realisieren?

In den Demokratien können wir einiges tun, um die Politik zu beeinflussen. Wir können bei jeder sich bietenden Gelegenheit Politiker honorieren, die sich für eine Verständigung über die Grenzen der Blöcke hinweg einsetzen. Und wir können diejenigen nicht mehr wählen, die mit kriegerischen Reden und dem Anheizen feindseliger Gesinnungen Politik zu treiben versuchen.

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Wir können in unserem Wirkungskreis auf die globalen Notstände hinweisen, die in überaus hohem Maße konfliktträchtig sind, denn wir leben ja nicht nur mit der Bedrohung des Ost-West-Konfliktes, sondern mindestens ebenso sehr mit den Gefahren des zur Zeit mit Schweigen zugedeckten Nord-Süd-Konfliktes. Jeder kann in seinem Umkreis Frieden fordern und fördern. Auch in der Art, wie wir unsere persönlichen Konflikte mit anderen Menschen austragen, können wir Beispiele geben. Sie werden vielleicht unsere Kinder oder andere junge Menschen, die uns nahestehen, beeinflussen, sich ähnlich zu verhalten.

 

Also eine Konfliktstrategie, ein bewußter Umgang mit Konflikten schon im Kleinen.

Eigentlich meine ich das Lernen und Einüben eines menschenwürdigen Umganges mit Konflikten. Wir können in der Art, wie wir mit anderen Menschen umgehen, demonstrieren, daß wir in ihnen unsere Nächsten sehen, daß wir sie respektieren und sie nie als Instrumente betrachten, mit denen wir irgendwelche Zwecke erreichen wollen. Jeder einzelne kann sich so verhalten und damit ohne Zweifel den Frieden fördern. Aber auch im Bereich der Politik selbst können wir versuchen, etwas zu erreichen. So können wir uns z.B. für andere Prioritäten einsetzen. 

Wir müssen, ob das reale Chancen hat oder nicht, unabläßlich Abrüstung fordern — nicht nur Einfrieren, sondern Abrüsten. Und wir müssen fordern, daß mehr darüber nachgedacht wird, ob in der nun einmal bestehenden weltpolitischen Konfrontation großer Militärblöcke militärische Sicherheit nicht anders als durch immer neue Angriffswaffen gefunden werden kann. Es gibt Vorschläge, eine Verteidigung so zu organisieren, daß sie bereits durch ihre Struktur jeden möglichen Gegner davon überzeugt, daß nicht einmal insgeheim ein Angriff geplant werden kann. Solche Modelle müssen ernst genommen, auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft und nicht einfach als illusionär beiseite geschoben werden.

Auch in der Forschungspolitik müssen wir neue Prioritäten fordern. Unser Staat bezahlt außerordentlich viel Geld für Kriegsforschung jeder Art.

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Da wird überhaupt nicht gespart. Für die Friedensforschung dagegen fließen die Mittel spärlich und zögernd, sie erfreut sich geringer Förderung und noch geringeren Wohlwollens, wie z. B. an der Schließung der »Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung« nach kaum zehnjährigem Bestehen deutlich geworden ist. Wir müßten mehr Sozialforschung und die daraus entwickelte soziale Schadensverhütungsforschung fördern. Wir müßten aber auch Konversions­forschung in ganz anderem Umfang betreiben als bisher, um wieder nur einige Beispiele zu nennen.

 

Was ist das?

Konversionsforschung ist die Untersuchung der Frage, wie man, tunlichst ohne Verlust der Arbeitsplätze, Rüstungsindustrien so umbauen kann, daß sie Produkte erzeugen, die keine Waffen sind, sondern z.B. unkompliziertes und strapazierfähiges Gerät, wie es in der Dritten Welt gebraucht wird: Traktoren, Fahrräder, Kochherde, Sonnenkollektoren - alles, was unter dem Stichwort der »angepaßten Technologie« zusammengefaßt wird. Die Öffentlichkeit, und das ist jeder von uns, sollte nicht müde werden, für solche ganz konkreten Punkte zu fordern, daß die Prioritäten neu gesetzt werden, statt sich ratlos und apathisch gefallen zu lassen, daß für sehr viel Geld immer teurere und furchtbarere Zerstörungsmittel hergestellt und angehäuft werden, während für Umweltschutz, Bildungseinrichtungen oder Entwicklungshilfe angeblich keine Mittel vorhanden sind.

 

Die Kriegsgefahr hängt ja nicht nur, wie Sie angedeutet haben, von der Sowjetunion und von den Vereinigten Staaten ab, sondern auch von den Dritte-Welt-Ländern, in denen plötzlich irgend etwas explodieren kann.

Trotz aller kriegerischen Reden und trotz der aberwitzigen Überrüstung auf der Nordhalbkugel habe ich am meisten Sorge, daß irgendwann in den nächsten 15 Jahren irgendein in die Verzweiflung getriebener kleinerer Staat im Süden die eine oder die zwei Atombomben zündet, die er sich inzwischen erworben hat.

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Mich beunruhigt in hohem Maße die unaufhaltsame Verbreitung von Atomwaffenkapazität über die ganze Welt — sei es in Gestalt von Nuklear­energietechnik, von Forschungs­reaktoren oder von offener bzw. geheimer Atomrüstung. Diese Frage beschäftigt mich deshalb so stark, weil ich zur Zeit überhaupt nicht sehe, wie man diese Entwicklung gegensteuern kann.

Wenn die fünf Atomwaffenstaaten des Nordens: die USA, die Sowjetunion, China, Frankreich und England, durch ihr Verhalten ständig demonstrieren, daß die wahre Souveränität eigentlich erst in der Verfügung über Atomwaffen liegt, so kann man keinem Land der Welt verdenken, wenn es sich entschließt, diesem Beispiel zu folgen. Und das kann schon in wenigen Jahren zum Ausbruch eines Atomkrieges führen.

 

Unter dem Wort Abrüstung kann man sich abstrakt vorstellen: Weg mit den Waffen. Wie könnte Abrüstung Ihrer Meinung nach konkret aussehen, was kann man für sie tun?

Ich bin kein Abrüstungsexperte, aber ich bin überzeugt davon, daß bei der Überrüstung, die zur Zeit besteht, die beiden großen Atommächte 50% ihres gesamten atomaren Arsenals, auf allen Stufen, eliminieren könnten, ohne ihre sogenannte <Sicherheit> auch nur im geringsten zu gefährden. Dies ist exakt der Vorschlag, den George F. Kennan vor ein paar Jahren gemacht hat. Ich habe bis jetzt noch niemanden getroffen, der mir schlüssig beweisen konnte, daß dieser Vorschlag eines so erfahrenen Mannes, der seit 40 Jahren das Feld der internationalen Politik nicht nur kennt, sondern auch beeinflußt hat, unrealistisch, naiv oder im schlechten Sinne utopisch ist. Ein vollständiger Test-Stopp für Atomwaffen wäre dringend nötig, ebenso der erklärte und nachprüfbare Verzicht auf die Atombombe.

 

Glauben Sie, daß es einen Zeitraum gibt, innerhalb dessen man auf jeden Fall zu einem Ergebnis gekommen sein muß?

Den gibt es vermutlich, aber wir kennen ihn nicht. Mir steht bei Fragen dieser Art immer das unheimliche Bild vor Augen, das Dennis Meadows in seinem Buch Grenzen des Wachstums verwendet hat: Ein Mensch besitzt einen Teich, in dem Seerosen wachsen.

Die Seerosen vermehren sich jeden Tag um das Doppelte. Der Mann sieht, daß der Teich langsam zuwächst, sagt sich: >Ach, da müßte ich ja eigentlich einmal anfangen, etwas gegen. die Seerosen zu tun<, aber schiebt diese Arbeit vor sich her. Dann bemerkt er plötzlich, daß der Teich schon halb zugewachsen ist, und sagt sich: >Morgen muß ich zwar noch andere Dinge erledigen, aber übermorgen werde ich hingehen und die Seerosen bekämpfen.< Am nächsten Tag jedoch ist der Teich vollständig zugewachsen, so daß alle Anstrengungen zu spät kommen. – Ich kann mir vorstellen, daß das Zusammentreffen zahlloser destruktiver Kräfte und Prozesse, die in den letzten hundert Jahren an ganz verschiedenen Stellen und auf ganz verschiedenen Gebieten von den Menschen in Gang gesetzt worden sind, plötzlich ein solches >Seerosensyndrom< erzeugt. Sollte dies jedoch eintreffen, dann ist mehr verloren als der Teich.

Ich fühle mich heute außerstande, zu sagen: »Fünf Jahre haben wir noch Zeit, aber dann ...« Oder: »Fünfzig Jahre haben wir noch Zeit, aber dann ...« Es kann sein, daß es in drei Jahren schon zu spät ist, es kann sein, daß der Menschheit noch hundert Jahre Spielraum gegeben sind – das weiß ich nicht. 

Aber zu glauben, wir könnten immer noch erst ganz vieles andere tun und dann erst anfangen, darüber nachzudenken, wie man die aufgeklärte Utopie des Friedens in unserer Welt der Verwirklichung näher bringt — das halte ich für höchst gefährlich.

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