New Age, Evolution und Utopie Die Wiederverzauberung der Welt
Wenn aber alles mißglückt, werden wir vielleicht
tief in uns selbst den Schlüssel zur vollkommenen
Wandlung finden. --Sri Aurobindo--
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Unsere Welt ist kalt und leer; unser Leben deprimierend und sinnlos. Wir plündern aus, konsumieren und besitzen, wir erzeugen Einsamkeit und Gewalt.
»Dieser Ansatz läßt sich am besten als Entzauberung, als Verlust an Teilnahme beschreiben, weil er auf einer rigiden Trennung zwischen Beobachter und Beobachtetem besteht. Wissenschaftliches Bewußtsein ist entfremdetes Bewußtsein: Es gibt kein ekstatisches Verschmelzen mit der Natur, sondern eher die völlig Trennung von ihr.«
So definiert Morris Berman diesen Zustand. Er fordert eine »Wiederverzauberung der Welt«, und das ist der poetischste und kleinste Nenner, auf den sich die New-Age-Bewegung bringen läßt. Das Neue Zeitalter, verknüpft mit Namen wie Capra, Ferguson, Wilber, Trevelyan, Henderson und Jantsch, ist keine neue Religion oder gar Sekte. Es geht ihr um nichts Geringeres, als einem neuen Weltbild, einem neuen Bewußtsein zur Geburt zu verhelfen.
New Age setzt sich ab gegen das mechanistische Weltbild mit den drei Säulenheiligen Descartes, Bacon (der Utopist) und Newton. Diese begründeten die im westlichen Denken noch immer fest verankerte Überzeugung, daß die Welt eine Maschine sei, die nach strengen mechanischen Gesetzen arbeitet. Will man etwas über ihr Funktionieren erfahren, muß man sie in ihre Einzelteile zerlegen und damit experimentieren. Die Folge: Natur ist getrennt vom Geist, der Verstand herrscht über das Gefühl. Der Mensch – das heißt natürlich: der Mann – ist die Krone der Schöpfung, er darf allen anderen Lebewesen Gewalt antun, weil sie ihm Untertan sind.
Man müsse die Natur auf ihren Irrwegen mit Hunden hetzen, meint Bacon, sie gefügig, zur Sklavin machen, sie auf die Folterbank spannen, damit sie ihre Geheimnisse preisgäbe – was man mit den Frauen, diesen <minderwertigen> Naturgeschöpfen, in den Hexenprozessen dann ja auch gemacht hat.
Gegen das mechanistische setzt New Age das ganzheitliche Weltbild. Hier gibt es keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, der Mensch ist ein Teil des Universums: Integration statt Selbstbehauptung, Synthese statt Analyse, Ökologie statt Ökonomie, Ergänzung statt Konfrontation. Da gibt es keine Autorität, die sagt, was gemacht wird, sondern jeder ist sein eigener <Guru>, seine eigene Energiequelle. Immer mehr westliche Naturwissenschaftler bestätigen aus ihren Erfahrungen uralte Einsichten östlicher Weisheitslehren. Die eigentliche Aufgabe des Menschen ist es, sein kleines, isoliertes, aufgeblähtes Ego zu transzendieren und ein alles umfassendes kosmisches Bewußtsein zu erlangen.
New Age begnügt sich weder damit, eine weitere esoterische Variante zu präsentieren, noch nach dem blauen Himmel über der Ruhr oder mehr weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten zu rufen. New Age will nichts Geringeres, als einen Schritt nach vorn in der Evolution vorbereiten. <Halbzeit der Evolution> heißt ein Buch von Ken Wilber, das dieses größte Vorhaben, das wohl je in der Menschheitsgeschichte angestrebt wurde, vorstellt: Evolution ist nicht blinder Zufall, sondern mühsames Ringen um Annäherung an den Geist. Wir sind auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewußtsein, den einzigen beiden Zuständen, in denen der Mensch vollkommen zufrieden ist. Der Punkt, an dem wir jetzt stehen, die extreme Ausbildung des persönlichen Ego, ist der »äußerste Punkt der Verwundbarkeit«. Wir können nicht mehr zurück in das Paradies des Unbewußten, also müssen wir vorwärtsgehen in den Himmel des Überbewußten.
Der indische Yogi Sri Aurobindo, der schon Anfang des Jahrhunderts östliches mit westlichem Gedankengut verschmolzen hat, sieht in uns Wesen des Übergangs: »Der Mensch ist eine enge Brücke, ein Ruf, der wächst.« Sinn des Lebens eines jeden einzelnen ist, an der Schaffung eines Übermenschen mitzuarbeiten. Mit dem Übermenschen ist kein faschistischer Herrenmensch gemeint, dessen Anbetung man vielleicht selbst Nietzsche zu Unrecht angelastet hat. Der Übermensch ist kein Mensch, der den Gipfel seiner persönlichen Macht, Intelligenz, Vollkommenheit erreicht hat, sondern ein »supra-mentales Wesen«, eine höhere Stufe des Bewußtseins. Diese Umwandlung geschieht nicht irgendwo und irgendwie im Jenseits, sondern hier auf der Erde. »Wir werden also unseren Gipfel nicht da oben suchen, sondern dicht am Boden«, so der Aurobindo-Biograph Satprem.
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Über das Thema <New Age und Utopie> sprachen wir mit Dieter Hagenbach. Dieter Hagenbach (geb. 1943) machte eine Hochbauzeichnerlehre und ein Innenausbau-Praktikum, bevor er 1966 bis 1970 Architektur studierte. 1970 Studienaufenthalt in London, 1971 Indienreise. 1972 Eröffnung eines Ladens in Basel, der 1975 zur Buchhandlung »Sphinx« wird. Im selben Jahr Gründung des Sphinx-Verlags Basel, den er auf New Age-Literatur spezialisierte.
Über das Thema <Evolution und Utopie> sprachen wir mit Michael Lukas Moeller. Michael Lukas Moeller (geb. 1937) studierte Medizin und Philosophie, 1967 Promotion, 1971 Habilitation. Zu seiner Grundausbildung als Psychoanalytiker Weiterbildung zum Gruppendynamiker. Er hat sich besonders für die Selbsthilfeprogramme eingesetzt. Seit 1983 Leiter der Abteilung medizinische Psychologie am Klinikum der Universität Frankfurt. Veröffentlichungen: <Selbsthilfegruppen> (1978), <Anders helfen und Selbsthilfegruppen> (1981).
Interview mit Dieter Hagenbach
Viele Leute denken, New Age und Esoterik seien dasselbe.
Das hängt natürlich ganz davon ab, was die Leute unter diesen beiden Begriffen verstehen. Esoterik kann sowohl das Innere Wissen als auch Geheimwissen bedeuten. Unter New Age versteht man im allgemeinen eine bessere Zukunft nach dem derzeitigen persönlichen und gesellschaftlichen Wandel. Es ist also keinesfalls dasselbe, hat aber insofern miteinander zu tun, als daß sich esoterisch eingestimmte Menschen vermutlich etwas leichter mit den Gegebenheiten einer neuen Sicht der Welt auseinandersetzen können.
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Ist denn Metaphysik nicht ein wesentlicher Bestandteil von New Age?
Natürlich, und heutzutage sogar erst recht, nachdem wir ja über die Quantenphysik auch wissenschaftlich einen viel direkteren Zugang erhalten, um von der Physik zur Ebene der Metaphysik zu gelangen.
Es war die Quantenphysik, die uns gezeigt hat, daß unsere Realität des alltäglichen Lebens nicht die einzige Realität ist. Unser bisheriges mechanistisches Weltbild, das davon ausgeht, daß das Universum wie ein Uhrwerk funktioniert, daß die Welt in ihre Einzelteile zerlegt und aus deren Analyse auf das Ganze geschlossen werden kann, ist überholt. Bei der Erforschung der Atome und vor allem der subatomaren Teilchen hat sich herausgestellt, daß wir grundlegend umdenken müssen: Die Welt ist keine Maschine, die aus voneinander isolierten Grundbausteinen besteht, sondern ein offenes System.
Alle Phänomene sind miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Nur an der Oberfläche scheinen die Objekte voneinander getrennt. In einer tieferen Dimension der Moleküle, Atome, Teilchen gibt es überhaupt keine Objekte mehr, sondern nur noch ein Netz von Beziehungen. Die zweite grundlegende Entdeckung der Neuen Physik ist die, daß die Natur in sich dynamisch ist. Es gibt keine träge, starre, passive Materie, sondern Materie ist immer ruhelos, in Bewegung. Masse ist nur eine Form von Energie. Die kleinsten Teilchen sind kein Stoff, sondern dynamische Energiemuster.
Nun der Bezug zur Metaphysik: Die mystische Tradition ist auf dem Grundsatz »Eins ist alles und alles ist eins« aufgebaut. Fritjof Capra hat in seinem Buch Das Tao der Physik aufgezeigt, daß sich die modernen Physiker plötzlich in das Gebiet der uralten östlichen Weisheiten hineinkatapultiert sehen, daß das Leben, der Kosmos ein Tanz ist, daß Raum und Zeit miteinander verwoben sind, daß die Welt nicht streng nach Ursache und Wirkung aufgeteilt ist, sondern daß alles gleichzeitig ist.
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Also könnte man sagen, daß die Frage nach der Metaphysik gar nicht mehr zu stellen ist, weil Physik und Metaphysik miteinander verschmolzen sind.
Man sollte die Frage nicht mehr gleich stellen, nachdem man weiß, daß ein fließender Übergang von der Physik zur Metaphysik besteht.
Mir fällt aber auf, daß in New Age-Büchern sehr oft die Rede von Gott oder einer göttlichen Instanz ist. Ist New Age nicht doch sehr religiös orientiert?
Es geht überhaupt nicht darum, den Menschen Gott, Götter oder irgendeine Religion wegzunehmen, ganz abgesehen davon, daß man das gar nicht kann oder soll. Ich würde hingegen Religion durch Spiritualität ersetzen, nicht zuletzt weil Spiritualität ein ganz besonderes Verständnis der Natur mit einschließt, also auch ein dringend notwendiges besseres Verhältnis zur Umwelt. Keine westliche Kultur oder Politik hat uns bisher in ein ökologisches Weltbild geführt.
Da gibt es ja die Grünen, die aber zum Teil bestimmt große Schwierigkeiten haben, sich zu der New Age-Bewegung zu rechnen. Sie haben ein anderes als das auf Naturbeherrschung ausgerichtete Bewußtsein, aber das »andere Bewußtsein« begrenzt sich auf die Realität.
New Age ist kein definiertes Ziel. Die New Age-Bewegung umschließt daher ein großes Spektrum der verschiedensten Gruppierungen. Daher verstehe ich die Grünen als die logische Konsequenz einer Politik, die in den sechziger Jahren bereits die neuen Linken entstehen ließ.
Das Aufregende an New Age ist, daß sich die Entdeckungen der Neuen Physik — die Verknüpfung aller Phänomene und die in sich dynamische Natur — auf alle anderen Wissenschaften übertragen lassen.
Ein Beispiel dafür ist der Biologe Rupert Sheldrake, der mit seiner Theorie der morphogenetischen Felder eine bahnbrechende Vision in die Welt gesetzt hat.
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Eine englische Tageszeitung hat 15.000 Pfund ausgesetzt für denjenigen Wissenschaftler, der diese Theorie entweder widerlegt oder bestätigt. Kernpunkt der Hypothese ist die Wiederholung von Formen und Organisationsmustern, und zwar unabhängig von Raum und Zeit. Wenn also zum Beispiel Ratten in New York gelernt haben, aus einem Labyrinth den richtigen Weg zu finden, so lernen Ratten in Neu-Delhi, die also zeitlich und räumlich nichts mit den anderen zu tun haben, schneller, den Weg aus diesem Labyrinth zu finden, eben weil es die Ratten in New York schon gelernt haben. Oder wenn irgendein Affe auf einer Insel entdeckt, daß man Kartoffeln vor dem Essen waschen sollte, weil sie dann besser schmecken, so werden auf einer anderen Insel innerhalb kürzester Zeit alle Affen anfangen, die Kartoffeln zu waschen.
Und was bedeutet das?
Daraus wird geschlossen, daß die Evolution, also die Höherentwicklung von Mensch, Erde und Universum, nicht, wie im mechanistischen Weltbild angenommen, linear, also nach Ursache und Wirkung aufeinander bezogen verläuft, sondern sprunghaft. Dies kann sich vor allem auch auf das Bewußtsein beziehen, das gemäß dieser Theorie nicht, nur fähig, sondern auch bereit ist, einen Sprung zu machen.
Ähnliches geschieht in der Medizin, im Gesundheitswesen. Auch dort hatte man den Menschen bisher als Maschine betrachtet und Krankheit als den Defekt eines Einzelteiles. Nun lehren uns Schamanen und andere Heiler die ganzheitliche Sicht des Körpers und seiner Funktionen und daß der Körper mehr ist als die Summe seiner Teile.
Überhaupt ist New Age ja nicht nur eine Ansammlung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern der ganze Mensch soll transformiert werden, besonders auch seine Beziehungen zu anderen Menschen.
Ja, eine Reihe von New Age-Autoren beschäftigt sich mit sozialen Beziehungen wie Partnerschaft, Ehe, Familie, zum Beispiel Sergius Golowin, der versucht, den Gedanken der Sippen und Großfamilien wiederzubeleben, oder Sam Keen: In seinem Buch Die Lust an der Liebe beschreibt er, was er unter Liebe versteht. Sie ist für ihn mehr als Sex und Sentimentalität, mehr als familiäre Geborgenheit. Die Liebe ist kein <privates> Gefühl, sie verbindet alles miteinander, vom Körper bis zur Politik. Keen sagt: »Ich bin mein Körper. Ich bin meine Familie. Ich bin meine Umwelt.«
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Oder Marilyn Ferguson, die in Millennium über neue Formen von Beziehungen spricht: »Nur wenn man andere Menschen — gemäß dem alten Weltbild — als von sich selber getrennt betrachtet, kann man Hunger und Elend ungerührt hinnehmen. Wenn man erkennt, wie eng wir wirklich alle miteinander verbunden sind, ändert das die gesamte Einstellung der Gesellschaft. Es entsteht Verantwortung, Gemeinschaft, Brüderlichkeit.«
Man bezeichnet dieses neue Bewußtsein oft als planetares Bewußtsein.
Was bedeutet das eigentlich?Planetares Bewußtsein bedeutet, die Menschen und ihre Erde und alles, was damit zusammenhängt, in einer ganzheitlichen Sicht zu sehen. Jim Lovelock zum Beispiel hat vor einigen Jahren die Gaia-Hypothese (Gaia = griech. Erde) aufgestellt in der Annahme, daß unser Planet mit seiner atmosphärischen Hülle ein lebender Organismus ist, mit allem, was darauf geboren wird, sich entwickelt und wieder stirbt.
Dieses kosmische, planetare, dieses Gaia-Bewußtsein läßt den einzelnen Menschen in gewisser Weise auch sehr zusammenschrumpfen.
Ich würde es eher umgekehrt sehen, nämlich daß der Mensch sich ausdehnt, daß der Mensch sich transparenter macht, durchlässiger. Bisher hat er sich immer mehr zusammengezogen, auf sich selbst konzentriert, seinen Standort auf der Welt gesucht und aus diesem abgegrenzten Standort heraus versucht zu agieren. Ich glaube, daß der Mensch jetzt dabei ist, sich zu erweitern, empfänglicher zu werden, zärtlicher, liebender und gefühlvoller. Es gibt sehr viele Entwicklungen in dieser Richtung. Zum einen ist da die Bewußtseinsrevolution der sechziger Jahre zu nennen, als die Erweiterung des Bewußtseins gesucht wurde, ein Ansatz, der sich in den achtziger Jahren auf einer anderen Ebene in vielen Gruppen bereits etabliert hat. Und dann war da ja auch der feministische Ansatz, der sich gleichzeitig formulierte.
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Daß gerade jetzt Wege gesucht werden, das Patriarchat abzuschaffen, hängt auch wieder damit zusammen, daß die Gaia-Hypothese darauf basiert, die Erde als weiblichen Organismus anzusehen. Dieser weibliche Organismus wurde seit 6.000 Jahren patriarchalisch unterdrückt und vergewaltigt. Und eben jetzt ist es an der Zeit, in Gottes Namen oder eben im Namen von Mutter Erde, daß wir unser »Raumschiff Erde« (ein Ausdruck von Buckminster Fuller) ganzheitlich betrachten und ein neues Verhältnis zu uns und unserer Welt finden. Dazu muß sich jeder einzelne bereit finden.
Sie haben vorhin gesagt, daß der Menschheit eine Art Sprung bevorsteht: Wie soll der genau aussehen!
Das ist ein sehr heikles Thema, denn ich glaube, daß nur ein sehr radikaler Bewußtseinswandel uns etwas bringen kann. Ich könnte die Frage auch zurückgeben: Sehen Sie eine Möglichkeit, daß unsere derzeitige Gesellschaft alle Probleme, von der nuklearen Bedrohung bis zur Umweltverschmutzung, lösen kann? Haben Sie das Gefühl, daß unsere Politiker und Wirtschaftsmanager uns in den nächsten paar Jahren helfen können? Ich persönlich glaube, daß keine Politik, keine Kultur, keine Gesetze die Welt in dem Maße verändern können wie wir selbst. Der Wandel muß zuerst bei jedem einzelnen stattfinden; erst dann greift er auf die Gesellschaft über. »Global denken - lokal handeln«, und als Zusatz noch: im einzelnen verändern.
Dieser Bewußtseinswandel könnte aber auch eine langsame Entwicklung sein. Wohin springen wir denn?
»Könnte«, aber das ist etwas, was letztlich keiner will, weil die meisten mittlerweile wissen, daß die uns verbleibende Zeit rasch vergeht.
Es gibt ja verschiedene Ideen von der Entwicklung eines Übermenschen. Nicht der faschistische Herrenmensch ist da gemeint, sondern eine Weiterentwicklung in der Evolution, eine neue Spezies Mensch. Meinen Sie das?
Der Begriff des Übermenschen ist in unserer Gesellschaft vieldeutig und daher gefährlich. Ich meine einfach, daß der Mensch, daß das Bewußtsem des Menschen einen Quantensprung macht. Das hat nichts damit zu tun, daß einzelne Menschen besser als andere sind.
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Aber es wird wahrscheinlich für einige Menschen sehr schwer werden, sich mit dieser neuen Situation auseinanderzusetzen. Ich habe einfach, sei es durch die Visionen der Indianer oder durch Äußerungen hochdotierter Wissenschaftler, das Gefühl, daß uns so etwas bevorsteht. Und ich halte das für die einzige Lösung.
Halten Sie diese Vision eines Neuen Menschen für eine Utopie?
Natürlich kann oder wird man sie für eine Utopie ansehen. Ich halte jedoch den Begriff »Vision« für zutreffender und zeitgemäßer. Das Phänomen Vision ist insofern in der Evolution Inbegriffen, als daß man heute zunehmend weiß, daß das menschliche Gehirn mit Visionen arbeitet, d. h. daß der Mensch nicht nur in der Lage ist, in die Zukunft zu blicken, sondern daß er sich, in Anpassung seiner Lebensumstände, mehr und mehr diese außerordentliche Fähigkeit zunutze machen wird.
New Age ist also dann die Superutopie, die alles umfaßt.
Keine Superutopie, sondern erstmals in der Geschichte der Menschheit, soweit sie uns bekannt ist, wird sich der Mensch aktiv an der Evolution beteiligen, und zwar in dem Maße, wie er die >Gesetze< der Evolution kennt und seine Visionen einbringen kann. Denn wie schon Timothy Leary treffend sagt, »man kann die Zukunft nur soweit verstehen, wie man die Vergangenheit begriffen hat«.
Ich finde, daß man sich in der New Age-Bewegung zu wenig mit der Frage der Macht auseinandersetzt. Die Leute, die die Macht haben, den Dritten Weltkrieg auszulösen, sind doch ganz offensichtlich mit ihrem Bewußtsein noch nicht annäherungsweise so weit, wie Sie es gerne hätten.
Auf den ersten Blick gesehen stimmt das, denn die meisten Politiker stehen bewußtseinsmäßig auf der Stufe der Dinosaurier. Interessant ist aber, festzustellen, daß in erster Linie Manager in Führungspositionen, und dazu zähle ich auch die ausschlaggebenden Köpfe in der Politik, am stärksten die Entwicklungen, um die es hier geht, verfolgen und bereits seit den sechziger Jahren in ihr Denken und in ihre Arbeit integrieren.
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Dann haben, sagen wir, 90 Prozent der Menschheit ein New Age-Bewußtsein, aber die restlichen zehn Personen können, weil sie die Macht haben, leicht die Erde vernichten. Wie bringt man denn gerade diejenigen Leute, die so gefährlich sind, zu einem anderen Bewußtsein?
Wie wir ja am Beispiel von China – die unerwartete Loslösung von überholten Dogmen des Marxismus-Leninismus – und der UdSSR — die überraschende Ernennung des >jungen< Gorbatschow zum Parteichef - gesehen haben, vollziehen sich radikale Veränderungen personeller und sozio-kultureller Natur in letzter Zeit sehr rasch. Ich möchte nochmals auf Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder verweisen und auf die Geschichte der Affen, die plötzlich beginnen, ihre Kartoffeln zu waschen. Diese >Sprünge< können und werden auch die restlichen zehn Prozent erfassen.
Aber vielleicht nicht rechtzeitig genug?
Wenn alle glauben, daß es nicht rechtzeitig genug passiert, würde die ganze Evolution nicht stimmen. Ich glaube, daß es immer ein Kampf war, und es reden auch immer mehr New Age-Leute, im Sinne von »spirituellen Kriegern«, von einem geistigen Kampf, den jeder einzelne selbst führt. Früher wurde Wissen zum Geheimwissen, weil es von Kirche und Staat unterdrückt wurde. Galileo Galilei oder Giordano Bruno, Vorreiter der New Age-Philosophie, wurden eingekerkert und verbrannt, ihre Schriften wurden verboten. Dieses Gedankengut war Esoterik. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Wenn Sie sich in den Buchläden umschauen, wieviel Wissen im Moment verfügbar ist, so ist das ungeheuer. Es gibt eigentlich nichts, was es nicht gibt.
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Ich möchte noch einmal zurückkommen auf Spiritualität, Religiosität. Konkret gefragt: Welche Rolle spielt in New Age die Vorstellung von einem Gott?
Eine andere als bisher, was in erster Linie einmal mehr mit dem neuen Weltbild und dementsprechend mit dem Bild eines Gottes zu tun hat. Der väterliche Gott entspricht einer Sicht der Welt im ausgehenden Mittelalter. Die Welt hat sich seither nicht verändert, hingegen unser Wissen darüber, unsere Intelligenz, unser Bewußtsein. Je höher diese entwickelt und je mehr diese erweitert werden, desto <höher>, d.h. komplexer, gewaltiger und abstrakter wird sich die Vorstellung von Gott respektive einer höheren Wesenheit gestalten.
Heißt das andersherum, daß die Vorstellung eines Gottes im christlichen Sinn keinen Platz hat im New Age-Bewußtsein?
Nicht unbedingt, denn ich zwinge niemanden, seinen Gott gegen etwas auszutauschen, mit dem sie/er nicht auskommt. Doch mit zunehmender Erkenntnis wird jeder Christ feststellen, daß ihr/ihm ein einziger Gott nicht mehr reicht. Sie/er wird die tiefere Symbolik der Bibel und des christlichen Glaubenssystems begreifen: daß Spiritualität ein tiefgreifenderes Verständnis der weltlichen und universellen Vorgänge bewirkt.
Daß es also keine Trennung gibt zwischen Gott und seiner Schöpfung, sondern daß die Schöpfung selbst Gott ist.
Genau, und je vollkommener wir mit Gaia und dem Kosmos in Einklang sind und je mehr wir unser Bewußtsein erweitern, desto eher können wir uns von der patriarchalischen, sehr oft unterdrückenden Gottesvorstellung lösen. Wir werden die Schöpfung als eines der gewaltigsten naturwissenschaftlichen Ereignisse innerhalb der Einigkeit begreifen und verstehen, um an der ebenso phantastischen Evolution integrierend teilzuhaben.
Interview mit Michael Lukas Moeller
Ist die Utopie ein überflüssiger Luxus für die Evolution oder geradezu notwendig als Steuerung, als Zielrichtung?
Es gibt in der Evolutionsforschung eine neuere Erkenntnis, die besagt, daß die Evolution, der Weg der Evolution, in gewisser Weise nicht determiniert ist von Mutation und Selektion, sondern daß die Selektionsbedingungen festgelegt werden durch das Verhalten der Lebewesen.
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Die Selektion wird natürlich anders aussehen, je nachdem, ob sich nun ein Lebewesen, ich sage es jetzt einmal ganz primitiv, mehr nach rechts oder nach links wendet. Damit steuert es unterschiedliche selektive Bedingungen an, in welches Milieu sich das Lebewesen nämlich hineinbegibt, und legt gleichzeitig die Selektionsbedingungen dieser Art fest.
Das ist für mich deshalb so interessant, weil die heutige Position, unsere Position innerhalb der Evolution, die ist, daß wir zum erstenmal Lebewesen sind, die auf sehr radikale Weise ihr eigenes Milieu festlegen. Lange Zeit ist das nicht so gewesen, aber im Augenblick haben wir die Situation, daß wir durch die Tatsache, daß wir unsere Gesellschaft und unsere Umwelt selber gestalten, gleichzeitig unsere Selektionsbedingungen festlegen. Dieser Prozeß wird letztlich durch Utopien gesteuert. So wird plötzlich durch meine Utopie wiederum die Evolution gesteuert, doch ohne daß ich in der Lage bin, das zu überblicken. Ich glaube nämlich, daß die Utopie, die ich verfolge, eine Entwicklung ist, die keine Sicherheit kennt.
Das heißt, sie hat in einem komplexen Wechselwirkungsgefüge so viele Neben- und Quer- und Wechselwirkungen, daß ich nicht weiß, was passiert. Dazu fällt mit Lao-tse ein, der von »Prophezeiung« spricht. Eine Utopie ist ja ein Stück Hoffnung auf eine eintreffende Prophezeiung. Ich hoffe, daß meine Utopie auch eintrifft. Diese Einstellung halte ich für den großen menschlichen Irrtum, da sie mit dem Doppelsinn von Utopie nicht ernst macht: daß nämlich Utopie nicht nur noch nicht da ist, sondern auch nicht mehr da sein wird, wenn ich mich auf den Weg mache, sie zu realisieren. Sie wird dann irgend etwas anderes.
Aber trotzdem nicht wirkungslos.
Nein, sie ist ein Motor; man könnte jetzt psychoanalytisch sagen: Sie müßte ein Motor aus der Vergangenheit sein. Wenn ich eine Utopie habe, dann ist sie mit Sicherheit bestimmt durch meine Lebensgeschichte, also durch meine Vergangenheit. Die Qualität der Utopie, so würde man soziologisch sagen, ist kontrafaktisch, das heißt, sie ist gegen die Tatsachen gerichtet, die im Augenblick herrschen, sonst würde ich die Utopie gar nicht entwerfen.
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Man kann das, was verändert werden muß, nach außen projizieren, aber das halte ich für sehr gefährlich. Man hofft, daß die Menschheit sich bessert. Was dabei übersehen wird, ist, daß sich die Menschheit gar nicht bessern kann. Sondern es gibt nur einen einzigen Weg: daß ich allein mich bessere. Und wenn alle das machen, dann ändert sich die Menschheit. Der Weg geht nicht über die Veränderung des anderen, sondern über die Veränderung meiner selbst. Also kann man im Grunde Utopien nie für andere entwerfen, sondern nur für sich. In dem Augenblick, wo man Utopien für andere entwirft, projiziert man seine eigene Utopie auf sie, und dann hat diese Utopie keinen Ort mehr.
Doch wenn ich zum Beispiel die Utopie eines gerechten Staatswesens entwerfe, so kann ich das nicht nur für mich tun, sonst bleibt sie wirklich nur in meinem Kopf.
Doch, man kann sagen: Ich möchte gerecht sein, ich möchte mich so verändern, daß ich gerecht werde.
Sie finden es nicht legitim, zum Beispiel zu sagen, ich möchte eine Polizei in diesem Staat, die keine Waffen hat und friedliebend ist?
Der Weg geht nicht dahin, daß die Polizei ohne Waffen ist, sondern daß ich ein Polizist ohne Waffen werde.
Also kann ich nichts von anderen verlangen, was nicht in mir selbst ist.
Ja, genau.
Etwas von anderen zu verlangen, halte ich dennoch für einen legitimen Bestandteil einer Utopie, sonst bin ich ja völlig auf mich allein gestellt.
Da fange ich an, skeptisch zu werden. Utopie ist in dem Augenblick für mich legitim, da ich sie als meine Wirklichkeit darstelle, also als eine Utopie, die ich mir wünsche; in dem Augenblick aber, wo sie zu einer Vorschrift für andere wird, findet eine Grenzüberschreitung statt, und dann dient die Utopie zur Beherrschung anderer.
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Als Psychoanalytiker dürften Sie auch eine Utopie von menschlichen Beziehungen haben.
Natürlich, das merke ich bei meiner Arbeit mit Selbsthilfegruppen; da wird mir immer deutlicher, daß dahinter eine besondere utopische Vorstellung menschlicher Beziehung steht. Wenn wir zwei uns unterhalten, dann ist es der >Königsweg<, daß ich mein Erleben darstelle zu allem: zu Ihnen, zu mir, zur Welt. Doch in dem Augenblick, da ich anfange: »Stellen Sie mir nicht solche Fragen«, werde ich übergriffig, und das nenne ich Kolonialisierung, was nicht meiner Utopie entspricht.
Nun könnte man diese Auffassung einer wesentlichen Beziehung schon als Utopie bezeichnen. Das sehe ich immer bei Paaren: Alle Paare kolonialisieren sich von oben bis unten, und daß ich das nicht will, ist eine Utopie. Woher nehme ich die? Ich nehme sie eben ganz konkret aus meiner eigenen Erfahrung, daß ich sage: Ich möchte nicht kolonialisiert werden, oder daß ich selber zuviel Unsinn erlebt habe, wenn ich andere kolonialisiere.
Wir können uns vielleicht darauf einigen, daß man nichts von anderen verlangen kann, was man nicht selber bereit ist zu realisieren.
Ja, das geht in eine unheimliche Tiefe. Man kann eigentlich von anderen nicht verlangen, was man nicht selber ist. Ich bin sehr stark von Lao-tse beeinflußt, und von ihm gibt es einen Satz, der etwa lautet: Der Weise erfüllt seinen Teil, verlangt das aber nicht von anderen.
Der Witz ist, daß die großen Weisen aus dem asiatischen Raum nicht in unserem Sinne gelehrt haben, sondern sie sind gewesen, wie sie sind, und haben dadurch gewirkt. Ich nenne das eine Induktion. Man begegnet manchen Menschen und fühlt sich einfach anders, ohne daß sie irgend etwas sagen. Sie haben ihre Utopie realisiert, und dadurch, daß sie die Utopie realisiert haben, wirkt diese plötzlich. Es gibt für mich eine Kontrastposition, daß es nämlich einen Ort gibt, an dem ich bin und wo die Utopie nicht mehr existiert. Indem ein Gläubiger seinen Gott gefunden hat, ist er nicht mehr in der Utopie. Dann ist er einfach da.
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Also Vollkommenheit.
Ja, die Vollkommenheit wäre eine Spezialqualifikation dieser Begegnung oder dieser Existenzform, wie immer man das auch nennen will. Ich würde es nicht »vollkommen« nennen, oder wenn, dann nicht im Sinne einer Perfektion, nicht im Sinne von Hantieren, gekonntem Hantieren.
Kommen wir zur Evolution zurück. Wenn die Menschen durch die Gestaltung ihres Milieus die Evolution beeinflussen, so heißt das ja, daß auch das utopische Denken nicht sinnlos oder luxuriös ist, sondern ein Wesensbestandteil der Evolution.
Wenn ich eine Utopie habe, erfüllt mich eine Phantasie, ein Traum, ein Traum in Richtung - ja, von was eigentlich? Zunächst denkt man an die Behebung von Leiden. Doch das akzeptiere ich nicht mehr, das ist eine viel zu spezifische Form von Utopie, wenn man die Leidlosigkeit als erstrebenswert ansieht.
Die Sehnsucht nach Glück ist es doch wohl.
Ja, wobei Glück unter Umständen stärkstes Leiden enthalten kann; ich denke z. B. an den Glücksbegriff von Nietzsche und sogar auch von Novalis von der großen Gesundheit. Eine große Gesundheit ist erst da, wenn man sozusagen alle Leiden durchlebt hat, das ist dann das wahre Glück. Glück und Unglück, jetzt komme ich wieder auf Lao-tse, zeigen sich gemeinsam, das heißt, man kann Glück nicht erleben, wenn man nicht auch Unglück erlebt. Also würde ich heute Utopie nicht mehr mit der Zielvorstellung Glück definieren.
Ein Entwurf kann sich nur im Hinblick auf eine bestimmte Position entwickeln. Man muß eine Realität haben, um die Noch-nicht-Realität entwerfen zu könne. Topos und Un-Topos, Ort und Nirgendwo treten gemeinsam auf, bedingen sich wechselseitig, erzeugen sich wechselseitig. Folglich sehe ich das Leiden nicht unbedingt als etwas Schlimmes an, und es kann sein, daß ich einen leidenslosen Zustand, einen Zustand ohne Unglück gar nicht will, weil ich dann eben Glück nicht erleben könnte.
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Der ganze evolutionäre Prozeß bedeutet ja, daß sich die Lebewesen an das Milieu anpassen, bei uns über den Weg, daß wir das Milieu selber festlegen. Dies ist eine recht ungewöhnliche Anpassung, denn es bedeutet nicht, daß wir uns verändern, sondern daß wir das Milieu und damit uns verändern. Oder wir gestalten das Milieu erst einmal so, daß es uns angepaßt ist, was übrigens die Definition von Delinquenz ist, von Soziopathie, nämlich daß man andere leiden macht.
Man könnte die ganze Umweltzerstörung, die dadurch zustande kommt, daß wir nicht genug Intelligenz besitzen, um die ganzen Systemwechselwirkungen zu erfassen, auch in dem Sinne diagnostizieren, daß die Gesellschaft selbst an Soziopathie leidet, an einer Delinquenz. Den anderen leiden zu machen statt sich selbst, das ist der Unterschied zwischen Perversion und Neurose. Der Neurotiker macht sich selbst leidend, während der Perverse, der Delinquent, der Soziopath, den anderen leiden macht. Der Haken daran ist jedoch, daß wir nur einen Kosmos haben, aus ihm nicht herauskommen und jetzt sozusagen die Gefangenen unseres eigenen Verhaltens sind.
Wenn ich einmal den Stand der Evolution von heute betrachte oder auch irgendeinen Stand der Evolution bei der Entwicklung von Lebewesen, so stelle ich fest, daß sich die Lebewesen immer an die Umwelt angepaßt haben. Das Heft hatte ganz offensichtlich, so meinte man jedenfalls bisher, immer die Umwelt in der Hand; Klimaveränderungen haben z. B. dazu geführt, daß die Tiere sich anpassen mußten, und das bedeutete Selektion, denn es wurden immer die herausgefiltert, die am geeignetsten zum Überleben waren.
Sind Menschen, kosmisch gesehen, überhaupt von Bedeutung? Ob wir untergehen — wir müssen ja sowieso sterben — oder nicht, ist im Grunde — da ich an der Friedensarbeit an der Universität tätig bin, dürfte ich das eigentlich gar nicht so laut sagen — fast ein untergeordnetes Problem.
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Das ist doch wohl der Unterschied zwischen Evolution und Utopie, denn Utopie hat nur dann Sinn, wenn es ihr ums Überleben der Menschen geht, um das Minimum zu nennen. Sonst wäre sie absurd. Nun gibt es ja nicht nur die Alternative, entweder ausgerottet zu werden oder so zu bleiben, wie wir sind, sondern es gibt auch einige Konzepte von der Entwicklung eines Übermenschen: daß wir eben gar nicht auf dem höchstmöglichen Punkt sind, sondern daß wir uns noch ganz anders entwickeln können. Ein Fortschritt in der Evolution.
Nehmen wir Nietzsche; er hat sehr viel gefühlt und nachträglich gedacht und hat einen Entwurf verfaßt, in dem übrigens das Leiden eine sehr große Rolle spielt. Für ihn verändert sich in dem Augenblick, da sich jemand auf den Weg macht, diesen Übermenschen in sich zu entwickeln, mit jedem Schritt alles. Indem er einen Schritt in dieser Entwicklung weitermacht, verändert er die Beziehung zwischen sich und der Umwelt, und damit, ich sage es einmal kraß, muß der nächste Schritt in eine andere Richtung gehen als der erste Schritt. Das heißt also, daß die Utopie notwendigerweise nur für den ersten Schritt entworfen ist. Macht man den ersten Schritt, muß man eine neue Utopie entwerfen, weil sich inzwischen alles verändert hat. Daher darf eine Utopie nie etwas Statisches haben, sondern muß eine Entwicklungsgestalt sein.
Das ist ja das Grundparadox der Utopie: daß sie einerseits etwas entwirft, und ein Entwurf ist eine Fixierung, doch gleichzeitig muß das Ganze schon wieder kaputtgemacht werden, um weiterhin »utopisch« zu bleiben.
Die Evolution bringt mich auf einen Punkt, daß ich eine bestimmte Utopie entwerfe. In dem Augenblick, da ich diese entwerfe, ist die Evolution jedoch verändert. Und das ist bereits wieder ein Moment in der Evolution. Ich glaube, das ist der Punkt, bei dem unser Gehirn nicht mehr ausreicht:
daß es diese merkwürdigen Momente gibt, in denen man einerseits von der Evolution quasi die Utopie geschenkt bekommt im Sinne, wie es das Wort »Schöpfer« sagt, nämlich man schöpft einfach nur von etwas, was eigentlich schon da ist, daß aber der Augenblick, in dem man schöpft, schon wieder die Evolution verändert.
Es gibt tausend Sachen, über die man weiter nachdenken kann, etwa: Hat die Evolution eine Richtung oder hat sie keine? Natürlich hat sie eine Richtung, denn es gibt bei ihr kein Zurück.
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Da so etwas aber überhaupt nicht sein <kann>, hat es die Physiker dazu bewogen, anzunehmen, daß im Urknall zugleich eine Doppelwelt entstanden ist: eine, die vorwärts, und eine, die rückwärts geht, und so hebt sich alles wieder auf. Das sind typisch menschliche Gedankengänge. Nun kann man sagen, daß der Mensch eben nur vor und zurück denken kann; daß es aber unter Umständen ganz andere Vorstellungsformen gibt, geht in unser Gehirn nicht hinein. Daher glaube ich, daß für das, was in der Welt passiert, unser Gehirn einfach zu klein ist.
Dies fällt uns merkwürdigerweise erst heutzutage auf.
Natürlich könnte man jetzt überlegen, woher das kommt. Doch als Antwort kann man nur sagen, daß wir (eigentlich nicht anders als die Urmenschen) vor ständig überraschenden Momenten stehen. Das heißt, die Gesetzlosigkeit der Gesellschaft,, dieses Undurchdringliche, Komplexe, das kein Mensch überschauen kann, ist praktisch nicht anders, als sie auch früher schon war, wo die Naturgewalten einfach nicht zu durchschauen waren. Wir sagen heute, daß unser Gehirn nicht ausreicht; damals hat man es im Grunde auch schon gesagt.
Hätte oder hat z.B. Goethe gesagt, unser Gehirn reicht einfach nicht aus?
Ja, im Prinzip schon, er hat es nur nicht so formuliert. »Unser Gehirn reicht nicht aus« — das wäre ein bißchen zu prosaisch für ihn gewesen. Goethe hat es positiv ausgedrückt, indem er dem Sinn nach sagte: Wir ahnen, und was wir denken, ist ohnehin nicht viel wert. Es ist tatsächlich so — die Dummheit der Rationalität liegt darin, daß sie denkt, in dem Augenblick, da sie eines auf etwas anderes zurückführen kann, hätte sie irgend etwas erklärt. Tatsächlich hat sie aber die Existenz überhaupt nicht erklärt, denn sie hat nichts anderes gemacht, als daß sie etwas nachgezeichnet hat, das ohnehin schon da ist.
Ich glaube auch, daß wir in dem Augenblick, in dem wir uns auf Gefühlsebenen oder noch andere Ebenen begeben, zu anderen Utopieformen kommen.
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Im Zen z.B. heißt es, daß es eine Wahrnehmungs- oder Empfangsform jenseits von Denken und Fühlen gibt. Man kann das Denken nicht durch Fühlen ersetzen und das Fühlen nicht durch Denken, sondern beides muß vorhanden sein, um auf etwas Neues zu kommen.
Vielleicht gelangt man eines Tages zu der Utopie, keine Utopie mehr zu haben. Ich kenne aus meinem Leben Momente, in der Liebe z.B., in denen ich das Gefühl habe: Jetzt habe ich es begriffen. Plötzlich ist da ein Riesenraum an Utopie verschwunden, weil man etwas wirklich erlebt hat.
So etwas könnte ich mir vorstellen: Erlebnisse, die ich nicht kenne, die man aber überall hört, wo Menschen im christlichen Raum Gott begegnet sind, im Zen-Raum die Erleuchtung haben oder bei irgendeinem Indianerstamm irgend etwas anderes erleben. Plötzlich begreifen sie, daß sie da sind, und in dem Augenblick, da sie begreifen, daß sie da sind, ist die Utopie weg, gibt es kein Bedürfnis mehr danach. Denn ein Bedürfnis nach Utopie hat man eigentlich nur, wenn man unter Entwicklungs- oder Veränderungsdruck steht.
Darauf muß ich entgegnen, daß es in der Evolution keinen Stillstand gibt.
Das ist richtig. Aber es gibt auch – und da fängt es an, daß ich an unserem Gehirn verzweifle – einen Zustand, daß man im Strom dahintreibt, im Entwicklungsstrom, und das einfach geschehen läßt. Irgendwo habe ich dann das Gefühl: Plötzlich ist alles zu Ende, dies ist der Punkt, daß es keine Utopie mehr gibt - eine Ruhe, die gerade im Fließen ist, ein Angekommensein, das gerade in der Bewegung ist. Die größte Utopie wäre es also, keine Utopie mehr haben zu müssen, weil man selbst sozusagen die Utopie ist.
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Die unwirkliche Realität der Realisten
Die realistische Haltung ... ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit.
--Andre Breton--Das häßliche junge Entlein war entsetzlich traurig. Seine Entenfamilie hatte es weggejagt, weil es so ganz aus der Art geschlagen war, und nun war es bei einem Huhn und einer Katze gelandet. »Kannst du Eier legen?« fragte das Huhn. »Nein«, sagte das Entlein. Darauf das Huhn: »So wirst du deinen Mund halten.« Die Katze fragte: »Kannst du einen krummen Buckel machen, spinnen und Funken sprühen?« — »Nein«, mußte das Entlein antworten. Darauf die Katze: »So darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute miteinander sprechen.«
Bekanntlich war das häßliche junge Entlein ein schöner Schwan, doch aus der Perspektive der Enten, Hühner und Katzen war es lediglich eine Nicht-Ente, ein Nicht-Huhn und eine Nicht-Katze. Wer selbstbewußt genug auftritt, kann die Perspektive festlegen, aus der die Dinge betrachtet werden. Er bestimmt, wer die vernünftigen Leute sind und wer den Mund zu halten hat, wenn ebendiese vernünftigen Leute miteinander sprechen. Er kann sagen, daß wir uns glücklich schätzen können, in der besten aller möglichen Welten zu leben, oder den unaufhaltsamen, endgültigen Untergang der menschlichen Rasse voraussagen.
Aber es gibt noch eine dritte Sicht. Was ist, wenn, wie der Sri Aurobindo-Schüler Satprem meinte, »die sogenannte Krankheit unseres Zeitalters in Wahrheit eine Geburt ist, die wir nicht zu begreifen vermögen«?
<Wendezeit> hat Fritjof Capra — nicht zu verwechseln mit der hausgemachten bundesrepublikanischen <Wende> — diese Phase des Umbruchs genannt.
»Um unsere vielschichtige Kulturkrise zu verstehen, müssen wir uns eine extrem breit angelegte Anschauungsweise zu eigen machen und unsere Situation im Zusammenhang der menschlichen kulturellen Evolution sehen. Wir müssen unsere Perspektive verlagern vom Starren auf das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf den Überblick über eine Zeitspanne, die Tausende von Jahren umfaßt ...« (Capra)
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Zivilisationen steigen auf und gehen unter, und Zeichen ihres Verfalls sind stets mangelnde Beweglichkeit und der Verlust an sozialer Harmonie. Die herrschenden gesellschaftlichen Institutionen versuchen, an ihren starren Verhaltensmustern festzuhalten, und versteinern dadurch erst recht. Lediglich kreative Minderheiten nehmen zunächst die Herausforderung einer Veränderung an. Das galt bisher für alle Zivilisationen. Unsere Umwälzung ist allerdings deshalb besonders dramatisch, weil es jetzt ums Überleben geht. Capra: »Deshalb ist unsere heutige Krise nicht einfach eine Krise der Individuen, Regierungen oder gesellschaftlichen Institutionen; es handelt sich vielmehr um einen Übergang von weltweiten Dimensionen, eine Wendezeit für Individuen, für unsere Gesellschaft und Zivilisation, und für das planetare Ökosystem.«
Die Perspektive festzusetzen, die Art und Weise zu bestimmen, mit der die Dinge betrachtet werden, ist seit je die Lieblingsbeschäftigung der Realisten. Ja, ein Realist definiert sich als solcher überhaupt dadurch, daß er die richtige Sicht auf die Wirklichkeit hat. Diese Sicht ist wahr, weil sie realistisch ist, und sie ist realistisch, weil sie wahr ist. Logisch? Der <Trick> der Realisten besteht darin, ihre ganz spezielle, beschränkte Sicht der Dinge als die einzig angemessene auszugeben, eben als die einzig nicht beschränkte. Ihr Lieblingssatz: »Das muß man doch mal ganz realistisch sehen«, kündigt mit Sicherheit eine Aussage von höchster subjektiver Verzerrung an. <Ganz realistisch sehen> muß man nämlich zumeist Tatsachen, die anderen schaden und den Realisten nützen. Ganz realistisch sehen muß man, daß unsere verantwortungsvollen Staatsmänner nicht für Gotteslohn arbeiten können. Ganz realistisch sehen muß man, daß der friedliche, wehrlose Westen nur ein Opfer östlicher Bedrohung ist. Ganz realistisch sehen muß man ...
Realisten lieben Fakten, besonders solche, die sie selber in die Welt gesetzt haben. Von denen sagen sie dann, daß man leider nicht an ihnen vorbeikommt — sieht man die Sache realistisch. Daß etwas so ist, wie es ist, rechtfertigt sein Fortbestehen, bis das Gegenteil nützlicher ist. (»Das haben wir schon immer so gemacht, das haben wir noch nie so gemacht, da könnte ja jeder kommen.«)
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Dabei ist es ungeheuer günstig, daß eine Tatsache die andere nach sich zu ziehen pflegt. »Sachzwang« nennt man das, ein Wort, bei dem jedem echten Realisten das Herz aufgeht. Sachzwang ist, wenn man A sagt, damit man B sagen kann, und daß man B zu sagen damit rechtfertigt, daß man A sagen mußte. Wenn man die Erde mit genügend Atomsprengköpfen bestückt hat, ist es ein Sachzwang, auch den Weltraum aufzurüsten: um die unsichere Lage auf der Erde zu verunsichern. Eine verunsicherte Verunsicherung ergibt nämlich (Prinzip der doppelten Verneinung) Sicherheit. Logisch?
Dinge anders zu benennen, als was sie in Wirklichkeit sind, ist die hohe Schule des Realismus. Alice trifft nach ihrem Besuch im Wunderland, »hinter den Spiegeln«, Goggelmoggel, der (sehr verwirrend) Wörtern eine andere als die übliche Bedeutung gibt. Zum Beispiel verwendet er für den Ausdruck »einmalig schlagender Beweis« das Wort »Glocke«.
»>Aber »Glocke« heißt doch gar nicht ein »einmalig schlagender Beweis« <, wandte Alice ein.
>Wenn ich ein Wort gebrauche< sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, >dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.<
>Es fragt sich nun, sagte Alice, >ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.<
>Es fragt sich nun, sagte Goggelmoggel, >wer der Stärkere ist, weiter nichts.<«Der Stärkere sagt auch Nachrüstung, wenn er Aufrüstung meint, und er sagt Peacekeeper, wenn er Kriegswaffen meint. Droht den Realisten die Realität, die sie so gut im Griff haben, gegen alle Spielregeln doch einmal zu entgleiten, so bleiben sie >gelassen<. Die bayerischen Wälder sollen in diesem Jahr zu über 70 Prozent krank sein? Da bleibt man gelassen. Babys sterben an Luftverschmutzung? Das Problem ist nur mit gelassenem Abwarten zu bewältigen. Der Dritte Weltkrieg ist wahrscheinlich? Also, da ist doch nur die allergrößte Gelassenheit am Platz, allerdings zwingend verbunden mit Aufrüstung zum Frieden. Ja, Aufrüstung ist geradezu die in Handlung umgesetzte Gelassenheit.
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Realisten erkennt man konkret daran, daß sie eine besondere Vorliebe für abstrakte Ausdrucksweisen haben. Es wimmelt in ihrer Sprache nur so von »Freiheit« und »Verantwortung«, »Sicherheit« und »Ordnung«, »Frieden« und »Demokratie«. Besonders bewährt hat sich auch, überall da, wo man etwas mißachtet, von »Würde« zu sprechen - die Würde des Alters, die Würde der Frau, die erhabene Würde der Natur. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Artikel 1, Grundgesetz).
Realisten geben vor, den Tatsachen zu dienen, während sie sie hemmungslos manipulieren. Fakten, die gerade nicht nutzen, sind eben gerade keine Fakten. Dafür ist dann etwas anderes, Passenderes gerade das Faktum, auf das es ankommt. Um das erkennen zu können, muß man die Sache eben ganz realistisch sehen ...
Nach dieser Methode kann man mühelos die Wirklichkeit bereinigen. Als Marie Antoinette hörte, daß ihr Volk kein Brot zu essen hatte, soll sie gesagt haben: Dann soll es doch Kuchen essen. Eine wirklich realistische Bemerkung, die der unleugbaren Tatsache, daß es beim Bäcker außer Brot auch Kuchen zu geben pflegt, uneingeschränkte Hochachtung zollt.
Realisten haben die bewundernswerte Eigenschaft, sich immer an Tatsachen zu halten — es fragt sich nur, an welche. Wenn es zu viele Arbeitslose gibt, so ist es Tatsache, daß die natürliche Umgebung der Frau die Küche ist. Wenn man nicht weiß, wer später die Renten bezahlen soll, so ist es Tatsache, daß Frauen dazu auf der Welt sind, um Kinder zu gebären. Dienen zu wenige Soldaten in der Bundeswehr, so ist es Tatsache, daß Frauen genauso gut unser Land verteidigen können wie Männer.
Tatsachen – wenn es sein muß, mit Gewalt – in die Welt zu setzen oder sie zu verleugnen oder ihre Bedeutung zu verschleiern, ist also das, was einen Realisten zum Realisten macht. Sie selbst nennen das, »flexibel« zu sein. Flexibel zu sein heißt, jederzeit blitzschnell die Position wechseln zu können, um immer mit dem Rücken zur Wand zu stehen.
Außer flexibel ist ein Realist vor allem »pragmatisch«. Pragmatisch zu sein bedeutet, sein feststehendes Repertoire an Gedanken von keiner Blässe eines neuen Gedankens ankränkeln zu lassen.
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Samuel T. Cohen, der Erfinder der Neutronenwaffe, in einem Interview: »Wenn ich gefragt werde, ob es nicht unmoralisch sei, Menschen zu töten, aber Eigentum zu verschonen, dann sage ich immer: Die Menschen sind feindliche Soldaten, und Zivileigentum zu verschonen ist sehr richtig.« Auf die Frage, was denn seine Frau über die Bombe denke, meinte Cohen: »Meine Frau beschäftigt sich absolut nicht mit der Bombe. Sie spielt Tennis und beschäftigt sich mit dem Haushalt und überhaupt nicht mit dieser Art scheußlicher Dinge.«
Auf ein Spitzenerzeugnis pragmatischen Denkens weist auch folgende Zeitungsmeldung hin:
»Die amerikanische Post macht sich schon lange Gedanken darüber, wie sie nach einem Atomkrieg Briefe zustellen kann. Die staatliche Behörde zeigt sich unbeeindruckt von den Vorhaltungen verärgerter Kritiker, daß nach einem nuklearen Gefecht nichts mehr übrigbleiben werde. Ein hoher Postbeamter: >Wenn noch etwas da ist, liefern wir aus.<«
Intellektuelle Realisten leben den Stolz auf ihren Durchblick in Zynismus aus. Peter Sloterdijk definiert in seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft Zynismus als »das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat«. Ein Zyniker sagt die Wahrheit so, daß sie eine Lüge wird. Wenn die Wahrheit ist, daß ein Mensch in Wirklichkeit nackt ist, so reißt ein Zyniker ihm mit Gewalt die Kleider vom Leib. Sein Witz hat eine aggressive Stoßrichtung, und zwar immer von oben nach unten. Ein Zyniker ist ein Herrenmensch. Sloterdijk: »Die Goliaths aller Zeiten ... zeigen den tapferen, aber aussichtslosen Davids, wo oben und unten ist.« Weil der Zyniker selbst hart, kalt und brutal ist, behauptet er, die Welt wäre hart, kalt und brutal — und es wäre nur realistisch, diese Tatsache endlich einzusehen.
Zyniker benutzen ihren Rest von Phantasie dazu, Spiele zu erfinden, die so konstruiert sind, daß sie selber in jedem Fall die Gewinner sind. In Lewis Carrolls Land »hinter den Spiegeln« ist das ganze Leben ein Schachspiel.
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Alice, die das Spiel als Damenbauer angetreten hat, wird schließlich Königin, doch sie muß sich einer strengen Prüfung durch die Schwarze und die Weiße Königin unterziehen, bevor sie diesen Titel behalten darf. Was immer sie sagt, ist jedoch falsch, weil die Königinnen die Regeln des Spiels bestimmen:
»>Kannst du Sprachen? Was heißt »Larifari« auf französisch?< — > Larifari ist doch gar nicht deutsche erwiderte Alice ernsthaft. >Sagt doch auch keinen, versetzte die Schwarze Königin. Diesmal schien es Alice, als hätte sie einen Ausweg gefunden. >Wenn Ihr mir sagt, welche Sprache »Larifari« ist, dann sag ich Euch auch, was es auf französisch heißt!< rief sie siegesbewußt. Aber die Schwarze Königin richtete sich nur ziemlich steif auf und sagte: >Königinnen handeln nicht.<«
Die Herrschenden handeln nicht, weil sie dann die von ihnen aufgestellten Spielregeln bezweifeln lassen müßten. Sie behaupten, daß die Welt das von ihnen erfundene Spiel ist, und nur, sich innerhalb dieses Spiels zu bewegen, sei realistisch. Ein anderes Spiel spielen zu wollen, sei unrealistisch, utopisch. Doch wenn man aus ihrem Spiel nicht aussteigt, ist man immer der Verlierer, eben weil die Grundregel des Spiels lautet, daß man immer der Verlierer ist. »Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst«, sagt die Königin zu Alice und bietet ihr einen trockenen Keks an, als Alice sagt, daß sie durstig sei. Wenn man so schnell rennen muß, wie man kann, nur um am gleichen Fleck zu bleiben, hat man eben keine Chance, die eigene Position zu verbessern — solange man »hierzulande« bleibt.
Aus einem Spiel auszusteigen, ist aber riskant, eben weil es ja zur einzig existierenden Realität erklärt wird. In der Geschichte der Menschheit hat es die Aussteiger oft das Leben gekostet. Wenn die Annahme, daß sich die Sonne um die Erde dreht, zur Realität erklärt wird, so verbrennt man denjenigen, der die Wirklichkeit dieser Realität anzweifelt. Wer die Macht hat, bestimmt nicht nur, welches Spiel »Realität« genannt wird, sondern er kann denjenigen, der die Spielregeln nicht anerkennt, auch vernichten. Andererseits kann man der Vernichtung oft nur gerade dadurch entgehen, daß man aus dem Spiel aussteigt- wenn das Spiel selbst nämlich Tod und Vernichtung heißt.
In Kriminalfilmen sieht man manchmal, wie ein Mensch eine Straße entlangläuft, verfolgt von einem Auto, das ihn überfahren will. Er läuft immer schneller, doch der Augenblick kommt unweigerlich, in dem ihn das Auto erreicht — wenn er nicht auf die rettende Idee kommt, zur Seite zu springen und die Böschung hochzulaufen, also aus dem System, in dem ein Auto immer <der Stärkere> ist, auszubrechen.
Das Spiel der Realisten nennt sich zwar heute Frieden und Freiheit, doch es bedeutet Tod und Vernichtung. Solange wir innerhalb dieses Spiels versuchen, zu gewinnen, haben wir keine Chance.
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