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II - Mars im Exil - Zorn-1977
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Wenn man das bis jetzt Geschriebene überblickt, so könnte leicht der Eindruck entstehen, als gehe es mir ausschließlich darum, böswillig die Schwächen meiner armen Eltern aufzuzählen, um sie dann als die Bösen hinzustellen, die mich verdorben hätten und denen demzufolge jetzt mein ganzes Unglück zuzuschreiben sei. Ich glaube aber vielmehr, daß dieser Bericht darüber hinausgeht, bloß meinen Eltern die Schuld für das anzukreiden, was ich selbst hätte besser wissen und tun müssen.
Ich kann meine Eltern heute weniger als die »Schuldigen« denn als Mit-Opfer derselben verfehlten Situation ansehen. Sie waren nicht die Erfinder dieser schlechten Lebensweise; sie waren vielmehr - wie ich selbst - die von diesem kritiklos akzeptierten schlechten Leben Betrogenen. Man könnte nun an diesem Punkt meiner Erinnerungen den großen Moment erwarten, in dem ich aus dieser Scheinwelt meines Elternhauses erwacht und mir gesagt hätte: Halt! Das kann doch nicht so weitergehen.
Dieser Moment kam aber nicht. Und daß dieser Moment nicht kam und eigentlich auch gar nicht kommen konnte, das eben war das Verhängnis. Das Schlimme waren nicht die einzelnen kleineren oder größeren Schwächen meiner Eltern; denn daß niemand vollkommen ist, daß auch keine Erziehung zu vollkommenen Ergebnissen kommen kann, daß wohl alle Eltern ihren Kindern im Verlauf der Erziehung auch einmal etwas antun werden, worunter die Kinder später leiden müssen, und daß die Kinder selbst ja auch keine vollkommenen Geschöpfe sind, gehört nur mit zur selbstverständlichen Erkenntnis, daß die Welt eben nicht vollkommen ist. Das Schlimme waren nicht meine Eltern, denn meine Eltern waren nicht schlimm; ich kann ihnen gegenüber heute nichts anderes mehr empfinden als Mitleid.
Das Schlimme war der Umstand, daß die Welt, in der ich aufwuchs, keine unvollkommene Welt sein durfte, und daß ihre Harmonie und Vollkommenheit obligatorisch waren. Ich durfte es nicht merken, daß die Welt nicht vollkommen war; das Hauptziel meiner Erziehung war sicher darin zu suchen, daß es eben den Moment unmöglich zu machen trachtete, in dem ich mir gesagt hätte: Halt!, denn ich war dazu erzogen worden, es nicht zu merken. Und mit Erfolg. Meine Erziehung kann tatsächlich als durchaus gelungen bezeichnet werden, denn ich habe auch wirklich dreißig Jahre lang nichts »gemerkt«. Ich bin dazu erzogen worden, immer ja zu sagen, und ich habe »gebraucht, was ich gelernt hatte«, und habe auch immer überall ja gesagt. Das Experiment meiner Erziehung war gelungen. Leider.
Worin dieser Bericht aber über das nur Individuelle hinausgeht, ist die Tatsache, daß mein Fall — oder besser gesagt: unser Fall — eben kein Einzelfall ist und von allem anderen losgelöst betrachtet werden kann. Wieweit meine Eltern die Schuld trugen und wieweit sie ihrerseits nur die Opfer einer noch viel größeren Schuld waren, kann ich nur ahnen. Nach allem, was ich von meinen Eltern weiß, hatten sie ihrerseits zu ihren Eltern kein gutes Verhältnis, ganz sicher kein »harmonisches«. Vielleicht war es eben diese Harmonie, die sie in ihrer eigenen Kindheit vermissen mußten, die sie zu ihrer »harmonischen« Lebenshaltung gedrängt hatte. Vielleicht wollten sie auf harmonische Weise all das wieder gutmachen, was sie glaubten, daß ihnen an Unharmonischem von ihren eigenen Eltern widerfahren sei. Ihre Haltung mag als bewußte Reaktion auf die Haltung ihrer Eltern aufzufassen sein; eine Haltung, die nun in mir wiederum eine aggressive Gegenhaltung herbeiruft.
Man kann natürlich die ganze Geschichte der Generationen als eine ewige Abfolge derselben Situation verstehen, in der es die Eltern mit ihren Kindern immer »nur gut meinen«, die Kinder aber vollkommen falsch erziehen, so daß die Kinder dann damit reagieren, ins andere Extrem verfallen, alles wieder gut machen wollen und es ihrerseits mit ihren Kindern »nur gut meinen«, so daß derselbe circulus vitiosus bis in alle Unendlichkeit weitergeht. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Wie man es macht, ist es falsch.
Wenn man diese Linie weiter verfolgte, so würde man sehr bald zur Erkenntnis kommen. Erziehungsfragen seien eben »schwierig«, worauf man das ganze Problem als ohnehin unlösbar ad acta legen könnte. Um nun aber nicht in diesen Fehler zu verfallen und nur das oh-
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