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Eine Wüste neuer Art  

  Wald 

 

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Die Autoren von <Global 2000> haben eine zunehmende Verknappung des Trinkwassers und eine Verschlecht­erung seiner Qualität vorausgesagt. Was ist von der Prognose zu halten, und inwieweit betrifft sie überhaupt die Industriestaaten und damit auch uns selbst?

Ausgangspunkt aller Überlegungen in diesem Zusammenhang ist die Besinnung darauf, daß die irdischen Wasservorräte zwar ungeheuer groß sind, daß dem Leben auf den Kontinenten davon aber nur ein vergleichsweise winziger Teil zur Verfügung steht. Er reicht aus, weil er ständig wiederverwendet wird. Jeder Schluck Wasser, der unseren Durst stillt, hat in der Vergangenheit schon den Durst unzähliger anderer Kreaturen gelöscht.

Bekanntlich können wir nur von Süßwasser leben. Dennoch darf man sich die Süßwasserreservoire der Erde nicht streng getrennt von den Ozeanen vorstellen. Die oft zitierte Feststellung, über 97 Prozent alles irdischen Wassers seien für den Menschen nicht nutzbar, da es sich dabei um Salzwasser handele, stimmt zwar der Zahl nach. Sie ist insofern aber irreführend, als sie die Tatsache verschleiert, daß auch alles für uns lebensnotwendige Süßwasser letztlich aus den Meeren stammt. Jeder Tropfen wurde durch die Wärmestrahlung der Sonne aus den obersten Meeresschichten "herausdestilliert", um als Bestandteil einer Wolke in der Atmosphäre mehr oder weniger weit transportiert zu werden, bis er an einer anderen Stelle der Erdoberfläche wieder herabregnete.

Auch dann, wenn das zufällig über einem der Kontinente geschah, trug jedoch niemals der ganze Niederschlag zur Auffüllung der für uns lebens­wichtigen Süßwasser­reservoire bei. Der größere Teil des in den vergangenen Jahrtausenden abgeregneten Süßwassers ist, zu einem stellenweise mehrere Kilometer dicken Eispanzer erstarrt, an den Polen der Erde liegengeblieben. (Durchaus denkbar, daß man sich seiner in nicht allzu ferner Zukunft als eines Notvorrats erinnern wird.) Ein erheblicher Anteil des Rests — bis zu fünfzig Prozent — verdunstete sogleich wieder.

Schon immer floß ein nennenswerter Prozentsatz jedes Niederschlags über Hänge, Bäche und Flüsse direkt wieder ins Meer zurück. Bei den Experten beginnt die Entdeckung Sorge auszulösen, daß der Verlust durch diesen verkürzten Süßwasserkreislauf heute bereits beginnt, die Wiederauffüllung der Grund­wasser­reservoire zu verlangsamen. Die Verfestigung immer größerer Teile der Erdoberfläche durch Erosion und nicht zuletzt die "Zubetonierung" immer neuer Areale ("Flächenversiegelung" nennen die Experten das) begünstigen diesen direkten Rückfluß ebenso wie die "Regulierung" von Fluß- und Bachbetten infolge der dadurch bewirkten Erhöhung der Abflußgeschwindigkeit. Dem Boden bleibt immer weniger Zeit, das Regenwasser aufzunehmen und in sich hineinsickern zu lassen.

Aber selbst von diesem Wasser, das von der Oberfläche des Erdbodens schließlich aufgenommen wird, kommt unseren unmittelbaren Bedürfnissen auch wieder nur ein Teil zugute. Große Mengen — bis zur Hälfte — werden von der Vegetation aufgenommen, gespeichert oder wieder verdunstet. Nur der danach noch übriggebliebene Rest kann tiefer in den Boden eindringen. Nur er gelangt in die Grundwasserspeicher der Erdkruste. In den tiefsten — mehr als tausend Meter unter der Oberfläche gelegen — scheidet das Wasser für lange Zeit aus dem Kreislauf aus. Es kommt in diesen oft riesigen Reservoiren mitunter für viele Jahrtausende zur Ruhe.

Lediglich der in den obersten Schichten der Erdkruste hängenbleibende Rest füllt die Grundwasser­speicher immer wieder von neuem auf, aus denen die Quellen unserer Bäche und Flüsse gespeist, Mensch und Tier versorgt werden. Dieser Rest wird auf nur ein drittel Prozent des gesamten irdischen Wasservorrats geschätzt. In absoluten Zahlen ausgedrückt, ist er immer noch unvorstellbar groß: Es sind über vier Millionen Kubikkilometer.

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Diese Menge reicht für die Bedürfnisse des irdischen Lebens jedenfalls aus. Nicht zuletzt deshalb, weil sie in dem skizzierten globalen Kreislauf für die Bedürfnisse der Landorganismen immer von neuem aufbereitet wird. Die "Hitzedestillation" durch die Sonnenenergie an der Meeresoberfläche führt zur Freisetzung praktisch reinen Wasserdampfs, und die lange, bei tieferen Lagern unter Umständen Jahre in Anspruch nehmende Wanderung des Sickerwassers bis in die Grundwasserspeicher ist identisch mit seiner optimalen Filterung durch die verschiedenen Bodenschichten. Das von den Landbewohnern "verbrauchte", also mit Körperausscheidungen und anderen Abfällen verunreinigte Wasser wird daher nach seinem Rückfluß ins Meer mit Hilfe der Sonnenenergie in einem natürlichen "Recycling"-Prozeß immer wieder in seinen Urzustand zurückversetzt. Was am Ende des Kreislaufs aus den Quellen schließlich wieder ans Licht tritt, ist, obwohl unzählige Male gebraucht, dennoch jedesmal wieder "frisches" Wasser.

So hat der Mensch seinen Durst bisher denn auch während nahezu seiner ganzen Geschichte aus Quellen und Flüssen stillen können. Erstaunlich lange ging das gut. 

Erst 1820 wurden in England die ersten Sandfilter eingeführt: Man ließ das den Flüssen entnommene Wasser, bevor es an die Verbraucher verteilt wurde, durch etwa einen Meter dicke Sandlagen hindurchsickern. Mit dieser Nachahmung des natürlichen Sickerprozesses, bei dem das Wasser in die Grundwasserspeicher wandert, beabsichtigte man, in kleinem Maßstab auch den damit einhergehenden Filtrier- und Reinigungsvorgang zu wiederholen.

Veranlassung gab die Beobachtung, daß in den Städten und Ansiedlungen der Flußufer, bezeichnenderweise vor allem an den unteren Flußabschnitten, seit einiger Zeit immer häufiger lokale Cholera- und Typhusepidemien ausbrachen. Wenn die Ärzte von der Existenz mikroskopisch kleiner Krankheitserreger damals auch noch nichts wußten, ihre Feststellungen über das zeitliche Auftreten und die regionale Verteilung der Krankheitsfälle ließen sie doch zu dem Schluß kommen, daß diese die Folge einer Verschmutzung des den Flüssen entnommenen Trinkwassers sein müßten. Der Erfolg gab ihnen recht.

In Deutschland war man noch Jahrzehnte hindurch sorgloser.

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Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. 1892 brach in Hamburg — also am untersten Abschnitt eines dicht besiedelten Flußlaufes (!) — eine katastrophale Choleraepidemie aus. Innerhalb weniger Wochen starben mehr als 8000 Menschen. Als Ursache wurde die Verwendung ungereinigten Elbwassers in privaten Haushalten vermutet. Wichtigstes Indiz war der Umstand, daß die Nachbargemeinde Altona verschont blieb. Dort hatten die Stadtväter, dem englischen Beispiel folgend, schon seit längerem die Sandfiltration vorgeschrieben. Nachdem die Hamburger die gleiche Vorsichtsmaßnahme eingeführt hatten, blieben sie von weiteren Katastrophen verschont.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ging man dann an allen größeren deutschen Flüssen zur Trinkwassergewinnung durch sogenannte "Uferfiltration" über. Dabei wurde das Wasser einfach Brunnen entnommen, die man in der Nähe der Flußufer grub. Was darin zutage trat, war Flußwasser, das zuvor einige Dutzend Meter sandiger Uferablagerungen passiert hatte und dabei "natürlich gefiltert" worden war. Das Produkt ließ sich als Trinkwasser gefahrlos genießen. Erstaunlich lange genügte die einfache Maßnahme: den ganzen Ersten Weltkrieg und die Weimarer Zeit hindurch, während der Naziherrschaft und sogar noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. 

Man bekommt einen Begriff von dem atemberaubenden Tempo, in dem die Gefährdung unseres Trinkwassers zugenommen hat, wenn man sich vor Augen hält, daß die moderne Trinkwasseraufbereitung mit chemischen und technischen Methoden in der Bundesrepublik generell erst ab 1950 eingeführt werden mußte.34) Schon heute, nur dreieinhalb Jahrzehnte später, befinden wir uns abermals in einer Situation, in der wir uns etwas Neues einfallen lassen müssen.

Daß noch so ausgeklügelte, zu ganzen Verfahrensserien hintereinandergeschaltete Reinigungs- und Filtrier­vorgänge es neuerdings nicht mehr vermögen, Flußwasser in risikolos trinkbares Wasser zurück­zuverwandeln, darf eigentlich niemanden in Erstaunen versetzen. Bekanntlich benutzen wir unsere Ströme seit je nicht allein als Trinkwasserlieferanten, sondern zugleich auch als Abwasserkanäle. 

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Daß die widersprüchliche Kombination derart entgegengesetzter Funktionen früher oder später zu einem Engpaß würde führen müssen, hätte man sich eigentlich von Anfang an vorstellen können. Vorübergehend ließ die Situation sich noch durch den simplen Trick der sogenannten "Grundwasser­anreicherung" leidlich beherrschen. Dabei wird durch Tiefbrunnen direkt gewonnenes, noch nicht verunreinigtes Grundwasser dem von einem Wasserwerk aufbereiteten Flußwasser beigemischt. Die in diesem nach allen Reinigungsvorgängen immer noch enthaltenen Schadstoffe werden dadurch verdünnt. Das ist alles. Drin sind sie auch dann selbstverständlich noch.

Auch auf diese simple Weise aber können wir uns heute schon nicht mehr an der Misere vorbeimogeln. Das überrascht nicht, wenn man einmal näher betrachtet, welchen Abfall wir zum Beispiel dem von uns notgedrungen auch weiterhin als Trinkwasser­lieferanten benutzten Rhein täglich zur Beseitigung aufbürden. Es sind unter anderem — jeweils innerhalb von 24 Stunden — bis zu 30.000 Tonnen Salz, überwiegend Abraum aus Kalibergwerken vor allem des Elsaß, sowie, als Abfallprodukte der verschiedensten industriellen Herstellungsprozesse, drei Tonnen Arsen, fast eine halbe Tonne Quecksilber und an die tausend Tonnen Tausender organischer Chlorverbindungen, von denen ein beträchtlicher Teil als Krebserreger gilt.34

Angesichts dieser Brühe hat der einfallsreichste Wasserchemiker früher oder später zu kapitulieren. Dennoch muß der Rhein weiterhin als unentbehrlicher Trinkwasserlieferant für zwanzig Millionen Menschen herhalten. In dieser Situation kann auch ein gutmütiger Mensch von Zorn gepackt werden, wenn man ihm erzählt, mit welcher Hartnäckigkeit und welchen Methoden die für die Verunreinigung verantwortlichen Industriebetriebe, nicht selten in einträchtiger Kungelei mit den regional zuständigen Behörden, ihren Anteil an der Verschmutzung zu verheimlichen versuchen. Wenn man ihm von den Tricks erzählt, mit denen diese industriellen Verschmutzer bestehende Auflagen umgehen, von der sturen Verbissenheit, mit der sie sich jedem Versuch widersetzen, zur Verminderung der Schadstoffbelastung beizutragen.35) 

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Sie alle werden nicht müde, die unbestreitbar erheblichen finanziellen Aufwendungen ins Feld zu führen, die sie in den letzten Jahren für die Vorklärung ihrer Abwässer investiert haben. Es sind beachtliche, es sind Milliardenbeträge. Daß sie alle sich dazu jedoch immer erst nach hartnäckigem Abstreiten, mitunter erst nach dem Fehlschlagen trickreicher Täuschungsmanöver verstanden haben, bleibt in der Regel unerwähnt.  

Wenn man die Einzelheiten dieser Auseinandersetzungen verfolgt, kann man zu der Auffassung gelangen, daß es offenbar kaum möglich ist, einer auf die Optimierung wirtschaftlicher Effizienz fixierten Unternehmens­führung eines klarzumachen: Es wirkt skrupellos, wenn außerbetriebliche, allgemein-gesell­schaft­liche Folge­lasten so konsequent ausgeblendet werden, wie es in diesen Kreisen mit der größten Selbst­verständlichkeit geschieht. Wer in dieser Welt nicht konsequent "betriebsloyal" denkt, verhält sich "karriereschädigend". Konsequent betriebsloyal aber heißt nichts anderes als uneingeschränkt im Dienste des eigenen Betriebs — auch auf Kosten der Allgemeinheit.

Auch dann, wenn man bereit ist, das Prinzip der Gewinnmaximierung als eine der Ursachen der unbestreit­baren Überlegenheit unseres Wirtschaftssystems anzuerkennen, fällt es schwer, diese Einstellung nicht für asozial zu halten. Es ist ein nur schwacher Trost, daß diese betriebsspezifische Blindheit gegenüber dem Gemeinwohl offensichtlich auch in der sogenannten "sozialistischen" Gesellschaft zu den Voraus­setzungen einer erfolgreichen Betriebsführung gerechnet wird. Im Herbst 1983 kam ein von der holländischen Regierung unterstütztes "Internationales Wassertribunal" nach sorgfältiger Prüfung aller Unterlagen zu dem Urteil, daß die auf dem Gebiet der DDR liegenden Kaligruben "Ernst Thälmann", "Einheit" und "Marx-Engels" die 1947 vereinbarte Quote der Salzbelastung der Weser um mehr als 500 Prozent überschritten und damit die Gesundheit der von diesem Fluß als Trinkwasserlieferanten abhängigen Menschen gefährdeten.36  

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Der denkbare Einwand, daß die sich darin ausdrückende gesellschaftliche Verantwortungs­losigkeit womöglich nur gegenüber dem "Klassenfeind" — den ganz überwiegend westlichen Weseranliegern — als zulässig erachtet werde, läßt sich durch den Hinweis auf die von den gemeinsamen Aktivitäten ostdeutscher und tschechoslowakischer Betriebe bewirkte Vernichtung großer Waldgebiete im Riesengebirge entkräften.

Aber noch einmal zurück zur "hauseigenen" Situation. 

Symptomatisch ist der Verlauf des neuerdings ausge­broch­enen Streites um die Einbeziehung der Kraftwerks-"Altanlagen" (im Klartext: aller schon bestehenden Anlagen) in das Emissionsschutzgesetz des Bundes. Die den Betreibern dieser "Altanlagen" bis zum Einbau schadstoffmindernder Einrichtungen eingeräumte Frist — bis 1993! — läßt das Gesetz angesichts des heute zu konstatierenden Tempos der Schadstoffzunahme in Wasser, Boden und Luft zur reinen Farce werden. 

Als der verantwortliche Minister unter dem überwältigenden Druck der von den Experten vorgelegten Beweise Anfang 1984 jedoch den Versuch unternahm, die Schonfrist für die Kraftwerksbetreiber zu verkürzen, warf ihm der Bundesverband der Deutschen Industrie vor, er habe "die Abwägung zwischen ökologischen und ökonomischen Erfordernissen" außer acht gelassen, und schwang die jede Regung kritischer Nachdenklichkeit in diesem Bereich mit entmutigender Regelmäßigkeit erschlagende Keule der <Arbeitsplatzgefährdung>: Die Einbeziehung der Altanlagen in das Schutzgesetz werde, so ließ der Verband sich dräuend vernehmen, unvermeidlich zu einer "Verschlechterung des Investitionsklimas" führen.37) Der Wink genügte. Die Gesetzes­änderung war vom Tisch. Wieder einmal hatte sich gezeigt, wer Herr im Hause ist.

Noch einmal: 

Kein Einsichtiger wird die großen Verdienste der Wirtschaft um die Sicherung von Arbeits­plätzen, an der Aufrechterhaltung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit oder an der Erhaltung unseres im internationalen Vergleich noch immer luxuriös zu nennenden Lebensstandards leugnen. Niemand auch den Umstand, daß eine konsequente ("knallharte") Kosten-Nutzen-Analyse die Voraussetzungen für diese Erfolge liefert. 

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Dem widerspricht man jedoch nicht, wenn man auf die Gefahren hinweist, die entstehen, sobald betriebs­wirt­schaftliche Argumente auch auf Entscheidungen durchzuschlagen beginnen, von denen das gesamtgesell­schaftliche Wohl abhängt. Es ist kein Ausdruck von "Industrie-Feindlichkeit" (oder gar von "System-Gegnerschaft"), wenn man darauf beharrt, daß im Konfliktfall das gesellschaftliche Wohl als der höhere Wert zu respektieren ist. Man kann diese Forderung, wie es tagtäglich geschieht, tendenziös verleumden, man kann sie als ideologieverdächtig und auf mancherlei andere Weise diskreditieren. Wenn wir uns aber weiter weigern sollten, ihre Berechtigung einzusehen, werden wir alle gemeinsam in absehbarer Zeit die Erfahrung machen, daß man auch in einer höchst befriedigenden Wirtschaftssituation, ja, daß man sogar im Zustand der Vollbeschäftigung ökologisch zum Teufel gehen kann.

Zurück zum eigentlichen Thema. 

Keine noch so perfektionierte Aufbereitung des aus Flüssen und Talsperr­en stammenden "Oberflächenwassers" kann heute noch alle Schadstoffe erfassen und entfernen. Es geht ja nicht nur um Schwermetalle und weit über tausend organisch-chemische Industrierückstände (darunter in erst­er Linie die erst von menschlicher Synthesekunst in die Natur eingeführten chlorierten Kohlen­wasser­stoffe, schwer abbaubare und großenteils als Krebserreger bekannte Verbindungen). Niemand kann abschätz­en, wie viele überhaupt noch nicht erfaßte, womöglich erst durch Folgereaktionen in der chemischen Brühe unserer Flüsse entstandene Schadstoffmoleküle darüber hinaus noch in unserem Trinkwasser enthalten sein mögen.38

Sehen wir einmal davon ab, daß die gesetzlich festgelegten Grenzwerte nach Ansicht fast aller Fachleute zu hoch angesetzt sind, daß die "Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft" (TA-Luft genannt) — selbstverständlich belasten auch die aus der Atmosphäre ausgewaschenen Schadstoffe unsere Oberflächen­gewässer — zum Beispiel beim Schwefeldioxid fast das Dreifache der Dosis für zulässig erklärt, mit der sich im Experiment bereits die ersten Anzeichen einer Pflanzenschädigung hervorrufen lassen. (Wer das wohl durchgesetzt hat?) 

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Alle diese gegen hartnäckigen Widerstand schließlich eingeführten Kompromiß-Werte gewährleisten prinzipiell nur eine höchst dubiose Sicherheit. Denn die entscheidende Frage ist allein die, welche langfristigen Wirkungen auf den menschlichen Organismus die Kombination von Hunderten derartiger Stoffe haben mag, deren erbschädigende ("mutagene") oder krebserregende ("carzinogene") Wirkung grundsätzlich nachgewiesen ist. Selbst kaum noch nachweisbare Spurenstoffe mögen sich da zu einer brisanten Zeitbombe addieren. Niemand kennt die Antwort.

Das ist keine "Panikmache". Wie ernst das Risiko selbst offiziell, wenn auch in aller Stille, längst genommen wird, zeigt die Reaktion einiger Großkommunen. Mehrere deutsche Großstädte haben aus der Situation schon vor Jahren eine radikale Konsequenz gezogen. Sie haben auf die Verwendung von "Oberflächenwasser" aus Flüssen oder Talsperren zur Trinkwasser­gewinnung gänzlich verzichtet und sind dazu übergegangen, weitab von allen Ballungsräumen gelegene Grundwasser­speicher direkt anzuzapfen. Die Lösung ist teuer. Auf den ersten Blick erscheint sie aber auch als optimal. Denn das aus diesen unterirdischen Kavernen durch Tiefbrunnen hochgepumpte Wasser war bisher wirklich "rein". Seine Beschaffenheit ist noch identisch gewesen mit der besonderen Qualität, die sich in unserer Erinnerung mit dem längst schon nostalgisch anmutenden Begriff "frisches Quellwasser" verbindet.

Innerhalb weniger Jahre stellte sich jedoch heraus, daß auch dieser scheinbar ideale Ausweg rasch in eine Sackgasse führt. Das geringste Problem ist noch der Kostenaspekt. Die Lösung ist ungewöhnlich aufwendig. Dies ist auch die einfache Erklärung dafür, daß sich nur einige Großstädte — Bremen, Hamburg, München — auf sie einlassen konnten. Bremen holt sich seit einigen Jahren sein Trinkwasser über eine 200 Kilometer lange Fernleitung aus dem Harz. Hamburg bedient sich in der Lüneburger Heide. München plant eine Sicherung seiner Versorgung durch den Zugriff auf unterirdische Wasserreserven im Loisachtal bei Garmisch-Partenkirchen. 

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Hier deutete sich mit anderen Worten bereits die Entstehung einer "Trinkwasser-Klassen­gesellschaft" an: Arme Bürger — die des hochverschuldeten Frankfurt zum Beispiel — müssen mit mangelhaftem Trinkwasser vorliebnehmen, die Bürger reicher Kommunen werden dagegen einwandfrei versorgt — typisches Anzeichen einer beginnenden Verknappungs­situation.

Die Entstehung einer nach unterschiedlichen Trinkwasser-Güteklassen einzuteilenden Gesellschaft wird uns jedoch erspart bleiben. In allen genannten und einigen anderen Fällen hat sich der direkte Zugriff zum Grundwasser bereits als Raubbau mit untragbaren Konsequenzen erwiesen. Die Methode läßt das Gleichgewicht zwischen dem Abfluß durch natürliche Quellen und der ebenso natürlichen Ergänzung der unterirdischen Speicher durch den langsamen Zufluß von Sickerwasser aus den Fugen geraten. Die Entnahme übersteigt in allen Fällen den Nachschub. Die Folge ist ein mitunter dramatisches Absinken des Grund­wasser­spiegels in den ausgebeuteten Regionen mit den entsprechenden ökologischen Folgen an der Oberfläche. 

Im hessischen Ried, einem tausend Quadratkilometer großen Naturpark zwischen Rhein und Odenwald, verdorrten in den letzten Jahren einige Millionen Bäume, trockneten Bäche aus, verkarstete Ackerland, das seit Jahrhunderten fruchtbar gewesen war, bis der Grundwasserspiegel in der Region um mehrere Meter fiel, weil allzuviele Nachbarkommunen sich aus ihm bedienten. In der Lüneburger Heide, deren Grundwasser den Durst der Hamburger löschen muß, sind unter Naturschutz stehende Feuchtgebiete in Gefahr. Manchen Land­wirten in der Umgebung von Hannover ersetzt die Stadt die Kosten für eine künstliche Bewässerung ihrer Felder, die notwendig ist, seit die Großkommune ihnen das Grundwasser buchstäblich unter den Füßen absaugt.

Die Beispiele lehren, daß kommunaler Egoismus sowenig aus der Sackgasse führt wie eine ausschließlich auf die eigenen Kosten fixierte Industrie-Mentalität. Wo aber ist dann ein Ausweg? So, wie sie heute ist, kann die Situation nicht bleiben. Daß erst wenige das klar erkannt haben, ist eine der bedenklichsten Folgen der immer wieder zu konstatierenden offiziellen Vernebelungs­strategie, deren Sinn schwer zu begreifen ist.  

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Wenn regionale Umweltschutzgruppen oder gar "Grüne" aus eigener Initiative Wasseruntersuchungen vornehmen und dabei auf Schadstoffkonzentrationen stoßen, die eindeutig über den ohnehin großzügig bemessenen gesetzlichen Grenzen liegen, besteht die Standardantwort der zuständigen Behörden mit unschöner Regelmäßigkeit im Vorwurf der "Panikmache". Allzuviele Wasser­werkbetreiber und Kommunalpolitiker scheinen die von einer "Beunruhigung der Öffentlichkeit" ausgehenden Gefahren für größer zu halten als die einer chronischen Vergiftung dieser Öffentlichkeit. Geschlagene sechs Monate hat es gedauert, bis das Stuttgarter Stadtparlament Anfang 1984 endlich den von einigen Abgeordneten hartnäckig aufrechterhaltenen Verdacht bestätigte, daß in mehreren der Trinkwasserversorgung der Stadt dienenden Brunnen unzulässig hohe Schadstoffkonzentrationen gefunden worden waren. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern.

Hinter dieser im ersten Augenblick irrational wirkenden Vertuschungsstrategie steckt eine beunruhigende Tatsache: Die Verantwortlichen sind selbst weitgehend ratlos. Der Ratschlag, sicherheitshalber doch "auf Mineralwasser zurückzugreifen", ist dafür ein ob seiner Einfalt schon fast rührender Beleg. Wo aber ist sonst ein Ausweg zu erkennen aus einer Situation, deren mögliche langfristige Folgen schon heute von niemandem mehr verantwortet werden können und die sich dabei von Jahr zu Jahr noch nachweislich verschlechtert?

Erste Voraussetzung zur Vermeidung einer sonst unweigerlich bevorstehenden Trinkwasserkatastrophe in der Bundesrepublik ist die Bereitschaft aller Beteiligten, die Krise endlich realistisch zur Kenntnis zu nehmen und öffentlich zu diskutieren. Wenn man den in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten vor dem Problem kunstvoll errichteten Nebelvorhang einmal beiseite bliese, käme eine für viele sicher überraschende Situation ans Tageslicht: Die von den Autoren von Global 2000 für die kommenden beiden Jahrzehnte vorhergesagte zunehmende Wasserknappheit und Verschlechterung der Wasserqualität gilt, was niemand bei uns bisher zur Kenntnis genommen zu haben scheint, eben keineswegs nur für die sogenannten Entwicklungsländer (wenn die Folgen dort voraussichtlich auch am schwersten sein werden). Wir dürfen die Prognose durchaus auch auf unsere eigene Region beziehen.

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Schon vor zwei Jahren schätzten die Experten, daß mindestens zwei Millionen Bundesbürger auf Trinkwasser mit einem über der zulässigen Konzentration liegenden Nitratgehalt angewiesen sind. Ihre Zahl hat in der Zwischenzeit ganz sicher nicht abgenommen. Wir alle trinken täglich Wasser, das eine Kombination einer längst unübersehbar gewordenen Summe von Schadstoffspuren der verschiedensten chemischen Stoffklassen enthält und von deren chronischer Wirkung auf unseren Organismus kein Toxikologe die geringste Ahnung hat.

Noch so angebrachte Erhöhungen der bis heute als lächerlich zu bezeichnenden Abwasserabgaben, noch so rigorose Strafandrohungen — und vor allem ihre konsequente Anwendung — und noch so scharfe Kontrollen werden diese Situation nur bessern können. Selbstverständlich ist auch das eine endlich durchzusetzende Grundforderung. Ändern aber wird sich unsere Lage nicht mehr. Nitrate, Schwefeldioxid, halogenierte Kohlenwasserstoffe und die unzählig vielen anderen chemischen Abfallprodukte müssen selbstverständlich weiter reduziert werden. Verhindern aber, darüber sollte Klarheit herrschen, läßt sich ihr Auftreten in einer modernen Industriegesellschaft nicht.

Wir haben uns, anders läßt es sich zutreffend nicht beschreiben, in eine Lage manövriert, die der zu gleichen beginnt, in der sich die Bewohner der ariden, also aus geologischen Gründen wasserarmen Regionen der Erde seit jeher befinden. Wir haben, von den meisten noch unbemerkt, angefangen, auch unseren Teil der Erde in eine Wüste zu verwandeln. In eine Wüste neuer Art, wie sie nur die industrielle Leistungsgesellschaft hervorzubringen vermochte: eine Wüste, in der es äußerlich gesehen noch immer so viel Wasser gibt wie von alters her, nur: immer weniger Wasser, das man trinken kann.

Wenn wir die Definition von "Wüste" nicht an einer ihrer anderen typischen und für das Auge gewiß auffälligeren Eigenschaften aufhängen, sondern an dem Kriterium der Knappheit an Trinkwasser — eine vielleicht einseitige, unter biologischem Blickwinkel jedoch zulässige Definition —, könnten wir auf den Gedanken kommen, daß unsere Lage der von Wüstenbewohnern immer ähnlicher zu werden beginnt. 

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Die Einsicht hat nicht nur besorgnisauslösende Aspekte. Wie alle realistischen Einschätzungen enthält sie in sich auch schon den Keim zu einer Lösung des Problems. Denn wenn das so ist, wenn sich unsere Situation mit dem Begriff der Wüste zutreffend kennzeichnen läßt, dann eröffnet sich uns die Möglichkeit, die Mitglieder jener Kulturen, die von jeher unter den Bedingungen einer solchen Situation entstanden sind und sich in langen geschichtlichen Zeiträumen an sie angepaßt haben, danach zu fragen, was in solcher Lage am zweckmäßigsten zu tun sei.

Warum eigentlich, das ist der erste Gedanke, der einem bei dieser Betrachtungsweise einfällt, warum stellen auch wir eigentlich nicht längst Zisternen auf die Dächer (oder den Dachboden) unserer Häuser? Durch das Sammeln von Regenwasser lösen die Bewohner der meisten ariden Gebiete der Erde seit Jahrtausenden erfolgreich die dringendsten Probleme der Wasserversorgung. Daß wir auf den naheliegenden Gedanken bisher nicht gekommen sind, obwohl die in unseren Breiten vergleichsweise üppigen Niederschlagsmengen die Methode um so ergiebiger werden ließen, liegt allein daran, daß die Mehrheit sich bei uns noch in dem Glauben wiegt, Wasser, auch in der Form von Trinkwasser, stehe in praktisch unbegrenztem Umfang zur Verfügung. Daß das eine gefährliche Täuschung ist, dürfte hoffentlich klargeworden sein. Eine Täuschung übrigens, um das noch einmal hervorzuheben, der durch die öffentliche Tabuisierung des Themas und offizielle Verschleierungstaktiken fahrlässig Vorschub geleistet wird.

Natürlich kann man Regenwasser bei uns längst nicht mehr trinken. Wir könnten von ihm aber nutzbringend Gebrauch machen für viele andere Zwecke, für die wir mit einer Gedankenlosigkeit, die unsere Nachfahren einmal zu ungläubigem Kopfschütteln veranlassen dürfte, bisher immer noch trinkbares Wasser verwenden.

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Was würde ein Sahara-Nomade wohl von unserer geistigen Verfassung halten, wenn ihm jemals zu Ohren käme, daß wir von den 150 Litern hochgereinigten Trinkwassers, die wir täglich pro Kopf im Durchschnitt verbrauchen, nur vier bis fünf Liter zum Trinken und Kochen nehmen, aber nicht weniger als fünfzig Liter, also ein ganzes Drittel der Tagesration, nur dazu, um unsere Notdurft in die Kanalisation zu spülen? 

Trinkwasser für das WC, Trinkwasser zum Waschen von Autos, zum Sprengen unserer Gärten — bei Lichte betrachtet eine Verschwendung von wahrhaft bodenloser Leichtfertigkeit.

Wer die Einzelheiten der von keinem Fachmann mehr bestrittenen Trinkwasserkrise kennt, wird ferner verständnislos reagieren, wenn man ihm sagt, daß das als wirklich reines Trinkwasser einzig noch verfügbare Grundwasser bei uns immer noch überwiegend für technische Produktionsprozesse verbraucht wird. Etwa 85 Prozent des gesamten Wasserverbrauchs in der Bundesrepublik entfallen auf die Industrie. Darunter befindet sich ein beträchtlicher (nicht präzise ermittelbarer) Anteil an kostbarem Grundwasser, das bei Kühlungs- und Reinigungsvorgängen verbraucht wird, die sich genausogut mit unvollkommen gereinigtem Flußwasser ("Brauchwasser") durchführen ließen. 

Die Betriebe haben sich aber gegen die Forderung, Grundwasser dem menschlichen Verbrauch vorzubehalten, bisher mit dem Hinweis auf "ältere Rechte" an den von, ihnen benutzten Tiefbrunnen erfolgreich wehren können. Noch gilt auch hier wieder das Kostenargument als letztes Wort und nicht der Hinweis darauf, daß die Grundwasserlager in der jetzigen Situation — unbeschadet in der Vergangenheit mehr oder weniger zufällig zustande gekommener Gewohnheitsrechte — als Trinkwasser­lieferanten für die Allgemeinheit reserviert werden müßten.

Wenn die Vernunft sich in diesem Punkt durchsetzen würde, wenn wir uns als Gesellschaft dazu entschlössen, das aus diesen Tiefenspeichern gewonnene Wasser ausschließlich zum Trinken und Kochen zu benutzen, anstatt es weiter für Zwecke zu vergeuden, für die Wasser minderer Qualität völlig genügte, dann könnten wir endlich dem Skandal ein Ende bereiten, daß Millionen von Menschen heute durch die Versorgung mit unzulänglich gereinigtem Trinkwasser einem gar nicht abschätzbaren Gesundheitsrisiko ausgesetzt werden. 

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Schon seit mehreren Jahren kann nicht mehr ein einziges der am Rhein gelegenen Wasserwerke die von der Europäischen Gemeinschaft festgelegten — und aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin zu hoch angesetzten — Schadstoffgrenzwerte einhalten.39  Man bedenke, was das für die Betroffenen im Laufe der Zeit bedeuten könnte. Die Untätigkeit, mit der dieser allen Experten bekannte Zustand hingenommen wird, obwohl Abhilfe auf dem angedeuteten Wege in kürzester Zeit möglich wäre, ist schlechthin unfaßlich.

Wenn wir dazu übergingen, trinkbares Wasser für Trinkwasserzwecke zu reservieren, wenn wir unseren Brauchwasserbedarf industriell mit Oberflächen­wasser decken würden und privat mit Regenwasser und wenn wir in der logischen Konsequenz dieser Unterscheidung von Stund an wenigstens in alle Neubauten doppelte Leitungssysteme installieren würden, welche unter anderem die Wiederverwendung von Spülwasser für die Toiletten und die Beseitigung stark verunreinigter Abwässer getrennt von den Regenwasser-Sielen ermöglichten, würde sich die Situation schlagartig bessern. Dann ließe sich auch die Entnahme aus den vorhandenen Grundwasserspeichern auf ein Maß reduzieren, das nicht zu ihrer Erschöpfung führen muß und daher nicht zwangsläufig die beschriebenen ökologischen Folgeschäden nach sich zieht.

Es wird niemanden mehr erstaunen zu hören, daß diese Forderungen zahlreicher Umweltorganisationen, die seit Jahren in technisch ausgereifter Form konkret vorliegen, bislang regelmäßig mit Kostenargumenten abgewiesen worden sind. Da sich die Struktur der gegen wesentliche, mitunter existentielle ökologische Forderungen ins Feld geführten wirtschaftlichen Einwände in allen Fällen ähnelt und da sie alle aus demselben Grund aus gesamtwirtschaftlicher Sicht als Milchmädchenrechnungen anzusehen sind — die gleichwohl fast immer die Wende zum Besseren verhindert haben —, soll hier noch ein typisches Beispiel geschildert werden.

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In Frankfurt am Main existierte vorübergehend ein zu Versuchszwecken getrennt von den Trinkwasser­leitungen verlegtes Brauchwassernetz. Nach einigen Jahren ergab die Kosten-Nutzen-Analyse, daß dieses zweite Netz unrentabel war: Es kostete den Magistrat mehr, als es einbrachte. Prompt wurde der Versuch eingestellt. Eine fiskalisch in den Augen der Verantwortlichen sicher unvermeidliche, zwingende Konsequenz. In der Bilanz des Magistrats wurden allerdings die Folgekosten nicht berücksichtigt, welche diese Entscheidung außerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs nach sich zog: An der seit Jahren fortschreitenden Absenkung des Grundwasserspiegels im hessischen Ried ist die Frankfurter Großkommune mit ihrem immensen Wasserbedarf kräftig beteiligt. Selbstverständlich — heute jedenfalls gilt das noch als selbstverständlich — deckt sie aus dieser Quelle auch ihren Brauchwasserbedarf.34

Seit Frankfurt sein Brauchwassernetz "aus Kostengründen" wieder aufgab, steht fest, daß es dabei bleiben wird. Die ökologischen Folgekosten — Waldvernichtung und Feldverkarstung, nicht gerechnet die finanziell gar nicht abschätzbare Zerstörung eines alten Erholungs­gebietes — übersteigen die Milliardengrenze. Das aber ist ein Posten, der in der Bilanz des Frankfurter Magistrats nicht erscheint. Folglich fiel seine Entscheidung so aus, als ob es ihn nicht gäbe. Das ist nun einmal so der Brauch bei uns. Daß das unsinnig ist, daß die Konsequenzen einer derart auf den eigenen unmittelbaren Bereich begrenzten Sicht gerade bei ökologischen Problemen ruinös für die Gesellschaft insgesamt sind, wird immer noch geflissentlich verdrängt.

Aber inzwischen zeigt die Entwicklung ohnehin schon neue Alarmsymptome. Im Regierungspräsidium Freiburg im Breisgau trafen in der Zeit eines knappen Jahres neun Meldungen ein über das Auftauchen chlorierter Kohlenstoffverbindungen im Grund­wasser.40  In anderen Bundesländern gibt es ähnliche Beobachtungen. Wenn das der Beginn einer neuen Phase der Entwicklung sein sollte, wird es endgültig ernst. Denn worauf sollen wir mit unserem Durst noch "zurückgreifen", wenn die Schadstoffe jetzt sogar die in der Tiefe der Erdkruste geborgenen Grundwasserreservoire erreichen? Wenn sie anfangen sollten, auch die bisher noch von unserer Lebensweise unberührt gebliebenen Primärlieferanten wirklich "reinen" Wassers zu verseuchen?

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Die Experten räumen inzwischen ein, daß man die von dieser langlebigen organischen Stoffklasse ausgehenden Gefahren erst in letzter Zeit in vollem Umfang erkannt habe. Daß die bei den verschiedensten industriellen Produktionsprozessen in riesigen Mengen anfallenden Chlorkohlenwasserstoffe offenbar nach einer sich über viele Jahre hinziehenden Wanderung schließlich sogar die Gesteinsformationen und die anderen Bodenschichten durchdringen können, die das Grundwasser bisher vor Verschmutzung bewahrt haben, kam selbst für die Fachleute überraschend. Es ist eine erschreckende Entdeckung. Fast alle dieser Gruppe zugehörigen chemischen Verbindungen gelten als krebserregend, erbschädigend und hochgradig lebertoxisch. Wenn sie sich in den kommenden Jahren endgültig bis zu den Grundwasserlagern hindurcharbeiten sollten, dann allerdings wird guter Rat teuer.

Alle diese Verbindungen sind relativ neue Produkte unserer technisch-zivilisatorischen Kunstwelt. In der Natur kommen sie bis auf wenige Ausnahmen überhaupt nicht vor. Fachleute haben bereits die Vermutung geäußert, daß ihr unvorhergesehenes Verhalten in den Bodenschichten ebenso wie ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber fast allen natürlichen Abbauvorgängen auf diesen Umstand zurückzuführen sein könnten. "Wir haben die Aufgabe übernommen, die Stoffe zu synthetisieren, die der liebe Gott bei der Schöpfung mitzuerschaffen vergaß", ließ der Autor eines Spielfilms kürzlich einen Industriechemiker sagen. Wer weiß, vielleicht hatte der dafür seine guten Gründe.

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    Der Abschied vom Wald    

  

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"Ob man es wahrhaben will oder nicht: Der deutsche Wald liegt im Sterben." So steht es in der Zusammen­fassung der Ergebnisse eines Gesprächs, zu dem sich im April 1982 ein Dutzend namhafter deutscher Forst­wissen­schaftler mit Energiefachleuten in Kaiserslautern traf.41) Wahrhaben wollte es damals in der Tat noch niemand. Schon gar nicht die verant­wortlichen Politiker. Noch bis in das Jahr 1983 hinein wurde in deren Kreisen "das Gerede vom sogenannten Waldsterben" als eine "maßlose Übertreibung ökologischer Spinner" hingestellt. Heute dämmert auch dem letzten, daß sich in unseren Wäldern ein Desaster abspielt. 

"Etwa 35 Prozent des westdeutschen Waldes", so beginnt die von dem Münchner Forstwissenschaftler Peter Schütt vorgelegte aktuellste und umfassendste wissenschaftliche Abhandlung des Problems, "leiden in unterschiedlich starkem Maß unter einer Krankheit, die wir Waldsterben nennen."42) Etwa 35 Prozent, ein gutes Drittel also. Was gäbe es da noch zu übertreiben? Von einem "pathologischen Ereignis, welches das Gleichgewicht eines Drittels der Landschaft bedroht und eine ganze Kette ökologischer Folgen auszulösen beginnt", spricht dieselbe Quelle.

 

Es begann Anfang der siebziger Jahre mit einer vor allem in Süddeutschland beobachteten explosiven Ausbreitung der seit Jahrhunderten bekannten und von den Forstleuten gefürchteten sogenannten "Komplex­krankheit" der Weißtanne. Der weitere Verlauf war durch den raschen Befall immer neuer Baumarten gekennzeichnet: 1979 wurden die ersten Symptome an alten Fichten und Kiefern in Bayern entdeckt. 1981 folgten Buche, Bergahorn und Vogelbeere, 1982 Esche, Douglasie und Birke, 1983 schließlich begann die Seuche auch auf Eichen, Pappeln und Lärchen überzugreifen.

Anfangs hatte mancher noch geglaubt, das Ausmaß der Katastrophe durch den Hinweis darauf verharmlosen zu können, daß es auch in der Vergangenheit immer wieder einmal zu einem großflächigen Tannensterben gekommen war. Die Tanne ist gegen äußere Schädigungen offenbar besonders empfindlich. (Heute wird in Ostbayern und im Schwarzwald bereits mit ihrem völligen Aussterben gerechnet.) Inzwischen aber gibt es kaum eine einzige einheimische Baumart mehr, die noch als völlig gesund bezeichnet werden könnte. Das hat es in der Vergangenheit noch nie gegeben. Die Situation sei vergleichbar "mit einer Epidemie, die gleichzeitig Blindschleichen, Meerschweinchen, Sperlinge und Menschen dahinrafft", schreibt Peter Schütt. 

*(d-2015:)  wikipedia  Peter Schütt     

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Dem normalen Waldspaziergänger mag auch heute noch nicht allzuviel auffallen. Abgestorbene Bäume wird er in aller Regel nicht zu Gesicht bekommen. Besitzer und Forstaufseher lassen erkrankte Exemplare rechtzeitig fällen, bevor ihr Holz seinen Wert gänzlich verloren hat. Kronenverlichtung, mangelhafte Benadelung der aus den letzten Jahren stammenden Triebe und Vergilbung von Blättern zur Unzeit verraten dem Erfahrenen neben anderen Symptomen jedoch das wahre Ausmaß der Katastrophe. Hinzu kommt, daß die sichtbaren Anzeichen nur die "Spitze des Eisbergs" markieren. Erkrankt sind längst auch viele der Bäume, denen selbst der Fachmann ihr Schicksal noch nicht anzusehen vermag. Es hat sich nämlich gezeigt, daß dem sichtbaren Befall fünfzehn oder auch zwanzig Jahre lang eine reduzierte Holzneubildung voranzugehen scheint, die nur an einer Verschmälerung der Jahresringe abgelesen werden kann. 

Aber nicht nur das erschreckende Tempo der Krankheitsentwicklung und die rasche Ausbreitung quer durch praktisch alle Baumarten machen das Waldsterben zu einem absolut neuartigen Phänomen. Ungewöhnlich und zunächst unerklärlich waren noch weitere Beobachtungen. Naturnah gebliebene Mischwald­bestände wurden genauso häufig befallen wie die ökologisch als besonders anfällig anzusehenden Monokulturen. Die Zonen besonders intensiver Schädigungen stimmten ferner mit den Regionen besonders starker Schadstoffbelastung keines­wegs immer überein. In einigen Fällen wurden bis dahin völlig gesund scheinende Bestände in ausge­sprochenen "Reinluftgebieten" innerhalb weniger Monate dezimiert. So geschehen im Winterhalbjahr 1982/83 im Allgäu.

Für die Mehrzahl der Forstleute sind das Alarmsignale, die auf eine neuartige, sehr komplexe und besonders bedrohliche Erkrankungs­form hinweisen, die den Wald als Ökosystem insgesamt gefährdet. Die genannten Widersprüchlichkeiten und Ungereimt­heiten, die eine monokausale, auf eine einzige Ursache sich berufende, Erklärung freilich unmöglich machen, dienen jedoch auch heute noch zur Begründung von mancherlei Ausflüchten. 

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Am einfachsten machten es sich gewisse Industriesprecher mit einer "Theorie", welche die Verant­wort­ung der Forstwirtschaft selbst zuschiebt. Es handele sich, so lautet die kühne These, um nichts anderes als die Folgen einer Verarmung des Waldbodens an Nährstoffen nach jahrhundertelanger Holzentnahme ohne gleich­zeitige Düngung.43) Die angeblich fehlenden Düngemittel werden dann mitunter im selben Atemzug offeriert.

In der Öffentlichkeit fand die Behauptung vorübergehend Beachtung. In den Augen der Exporten ist sie schlicht unseriös. Dies in solchem Maße, daß sie in diesen Kreisen den naheliegenden Verdacht erweckte, hier solle nicht nur von der eigenen Verantwortung abgelenkt, sondern zugleich auch der eigenen Kunst­dünger­produktion ein neuer Markt erschlossen werden. Die Nährstoff­kreisläufe in einem gesunden Wald sind nämlich außerordentlich stabil. Laboruntersuchungen haben bewiesen, daß dem Wald durch Holzeinschlag nur ein Tausendstel der Nährstoffe entzogen wird, die einem landwirtschaftlich genutzten Areal gleicher Größe beim Abernten verlorengehen. Aber derartige Thesen verstärken im Verein mit der nicht mehr zu bestreit­enden Tatsache, daß sich eine einheitliche, einzige Ursache für die Waldkatastrophe nicht dingfest machen läßt, die allgemein-menschliche Neigung, unangenehme Konsequenzen möglichst weit hinauszuschieben.

So, wie es aussieht, wird diese menschliche Schwäche den Wäldern wohl endgültig den Garaus machen. Nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Nordhalbkugel. Die Entscheidungen, zu denen wir uns aufraffen müßten, um die letzte Chance zur Rettung des Waldes noch wahrzunehmen, wirken auf die meisten von uns heute noch sehr viel einschneidender und dramatischer als jener lautlose Absterbevorgang da draußen vor unseren Städten.

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Die Vernichtung der Wälder, wenn es denn wirklich so weit kommen sollte, sei doch letztlich nur als ein sentimentaler Verlust zu bewerten, den man notfalls eben in Kauf nehmen müsse, wenn es anders nicht möglich sei, die Versorgung der zunehmenden Bevölkerung mit Wirtschaftsgütern sicherzustellen. Diesen Standpunkt verfocht ein bekannter, mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Wirtschafts­wissen­schaft­ler noch vor zwei Jahren in meiner Gegenwart mit Nachdruck und aus ehrlicher Überzeugung.  

Sein Name sei hier rücksichtsvoll verschwiegen. Nicht nur aufgrund persönlicher Wertschätzung, sondern vor allem, weil es hier nicht um individuelle Schuldzuweisungen geht, sondern darum, mit dieser Äußerung eines weit überdurch­schnittlich klugen und gebildeten Zeitgenossen die ökologische Ahnungslosigkeit zu belegen, die bei uns immer noch vorherrscht und die uns aller Voraussicht nach ins Verderben führen wird.

 

Menschen sind kurzatmige Lebewesen. Das gilt für den einzelnen, und erst recht gilt es für menschliche Gesellschaften. Es ist in vielen Fällen sicher nicht bloß eine Ausflucht, sondern traurige Wahrheit, wenn Politiker das Ausbleiben einer ökologisch dringend erforderlichen Entscheidung damit entschuldigen, daß sie "politisch nicht durchsetzbar" sei. Nicht durchsetzbar sind offenbar alle Formen eines konkreten Verzichts, wenn dem aktuell notwendigen Opfer nicht ein ebenso konkret erlebbarer Gewinn auf dem Fuße folgt. Deshalb kann es sich offizielle Politik zum Beispiel leisten, den Vorschlag, die Schadstoffbelastung durch die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen herabzusetzen, mit dem unsäglich albernen Slogan zurückzuweisen: "Freie Fahrt für freie Bürger".

Deshalb hält offizielle Politik die Pfennigbeträge für unzumutbar, um die sich die Kilowattstunde verteuern würde, wenn in alle Kraftwerke ab sofort die technischen Einrichtungen installiert würden, mit denen sich Schwefeldioxid, Stickstoffverbindungen und andere Schadstoffe auf einen Bruchteil der heutigen Werte reduzieren ließen.44) Eine Entscheidung übrigens, mit der die Regierenden die Einsichtsfähigkeit der von ihnen Regierten gröblich unterschätzen dürften. Und deshalb läßt offizielle Politik sich durch die Drohung mit einer — wirklichen oder auch bloß behaupteten — Arbeitsplatz­gefährdung immer wieder dazu verleiten, zukünftiges Übel sehenden Auges in Kauf zu nehmen oder sogar auszulösen, um das gegenwärtige Übel eines möglichen Verlustes von Wählerstimmen zu vermeiden. 

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Wie zum Beispiel bei der im Juli 1984 getroffenen, als verantwortungslos zu bezeichnenden Entscheid­ung, dem neuen Kraftwerk Buschhaus entgegen aller ökologischen Vernunft und im Widerspruch zu den selbst getroffenen gesetzlichen Regelungen die Betriebsgenehmigung zu erteilen, obwohl es nicht über die entsprech­enden Abgasfilter verfügt.

Um die Windigkeit, des Kostenarguments in diesem und allen analogen Fällen zu beweisen, braucht man heute nicht einmal mehr Wirtschafts­wissen­schaftler zu sein. Die in unserer so sehr an Fragen der wirtschaft­lichen Rentabilität orientierten Gesellschaft geradezu schizophrene Kurzsichtigkeit derartiger Einwände, die eben nur die unmittelbar erlebbaren Kosten berücksichtigen, wird bei einem Vergleich mit der Situation in Japan auch dem völligen Wirtschaftslaien in aller wünschenswerten Deutlichkeit offenbar.

Die Japaner haben ihre Gesamtemission von Schwefeldioxiden innerhalb von zehn Jahren auf etwa ein Viertel des Standes von 1970 verringert — in einer Phase fortgesetzter Wirtschaftsexpansion. Während in Japan 1984 mehr als 1300 Rauchgas-Entschwefelungs­anlagen in Betrieb waren, wurden in der Bundesrepublik zum selben Zeitpunkt gerade zehn derartige Anlagen — mit einer Kapazität von weniger als fünf Prozent aller mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerke — erprobt. Man traut seinen Augen nicht, wenn man liest, daß die Grenzwerte an Schadstoffen, nach denen sich die japanische Industrie zu richten hat, "bereits in der Vergangenheit weit unter denen lagen, die in Zukunft für die Bundesrepublik vorgeschrieben sind oder (erst) noch vorgeschrieben werden sollen".45

Hat irgend jemand etwa gehört, daß der mit diesen Aufwendungen verbundene Kostenfaktor die internationale Wettbewerbs­fähigkeit der japanischen Industrie über Gebühr belastet und damit Arbeitsplätze gefährdet hätte? Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Jedenfalls ist jetzt schon abzusehen, daß wir die Lizenzen für manche der von uns letzten Endes dann doch benötigten emissionsmindernden Technologien bei unserem fernöstlichen Konkurrenten werden einkaufen müssen. 

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Bis dahin wird allerdings noch manches Jahr ins Land gehen, von denen jedes einzelne uns allein durch die Verschmutzung mit Schwefeldioxiden volkswirtschaftliche Schäden von (offiziell geschätzt!) acht Milliarden Mark aufhalsen wird (s. Anm. 45) 

Soviel zur Rolle des unver­drossen ins Feld geführten "Kosten­faktors".

 

Es ist keine Voreingenommenheit oder gar "Industriefeindlichkeit", sondern einfach allgemeine Lebens­erfahrung, wenn man dazu tendiert, die Stimmen derer mit einer gewissen Zurückhaltung zu bewerten, denen die Verantwortung für die nächste bevorstehende Jahresbilanz des eigenen Betriebes aus verständlichen Gründen schwerer auf dem Gemüt lastet als die Sorge um das Schicksal unserer Wälder. Erkundigen wir uns also besser bei den direkt Betroffenen, den Forstwissenschaftlern. Was sagen sie zu dem Fall?

In der von Peter Schütt und seinen Mitarbeitern vorgelegten Untersuchung wird den erwähnten Ungereimt­heiten und Widersprüchen, welche die Rückführung der Waldkatastrophe auf eine einzige einheitliche Ursache in der Tat unmöglich machen, breiter Raum gewidmet. Dennoch zögert das kompetente Autorenteam nicht, gleich im ersten Kapitel ebenso knapp wie eindeutig festzustellen: "Das Waldsterben stellt ein neues, in dieser Form noch nicht aufgetretenes Ereignis dar, das den Wald als System, also in seiner Gesamtheit bedroht. Es geht auf eine vom Menschen verursachte Vergiftung der Umwelt zurück und wird daher von selbst nicht wieder verschwinden." 

Wenn nicht von selbst, wie dann? Dieser Frage gehen die Münchener Waldexperten mit detaillierter Gründlichkeit nach. Nach einer ausführlichen Beschreibung der bei den verschiedenen Baumarten beobachteten Symptome dis­kutieren sie alle jemals in die Diskussion eingebrachten Ursachen­theorien, bis hin zu entlegenen Spekulationen.

Die "Infektionshypothese" wird von ihnen nach eingehender Erörterung aller Argumente pro und contra verworfen. Zwischen den beobachteten Symptomen des Waldsterbens und der bekannten Wirkung von Bakterien, Pilzen oder anderen Parasiten bestehe "nicht die geringste Übereinstimmung". Wenn Schädlinge gefunden wurden, habe es sich immer um den sekundären Befall schon erkrankter und entsprechend geschwächter Bäume gehandelt.

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Auch die "Dürre-Hypothese" hält einer kritischen Diskussion nicht stand. Zwar scheinen wasserarme Sommer den Krankheits­prozeß regional zu verschlimmern, umgekehrt halten jedoch ausgeprägte Nässeperioden sein Fortschreiten nicht nachweislich auf. Das gleiche gilt für die Vermutung, daß forstwirtschaftliche Fehler in der Vergangenheit — etwa der Übergang zur Anlage von Monokulturen — eine entscheidende Rolle spielten. Nachdem noch einige andere Möglichkeiten (Schädigung durch Kurzwellen oder durch radioaktive Belastung) erörtert und als ungenügend untersucht offengelassen worden sind, bleibt der weite Bereich der von unserer technischen Zivilisation bewirkten Luftverunreinigungen.

Um es kurz zu machen: Es führt kein Weg an der Annahme vorbei, daß wir selbst es sind, wir mit unserem heutigen Lebensstil, die den Wald zugrunde richten. Allerdings ist es eben nicht so, daß sich ein einziger Schadstoffbestandteil in der Atmosphäre (etwa das Schwefeldioxid, welches das Phänomen des "sauren Regens" hervorruft) als alleinige Krankheitsursache festnageln ließe. Es gibt auch nicht nur einen einzigen Schädigungs­mechanismus (auch wenn der "saure Regen" eine besonders verheerende Rolle spielt). Nein, es ist die Kombination der zahllosen nicht-natürlichen oder jedenfalls in ihrer heutigen Konzentration nicht mehr natürlichen Luftbestandteile — vom SO2  über die Stickoxide, Ozon und andere "Photooxidantien", von Schwer­metallen (Blei) und den von unseren Autos produzierten Kohlenwasserstoffen bis zu all den Terpenen, Benzolen, Methan und Äthylen sowie der uns schon bekannten Familie der chlorierten Kohlenwasserstoffe —, welche die Kraft unserer Wälder zu überfordern begonnen hat.

Dieses bunte Gemengsel liefert in seinen von Region zu Region wechselnden Kombinationen zwanglos die Erklärung für die Variantenvielfalt der Symptompalette. Auch für die Ausbreitung der Seuche bis in sogenannte "Reinluftgebiete" fand sich eine befriedigende Erklärung. Ironischerweise spielt bei ihr eine in bester Absicht eingeführte gesetzliche "Schutzmaßnahme" eine fatale Rolle.

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In der "Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft" wurden seinerzeit Obergrenzen für die "Emission" bestimmter Schadstoffe festgelegt. "Emission" meint den von einem bestimmten Werk verursachten Schadstoffausstoß. (Als "Immission" wird dagegen die Summe der in einer bestimmten Region gemessenen atmosphärischen Schadstoffe bezeichnet, unabhängig von ihrer Herkunft.) 

Die Überwachung der in der TA-Luft vorgeschriebenen Grenzwerte muß daher logischerweise in der unmittelbaren Umgebung der kontrollierten Werke erfolgen. Die vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene Reaktion der Industrie auf diese vom Gesetz geschaffene neue Situation bestand in der <Politik der hohen Schornsteine>: Ein Werk nach dem anderen ging dazu über, seine Schornsteine mehr und mehr, bis auf Höhen von 200 oder sogar 300 Metern aufzustocken. 

Diese relativ geringfügige Investition erlaubte es ihnen, die Gesetzesauflage spielend zu erfüllen, ohne eine einzige der sehr viel kostspieligeren Reinigungs­techniken einführen zu müssen. Die eigene, in der unmittelbaren Umgebung gemessene Emission ging meßbar und unter den vorgeschriebenen Wert zurück, womit dem Wortlaut des Gesetzes Genüge getan war. Daß es sich lediglich um eine Verdünnung der eigenen Schadstoff­produktion handelte, nicht etwa um ihre Reduzierung, interessierte die "Emittenten" verständlicher­weise wenig. Auch die Tatsache, daß die — unveränderte, wenn nicht sogar erhöhte — Schadstoff­menge auf diese Weise in höhere Luftschichten befördert und in diesen, stark verdünnt, über weite Entfernungen transportiert wird, braucht einen Verursacher nicht zu bekümmern, der nur die Vermeidung eigenen Nachteils im Kopf hat. Tatsächlich aber wird der Schaden mit dieser Praxis erst richtig großräumig verteilt.

Eine weitere, ebenfalls nicht vorhergesehene Komplikation erhöht den allgemein-volkswirtschaftlichen Schaden dieser unter ausschließlich betriebs­wirtschaft­lichen Gesichtspunkten genial zu nennenden Anpassung noch um Größenordnungen. Er resultiert aus der Verlängerung der "Verweildauer" der verschiedenen Schad­stoff­bestandteile in der Atmosphäre. 

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Seit Einführung der "hohen Schornsteine" vergehen zwischen der Emission von Schadstoffen und ihrer nicht selten erst Hunderte von Kilometern entfernt erfolgenden "Deposition" in extremen Fällen mehrere Monate. Das wirkt sich deshalb verhängnisvoll aus, weil einige der besonders schädlichen Verbindungen überhaupt erst während des Aufenthaltes in der Atmosphäre entstehen. Dies gilt nicht zuletzt für die von Anfang an mit Recht als eine der Hauptursachen verdächtigten Schwefeldioxide. Erst während des Lufttransports nämlich und überwiegend in den höheren Luftschichten werden sie — und dies um so mehr, je länger sie sich dort aufhalten — zu Sulfit- beziehungsweise Sulfat-Ionen oxidiert, die starke Säurebildner sind. Sie sind es, die dem "sauren Regen" seine saure Qualität verleihen.

Auch die Fälle von Waldsterben in "Reinluftgebieten" sind vor diesem Hintergrund verständlich geworden. Die extreme Verdünnung und der weiträumige Transport von Schadstoffverbindungen, die sich während der Verschleppung in der Atmosphäre bilden, machen den Begriff "Reinluftgebiet" obsolet. Die üblichen Routine­messungen, mit denen nur nach relativ wenigen, altbekannten Luftbestandteilen gefahndet wird, genügen längst nicht mehr zum Ausschluß pflanzentoxischer Verunreinigungen. Vor allem aber haben ausgedehnte experimentelle Arbeiten inzwischen bewiesen, daß gerade hochverdünnte Schadstoff­kombinationen dann, wenn die Einwirkung chronisch erfolgt, auf die Dauer jeden Baum zur Strecke bringen.

"Der Wald stirbt an Streß", so lautet das Fazit der Münchener Experten. Jawohl, es hat immer schon, auch in der Vergangenheit, Fälle von regionalem Baumsterben gegeben. Es hat ja auch immer schon zum Beispiel Schwefel­dioxide in der Atmosphäre gegeben, die, etwa nach größeren Vulkanausbrüchen, unter bestimmten meteor­ologischen Bedingungen global verteilt wurden. 

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Nur haben sich diesen und anderen Belastungen, denen bisher nur regional und allein unter Extrem­bedingungen besonders anfällige Baumarten (Tanne) zum Opfer fielen oder Waldgebiete an ungünstigen Standorten (in den dreißiger Jahren waren es die ostpreußischen Fichtenbestände), in den letzten Jahren immer neue anthropogene, vom Menschen erzeugte, Schadstoffe hinzugesellt. Ihre Summe ist es, denen der Wald heute nicht mehr gewachsen ist. Nach Jahrzehnten einer schleichenden, unbemerkt gebliebenen Schwächung ist jetzt offenbar der Punkt erreicht, an dem das Ökosystem "Wald" zusammenbricht.

Was nun? 

Selbst wenn die Möglichkeit bestände, daß Politiker und industrielle Führungskräfte sozusagen "trägheitslos", ohne weiteren Zeitverlust, ohne ihre Zuflucht zu neuerlichen Ausflüchten zu nehmen und unter Verzicht auf rein verbale Kraftakte, tätig würden — eine nach allen bisherigen Erfahrungen wenig plausible Annahme —, käme alle Abhilfe heute wahrscheinlich schon zu spät. Wie sehr alle bisherigen halbherzigen Maßnahmen der Entwicklung hinterherhinken, das wird der letzte wohl erst begreifen, wenn er in zehn oder fünfzehn Jahren mit seinem dann schließlich abgasgereinigten Auto durch ein baumloses, verkarstetes Mittelgebirge fährt, das lediglich aus historischen Gründen immer noch Schwarzwald oder Westerwald oder Teutoburger Wald genannt wird.

Die Radikalität, mit der unsere Gesellschaft — und damit ist jetzt selbstverständlich nicht allein unsere bundes­deutsche Gesellschaft gemeint, sondern unsere planetarische technische Zivilisation als Ganze — die von ihr tagtäglich produzierten Abfall- und Schadstoffmengen unverzüglich reduzieren müßte, um dem Wald noch eine letzte Chance einzuräumen, geht, wenn nicht alles täuscht, definitiv über das Maß hinaus, das Menschen sich aufzuerlegen fähig sind.46

Also werden die meisten von uns sich noch mit einer Welt abzufinden haben, in der es keine Wälder mehr gibt. In der Bundesrepublik wird das nach dem Urteil der Münchener Wissenschaftler etwa zur Zeit der Jahrhundertwende, in nur fünfzehn Jahren also, der Fall sein. Es steht zu vermuten, daß nicht wenige dann nachträglich die Engstirnigkeit derer verfluchen werden, die das Steuer noch rechtzeitig hätten herumwerfen können. Nicht die eigene Engstirnigkeit selbstredend, die sie daran hinderte, den Verantwortlichen rechtzeitig, etwa durch ihre Stimmabgabe als Wähler, zu dem erforderlichen Entscheidungsdruck zu verhelfen. 

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Die eigene Rolle wird dann längst erfolgreich vergessen und verdrängt sein. Das Wehklagen aber wird laut ausfallen. 

Denn der Tod unserer Wälder zieht Folgen nach sich, die gravierender sind, als es ein bloß "sentimentaler Verlust" wäre. An den Küsten des Mittelmeers können wir studieren, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft ihren Wald mutwillig zerstört. Sizilien und Nordafrika waren in der Antike noch fruchtbare Landstriche. Rom bezog einen Großteil seines Getreides von dort. Das Atlasgebirge war dicht bewaldet. Südlich davon, in einer Gegend, die längst von der Sahara erobert ist, verraten Mauerrelikte und Felszeichnungen, heute weitab von jeder Wasserquelle gelegen, daß dort einmal Menschen leben und ihr Auskommen finden konnten.

Das Verschwinden des Waldes hier und an den meisten anderen mediterranen Küstenstrichen war ebenfalls nicht die Folge einer Naturkatastrophe, etwa eines Klimawechsels. Der Schaden und alle seine Folgen sind auch hier "anthropogen", vom Menschen bewirkt, in diesem Falle von dem schließlich den natürlichen Nachschub übersteigenden unersättlichen Holzbedarf des Römischen Reiches.47  Die bis heute, 2000 Jahre später, spürbaren Konsequenzen in Gestalt der in der ganzen Mittelmeerregion zu registrierenden Verkarstung mit nachfolgenden Erosionsschäden, Ausdehnung der Wüstenregionen und deren Rückwirkungen auf Grundwasser und Klima sind die Folgen eines lediglich regionalen Eingriffs in das ökologische Gleichgewicht.

Wir betreiben heute das gleiche in globalen Dimensionen. Denn nicht nur bei uns auf der Nordhalbkugel schwinden die Wälder. Dort, wo die Atmosphäre den Bäumen das Überleben noch gestatten würde, in den Tropen vor allem, ist es ein alle natürlichen Regenerations­möglichkeiten überschreitender Raubbau, der die tropischen Regenwälder mit beängstigender Geschwindigkeit dahinschwinden läßt. 

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Vierzig Prozent dieses als Klimapuffer und natürlicher Kohlenstoffspeicher global (auch für uns!) biologisch unersetzlichen letzten großräumigen Ökosystems haben wir in den vergangenen Jahrzehnten bereits unwiederbringlich zerstört.48 Wenn die jetzige Tendenz anhält, wird es in zwei bis drei Jahrzehnten nicht mehr existieren.

Neben dem sentimentalen Verlust werden wir einschneidende klimatische Veränderungen zu gewärtigen haben. Der Wegfall des Waldes wird die mit ihm verbundene Bodenvegetation dem unmittelbaren Sonnenlicht aussetzen und damit einer Situation, in der sie mangels Anpassung nicht überleben kann. Niemand sollte sich in dem Glauben wiegen, daß die im Vergleich zu mediterranen Breiten bei uns reichlicher strömenden Nieder­schläge die Erosion des Bodens in den ehemaligen Waldregionen danach noch verhindern könnten. Er wird — wie die Erfahrungen in den leer gerodeten nordamerikanischen und kanadischen Weizengebieten lehren — austrocknen.

Die Vielfalt der ihn besiedelnden Mikroorganismen, die ihn bis dahin zu einem lebenden Substrat machten, wird verkümmern. Der als Folge davon verdichtete, an seiner Oberfläche verhärtete Boden wird weitgehend die Fähigkeit verlieren, herabregnendes Wasser so rasch und so bereitwillig aufzusaugen wie zuvor. Es werden sich folglich Verhältnisse entwickeln, wie wir sie heute schon aus verkarsteten Regionen kennen: in den höheren Lagen zunehmende Austrocknung, in den Tälern zunehmende Hochwassergefahr.

Darüber hinaus wird es auch landwirtschaftliche Verluste geben. Die bei uns kultivierten Getreide- und Gemüsesorten sind seit Jahrhunderten ausgelesen und angepaßt an ganz bestimmte klimatische Verhältnisse und Bodenqualitäten. Beide Faktoren werden sich in unvorhersehbarer Weise ändern. Die Landwirte werden viele ihrer in Generationen erworbenen Erfahrungen als nicht mehr zutreffend über Bord werfen und anfangen müssen, neue Erfahrungen zu machen, die auf die veränderten Anbaubedingungen zugeschnitten sind. Spezielle Anbauformen dürften regional gänzlich verschwinden: Es ist wenig wahrscheinlich, daß alle Obst- und Gemüsesorten oder alle Rebarten den Wechsel unbeschadet überstehen könnten. Was das alles für die ländliche Infra­struktur bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen.

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Aber auch wir Städter werden nicht bloß das emotionale Defizit zu verkraften haben, das mit dem Verschwinden einer klassischen Erholungslandschaft verbunden ist. Die unvermeidliche Umstellung der Agrarproduktion auf neue Getreide- und Fruchtsorten, die Gewöhnung an den zweckmäßigsten Umgang mit ihnen und an die veränderten Bodenverhältnisse, das alles wird viele Jahre in Anspruch nehmen. In dieser Zeit wird die landwirtschaftliche Produktion unvermeidlich spürbar zurückgehen. Nicht nur bei uns, sondern in weiten Teilen der nördlichen Halbkugel, überall dort, wo wir heute schon in West und Ost die Symptome des Waldsterbens beobachten. 

Es mag sein, daß die außergewöhnliche Effizienz unseres Wirtschaftssystems, die im Begriff ist, uns in diese Lage hineinzumanövrieren, auch am ehesten Auswege finden und die Krise mit der ihm eigenen Dynamik in die Hand bekommen wird. Hungersnöte mögen uns daher — im Gegensatz zu anderen Gesellschaften — erspart bleiben. Aber um eine zumindest vorübergehende Rationierung bestimmter Grund­nahrungs­mittel werden wir als Bürger eines Landes, das zu seiner Versorgung auf Importe angewiesen ist, kaum herumkommen. Jedenfalls dann nicht, wenn wir die ungute Möglichkeit ausschließen, daß verantwortliche Politiker in dieser Mangelsituation auf den Gedanken verfallen könnten, die Nahrungs­mittel­verteilung sich "über den Preis selbst regeln" zu lassen.

Diese Preise nämlich werden erheblich anziehen. Es sei denn, wir schafften die freie Marktwirtschaft ab, was gewiß auch als eine die sentimentale Dimension überschreitende Konsequenz zu betrachten wäre. Solange aber weiter­hin Angebot und Nachfrage über den Preis entscheiden, wird die Ernährung in dieser Übergangszeit — wenn nicht für viel längere Zeiträume — das Budget der privaten Haushalte in dem gleichen Maße zu belasten be­ginnen wie heute schon die Energieversorgung. Man sieht, der Tod des Waldes zieht allerlei Folgen nach sich.

In der Gewißheit, dadurch abermals den Vorwurf der Panikmache auf mich zu ziehen, muß ich dennoch gleich hinzusetzen, daß damit noch keineswegs alle Übel aufgezählt sind, die das Waldsterben uns auf den Hals lädt. Wir haben die gesundheitlichen Folgen noch gar nicht bedacht. 

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Auch in dieser Hinsicht ist der Ausblick in die waldlose Zukunft alles andere als rosig. Unter der Voraus­setz­ung, daß sich die jetzige Entwicklung nicht in sehr kurzer Zeit radikal ändert, sei davon auszugehen, "daß unser Wald in seiner heutigen Form bis zum Ende dieses Jahrtausends weitgehend verschwunden sein wird", schreibt Peter Schütt. 

Was könnte das für unsere Gesundheit bedeuten? Man kommt der wahrscheinlich richtigen Antwort auf die Spur, wenn man darüber nachdenkt, warum es eigentlich der Wald ist, welcher der zunehmenden Vergiftung als erstes Ökosystem geschlossen zum Opfer fällt. Der Grund ist derselbe wie die Erklärung für die Tatsache, daß es ausgerechnet die Zerstörung der Leber ist, die sich ein Trinker zuzieht, der zu lange des Guten zuviel getan hat. Auch viele andere Gifte wirken zuallererst "lebertoxisch".

Ein Laie könnte daraus den irrigen Schluß ziehen, daß die Leber allen möglichen Giften gegenüber besonders empfindlich sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Leber ist von allen unseren Organen mit Abstand am besten dazu imstande, Gifte aller Art aufzufangen und unschädlich zu machen. Eben dies ist ihre spezifische Aufgabe. Aus diesem Grunde ist der Bauplan unseres Körpers so beschaffen, daß alles, was unseren Magen passiert hat, nach der Aufnahme durch die Darmschleimhaut mit dem Blutkreislauf auf einer Art Zwangskurs (durch die sogenannte Pfortader) zunächst in die Leber gelangt, bevor es im Körper verteilt wird. 

Hunderte von Enzymsystemen und anderen Einrichtungen "entgiften" dort alle Substanzen, deren chemische Eigenschaften uns gefährlich werden könnten. Die Leber ist das wichtigste "Entgiftungsorgan" unseres Körpers. Nun läßt sich die Leistungsfähigkeit auch dieses Schutzorgans selbstverständlich überfordern. Wenn jemand Alkohol chronisch im Übermaß zu sich nimmt (oder laufend größere Schlafmittelmengen oder andere toxische Substanzen), dann kann irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem die Leber an ihre Leistungsgrenze stößt. Von diesem Augenblick ab wird sie von den Giften, die ihr ständig weiter zugehen, selbst geschädigt. Die Erkrankung des Schutzfilters, ein "Leberleiden" also, ist dann das erste Symptom der Vergiftung des ganzen, seines natürlichen Schutzmechanismus nunmehr verlustig gehenden Organismus.

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Es steht zu befürchten, daß wir die Rolle des Waldes und sein im Augenblick sichtbar werdendes Schicksal analog zu dieser pathologischen Situation aufzufassen haben. Die Filterwirkung, die der Wald auf die ihn durchstreichende Luft ausübt, ist ein seit langer Zeit erkanntes und als besonders wichtig angesehenes Phänomen. Nicht nur Staubpartikel — der Fachmann spricht hier von der "Kämmwirkung" der Bäume —, auch Kalorien bleiben in ihm hängen: Der aus einem Wald kommende Luftstrom hat an heißen Tagen eine deutlich niedrigere Temperatur als die Umgebungsluft. Kluge Stadtväter haben daher seit je für die Anlage von baumbestandenen Grünzonen am Stadtrand gesorgt.

Aber auch industrielle Schadstoffe werden nachweislich sowohl in gasförmiger Beschaffenheit (von den Blättern) als auch in flüssiger Form (von den Wurzeln nach ihrem Eindringen in den Boden) von einem Baum aufgenommen, gebunden und im eigenen Stoffwechsel abgebaut und unschädlich gemacht. Das hat lange Zeit gut funktioniert. Wie die Leber eines chronischen Trinkers durch übermäßigen Alkoholgenuß ist jetzt aber, so scheint es, auch der Wald von dem Übermaß der von ihm als Luftfilter der Atmosphäre entzogenen Giftstoffe endgültig überfordert. Er beginnt an den schädigenden Substanzen, die er bisher von uns fernhielt, nunmehr selbst zu erkranken. 

Der Vergleich mit dem Leberpatienten läßt uns schaudernd daran denken, was das bedeuten könnte.

Es könnte sich — zu spät — herausstellen, daß diese Funktion des Waldes in einer Industrielandschaft lebens­notwendig ist. 1952 starben in London - die meisten haben das längst schon wieder vergessen - mehrere tausend (!) Menschen, als es als Folge einer ungewöhnlichen Kombination ungünstiger meteor­ologischer Bedingungen über mehrere Tage hinweg zu einer extremen SO2-Konzentration in der Stadtluft kam. 

Müssen wir nicht befürchten, daß schon weniger ungewöhnliche Wetterbedingungen vergleichbare Katastroph­en auslösen könnten, wenn wir demnächst auf die "Vorreinigung" unserer Atemluft durch den Wald zu ver­zicht­en haben werden? Schon heute treten asthmaartige, von den Kinderärzten "Pseudokrupp" genannte Erstick­ungs­anfälle bei Kleinkindern vermehrt in industriellen Ballungsgebieten auf. Schon heute gibt es medizinische Statistiken bei uns, in den USA und in anderen Industriestaaten, aus denen sich ein Anstieg von chronischen Atemwegserkrankungen in Abhängigkeit von der jeweiligen durch­schnittlichen "Schadstoff­exposition" des einzelnen Patienten ersehen läßt.

Niemand kann verläßlich vorhersagen, in welchem Maße Krankheitserscheinungen dieser Art zunehmen werden, wenn wir den Wald erst einmal endgültig beseitigt haben. Aber niemand sollte sich auch der Illusion hingeben, daß Luft, die imstande war, unsere Wälder auszurotten, unsere Lungen auf die Dauer unangetastet lassen würde.  

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