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Das Grundmuster einer Phobie  

 

 

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Eine vom amerikanischen <Center for Defense Information> vorgelegte Untersuchung über den sowjetischen Einfluß in mehr als 150 Ländern kam 1980 zu dem Ergebnis, daß der Ablauf der globalen politischen Entwicklung seit 1945 im Widerspruch stehe zu der verbreiteten Vorstellung, die Sowjets hätten ständig Erfolge aufzuweisen und ihren Einfluß weltweit immer mehr ausgedehnt, während die Vereinigten Staaten eine Kette katastrophaler Rückschläge hätten hinnehmen müssen.78

Das ist noch zurückhaltend formuliert. Denn wie sehen die Tatsachen aus? Ganze sechs Länder stehen heute außerhalb des Ostblocks eindeutig unter sowjetischem Einfluß. Mit der einzigen Ausnahme von Kuba hat keines von ihnen militärisch oder politisch eine nennenswerte Bedeutung. Sie alle belasten die ohnehin chronisch kränkelnde Wirtschaft des Ostblocks Tag für Tag mit astronomischen Beträgen. 

Im einzelnen handelt es sich um Angola, Mozambique und Äthiopien, in denen seit Jahren und fraglos auch auf Jahre hinaus Hungersnöte das dringendste Problem darstellen. Um das schon erwähnte Kuba sowie Afghanistan, die beide, wenn gewiß auch aus höchst unterschiedlichen Gründen, materiell die gravierendsten Belastungen hervorrufen. Und schließlich um den Südjemen, ein ebenfalls total verarmtes Entwicklungsland, das immerhin den Hafen Aden zu bieten hat.

Das wäre dann auch schon die komplette Liste auf der Erfolgsseite der Bilanz. Wer sich die Mühe macht, seine Vorurteile und Ängste anhand objektiver Daten zu überprüfen, kann sich leicht davon überzeugen, daß die andere, die negative Seite ungleich stärker ins Gewicht fällt. In den Jahren seit 1945 wurden die Sowjets aus Indonesien (der Bevölkerungszahl nach immerhin die sechstgrößte Nation der Erde) hinausgeworfen, nachdem sie versucht hatten, dort Fuß zu fassen. 

Nicht besser erging es ihnen mit China, dem sie vor dem Bruch noch die zur Errichtung einer eigenen Atomindustrie benötigten Informationen überlassen hatten — als Opfer ihrer eigenen Propaganda in dem Irrglauben gefangen, daß kommunistisch regierte Länder immer und unter allen Umständen "natürliche Verbündete" seien. Seitdem muß sich Rußland nicht nur im Westen, sondern auch an seiner vielfach längeren Grenze zu China bedroht fühlen und verteidigen. 

(Bei der Gegenüberstellung von westlichen und östlichen Rüstungs­aufwendungen, bei denen die kritische Betrachtung alles in allem, wie schon belegt, ohnehin ein deutliches westliches Übergewicht ergibt, wird regelmäßig "vergessen", daß die Russen mindestens ein Drittel ihrer gesamten Rüstungsausgaben zur Verteidigung dieser zweiten Front aufzuwenden haben.)

Aber die Liste gravierender russischer Schlappen und Fehlschläge ist damit noch keineswegs komplett. 1973 wurden sie von Sadat aus Ägypten hinaus­geworfen, nachdem die unterentwickelte sowjetische Wirtschaft in den Jahren zuvor Militärhilfe im Wert von vier Milliarden Dollar ins Land gepumpt hatte (gedacht als Gegengewicht gegen die amerikanische Israel-Hilfe).

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1977 warf der Sudan alle russischen Militärberater und Entwicklungshelfer aus dem Land und brach die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab, mit dem Vorwurf, die Russen hätten begonnen, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Schließlich mußten sie auch Somalia verlassen, was ihnen allein deshalb nicht leicht gefallen sein dürfte, weil sie dort die einzige Flottenbasis außerhalb des eigenen Territoriums eingerichtet hatten.

Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang ferner, daß es nach 1945 immerhin zwei ursprüng­lich zum Ostblock gehörenden Staaten gelungen ist, sich aus der sowjetischen Hegemonie zu lösen: Jugoslawien und Albanien. Partiell gehört zu dieser Gruppe auch noch Rumänien, das politisch und militärisch in den letzten Jahren eine Eigenständigkeit errungen hat, die angesichts der rigide praktizierten Breschnew-Doktrin* erstaunen muß. 

Der Umstand, daß die Versuche anderer "sozialistischer Bruderstaaten", es ihnen gleichzutun, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und in den letzten Jahren in Polen wenn nicht blutig, dann durch massiven militärischen Druck unterbunden werden mußten, kann auch nicht gerade als besonders glänzendes Schmuckstück in der angeblich so lückenlosen Reihe sowjetischer Erfolge angesehen werden. 

Nicht zu vergessen die brutale, den Vorwurf des Völkermords rechtfertigende Unterdrückung Afghanistans, die sich seit mehreren Jahren vor den Augen einer das Geschehen fassungslos verfolgenden "Dritten Welt" abspielt, die einst wirklich an die ideologisch-propagandistische Phrase geglaubt hatte, das Sowjetregime sei der "natürliche Verbündete" aller armen, hilfsbedürftigen, vom amerikanischen Imperialismus unterdrückten Staaten dieser Erde.

Das Sowjetreich erfolgreich auf dem Wege zur Weltherrschaft? Die Fakten rechtfertigen die Diagnose nicht. Objektiv sieht die Tendenz ganz anders aus. Noch vor einigen Jahren gab es Stimmen in den USA, die ernstlich einen Austritt der Vereinigten Staaten aus der UNO erwogen, da die erdrückende Stimmenmehrheit der fast schon gewohnheitsmäßig alle sowjetischen Anträge befürwortenden Drittwelt-Länder die Weltorganisation zu einem Instrument antiamerikan­ischer Sowjetpropaganda zu machen drohte. 

*  These von der begrenzten Souveränität der Staaten des "sozialistischen Lagers". Sie diente zur Rechtfertigung der Besetzung der CSSR durch die Truppen des Warschauer Pakts (1968).

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Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Die Zeiten haben sich geändert. Bei einer am 15. November 1984 in der Vollversammlung der Vereinten Nationen erfolgten Abstimmung unterstützten 119 Länder einen Antrag, der den sofortigen Abzug aller russischen Truppen aus Afghanistan forderte. Nur zwanzig Länder — darunter natürlich die selbst unterdrückten Marionetten der Runde der "sozialistischen Bruderstaaten" — stimmten gegen diese Forderung (und 14 weitere enthielten sich der Stimme).

Fürwahr, die Sowjets haben nicht nur die meisten und ganz gewiß die politisch und militärisch gewichtigsten Verbündeten außerhalb des eigentlichen Ostblocks einen nach dem anderen verloren, sondern auch die meisten ihrer ursprünglichen Freunde in der farbigen Welt. Der zahlenmäßig das Bild der UNO beherrschende Kreis der jungen Nationen beginnt zu entdecken, daß der sowjetische Kaiser keine Kleider anhat.

Zu dieser Bilanz würde man bei einer nüchternen Betrachtung der Situation selbst dann kommen, wenn man sich den unseligen, globalpolitisch verhängnisvollen amerikanischen Standpunkt zu eigen machte, daß überall dort, wo auf dieser Welt Befreiungs­bewegungen gegen Diktaturen, gegen die Ungerechtigkeit einer feudalen Wirtschaftsordnung oder gegen die Ausbeutung durch ausländische Wirtschaftsinteressen aufgestanden sind, das eigentliche, das wahre Ziel in einer Erweiterung der sowjetischen Einflußsphäre bestehe. Daß russische Agenten bei solchen Anlässen mitzumischen versuchen, steht außer Frage. Wie unangebracht es andererseits ist, ihre Chancen auf bleibenden Erfolg zu überschätzen, ergibt sich aus der soeben skizzierten sowjetischen "Erfolgsbilanz" der zurückliegenden Jahrzehnte.

Die Farben werden aus sowjetischer Sicht nicht freundlicher, wenn man die Szene um die noch fehlenden Fakten ergänzt, die für das Machtpotential Rußlands maßgeblich sind. In der Klammer zwischen der westlichen Grenzlinie zur NATO und der östlichen zu einem feindlichen China, das selbst dabei ist, sich zu seiner Großmacht aufzuschwingen, sieht das russische Imperium sich von einer fast lückenlosen Kette westlicher Militär­stützpunkte in allen Himmels­richtungen umgeben. 

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Um abermals eine unverdächtige Quelle zu zitieren: Im offiziellen Report Nr. 97-58 des Verteidigungs­ausschusses des US-Senats aus dem Jahre 1981 heißt es(79):

"Die Sowjets sehen sich möglicher­weise von feindlichen Kräften eingekreist, ohne starke Alliierte zur Unterstützung zu haben. Von den 16 Staaten, die 1978 die größten Verteidigungshaushalte hatten, sind sieben einschließlich der Vereinigten Staaten Mitglieder der NATO, eins (Japan) hat ein bilaterales Verteidigungsabkommen mit den USA, und drei (China, Saudi-Arabien und Israel) sind dezidiert antisowjetisch oder prowestlich orientiert. Nur drei der 16 Staaten (die UdSSR selbst sowie die DDR und Polen) sind Mitglieder des Warschauer Vertrags*, ein weiteres (Indien) ist prosowjetisch orientiert ..."

In der Tat, man möchte es für möglich halten, daß die Sowjets sich eingekreist fühlen!

Aber auch das sind immer noch nicht alle Faktoren, die wir bei dem Versuch einer nüchternen Bilanzierung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse in Rechnung stellen müssen. Selbstverständlich gehört zu ihnen auch die wirtschaftliche und industrielle Potenz der jeweiligen Supermacht. Nun, die Ineffizienz der sowjetischen Wirtschaft, die Mängel des russischen Transportsystems, die chronische Versorgungsmalaise des gesamten Ostblocks, der bei den Banken des kapitalistischen Gegners mit astronomischen Summen verschuldet ist, das alles ist weidlich bekannt. Es spricht für sich, daß das Riesenreich es nicht einmal in Friedenszeiten schafft, Nahrungsmittel in einer zur Versorgung der eigenen Bevölkerung ausreichenden Menge zu produzieren, sondern trotz permanenter Devisenknappheit gezwungen ist, der konkurrierenden Supermacht Jahr um Jahr Getreide in der Größenordnung von vielen Millionen Tonnen abzukaufen.

* Wie hilfreich mag wohl den Russen selbst die Zugehörigkeit Polens zu dieser kleinen Runde erscheinen?

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Wir brauchen über all das nicht in Tränen auszubrechen. Mitleid hat dieses Imperium nicht verdient (wenn auch gewiß die seinem Einfluß unterworfenen Menschen). Die Sowjets haben sich das alles durch ihre Politik selbst auf den Hals gezogen. Ich weiß: Da gab es die westliche militärische Intervention während der Geburtswehen des postrevolutionären Rußlands, den mehrere Jahre lang drohenden Zerfall des Riesenreiches. Da gab es, ebenfalls in den zwanziger Jahren, den polnischen Überfall, der die "günstige Gelegenheit" nutzte, um sich aus dem noch nicht konsolidierten russischen Staatswesen ein üppig bemessenes — und weder durch historische noch durch ethnische Argumente hinreichend zu legitimierendes — Stück herauszuschneiden. Und da gab es dann schließlich — und das alles zu Lebzeiten einer einzigen Generation! — den mörderischen Überfall Nazi-Deutschlands, der zwanzig Millionen Tote hinterließ und ein weithin verwüstetes Westrußland.

Dennoch: Die Lage könnte heute günstiger sein, als sie es ist, wenn dieses System sich nicht fortwährend selbst behindern würde. Unser Mitleid mit der heutigen Situation ist daher überflüssig. Es ist aber auch überhaupt nicht gefragt. Nicht, ob wir dieses Imperium bedauern sollen, steht zur Debatte, sondern allein die Frage, wie sehr wir Grund haben, uns vor ihm zu fürchten.

Wer von uns, welcher amerikanische Politiker oder General würde angesichts dieser objektiv vorliegenden Bilanz der Kräfte­verhältnisse mit den Russen wohl tauschen mögen? Könnte man, wenn man diese Daten im Kopf hat und dann an unsere Russen-Hysterie denkt, nicht auf den Gedanken kommen, hier habe die Schlange angefangen, sich vor dem Kaninchen zu fürchten? Noch einmal: Natürlich gibt es keinen Anlaß, diesem geostrategisch unvergleichlich benachteiligten, aufgrund jahrhunderte­langer furchtbarer Erfahrungen von Invasionsängsten beherrschten und an den Folgen eigener Unfähigkeit chronisch leidenden Riesenreich ohne gehörige Vorsicht zu begegnen oder gar ohne die Mittel, sich notfalls verteidigen zu können. Aber aus diesem Grunde sind wir ja auch bis an die Zähne bewaffnet, in jedem der seit 1945 vergangenen Jahre nachweislich weit mehr, als es die östliche Seite zur jeweils selben Zeit gewesen ist. 

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Warum dann trotzdem die auch bei vielen intelligenten und sonst ganz rational denkenden ("vernünftigen") Menschen verbreitete Zwangsvorstellung, daß ein Überfall aus dem Osten jederzeit zu gewärtigen sei und daß — in einer Situation eines vielfachen "Overkill-Potentials"! — nur eine die westliche Wirtschaft bis an den Rand des Ruins belastende Steigerung der bisherigen Rüstungsanstrengungen die Gefahr noch abwenden könne? Warum angesichts einer erdrückenden globalen Überlegenheit des Westens80 Bekundungen einer Furcht, die so übermächtig geworden ist, daß ein Psychologe sie unter dem Rubrum "Phobie" einordnen würde?

"Wenn Amerika abrüstete und hilflos wäre, wie lange würde es dann wohl dauern, bis die Kommunisten auch den kleinen Rest (!) der freien Welt schlucken würden, den es heute noch gibt?"81 heißt es in einem (typischen) Leserbrief an eine amerikanische Provinzzeitung als Antwort auf den Vorschlag, beide Seiten sollten dazu übergehen, atomar abzurüsten. Das ist jene an Verfolgungswahn grenzende Mentalität, die Ronald Reagan, Caspar Weinberger, Colin S. Gray und die anderen Sicherheits­experten dieses Schlages an die Macht gebracht hat. Legal und ganz demokratisch.

Sie sind nicht nur die verfassungs­gemäß gewählten Repräsentanten des amerikanischen Volkes, sondern ohne jeden Zweifel auch Männer, die die psychische Verfassung des von ihnen repräsentierten Volkes getreulich widerspiegeln.82  Eine psychische Verfassung, in der es eine bestürzende Mehrheit dieses großen Volkes für richtig hält, daß ihr Präsident ungeachtet bedrückender innenpolitischer und globaler Probleme für fünf Jahre, 1982-86, die unvorstellbare Summe von 1,5 Billionen Dollar (1.500.000.000.000 Dollar, für jeden einzelnen Tag 800 Millionen Dollar) zur weiteren Aufrüstung verlangt hat.*

Bevor wir darauf mit dem Finger zeigen, sollten wir daran denken, daß der aus dieser Mentalität sprechende Verfolgungswahn auch bei uns in voller Blüte steht. Wie sonst soll man es nennen, wenn der Fraktionsvorsitzende der stärksten Regierungspartei den Russen in der "Nach"-Rüstungsdebatte die strategische Option unterstellt, "mit einem einzigen Schlag alle wichtigen Ziele in Europa zu zerstören" — um den Teilkontinent nach anschließend erfolgter Besetzung "zur Ausbeutung zur Verfügung" zu haben?83  

* (d-2004): Das war (aber) doch sicherlich der gesamte Rüstungsetat? (also nicht nur zusätzliche Aufrüstung?)

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Fürwahr, wer den Russen nicht nur die Absicht zutraut, Europa "mit einem einzigen Schlag" zu zerstören, sondern dazu auch noch das Motiv und die Fähigkeit, die atomare Wüste hinterher gewinnträchtig "auszubeuten", für den hat der Gegner übermenschliche Proportionen angenommen. In dessen Kopf ist dem potentiellen Feind längst alles zuzutrauen. Der wähnt sich in einer Welt so irrationaler Bedrohungen, daß ihm auch eine "jegliches legitime Verteidigungsbedürfnis übersteigende Rüstung" weder den inneren noch gar den äußeren Frieden schenken kann. Muß es nicht als das "Tüpfelchen auf dem i" gelten, daß just diese Leute es sind, die denen, die vor dem zunehmenden Risiko eines atomaren Holocaust warnen, voller Entrüstung vorwerfen, sie schürten die Angst ihrer Mitmenschen?

Die entscheidende Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen, um die psychologische Struktur des Falles verstehen zu können: Wie ist es zu erklären, daß wir als die in jeder wesentlichen Hinsicht weitaus Stärkeren die Angst nicht abzuschütteln vermögen, hoffnungslos Unterlegene zu sein? Wie ist, anders gesagt, die Selbstverständlichkeit psychologisch zu verstehen, mit der wir alle eigenen Rüstungs­anstrengungen — unter Berufung auf unsere unbezweifelbare Friedensliebe — als Beitrag zur Sicherheit der Welt betrachten, während wir die gleichen, genauer: die nur fast gleichen Anstrengungen der anderen Seite mit derselben Überzeugung als Drohung beurteilen, geboren aus einer aggressiven Grundhaltung?

"Von Wettrüsten kann doch, was den Westen angeht, wirklich nicht die Rede sein", sagte Alfred Dregger. Die UdSSR dagegen denke bis heute "ausschließlich in den Kategorien ihres eigenen aggressiven Sicherheitsbedürfnisses, das nicht Ausgleich sucht, sondern auf Unterwerfung zielt", sekundierte ihm der CSU-Redner Waigel. Warum ist es, wenn zwei dasselbe tun, auf dem Felde der Sicherheitspolitik in den Augen der meisten von uns keineswegs dasselbe? Die Antwort ergibt sich aus einer zur Konstitution des Menschen gehörenden, uns allen angeborenen Asymmetrie des Angsterlebens.84

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Zwischen der Angst, die ich an mir selbst erlebe, und der Angst eines anderen Menschen, von der ich lediglich weiß, klaffen Welten. Das ist gewiß unlogisch, aber psychologisch verständlich ist es allemal. Die Lage, in der ich mich befinde, wenn ich mir mit noch so großer Phantasie ausmale, ein Zahnarzt bohre mir auf dem Nerv, hat mit der Situation, in der er das wirklich tut, so gut wie nichts gemein. Genau dieser Unterschied besteht für jeden Menschen auch zwischen der eigenen Angst und der eines anderen. 

Real ist immer nur die eigene Angst. Die Angst des anderen bleibt ihr gegenüber ein blasser Schemen. Daher erlebt jeder von uns die Rakete in der Hand des Gegners unmittelbar als ein sein Leben bedrohendes Potential. Die Fähigkeit jedoch, die angstauslösende Wirkung realistisch einzuschätzen, die von der gleichen Rakete in der eigenen Hand ausgeht, ist in unserer Psyche fatal unterentwickelt. Ich weiß, da ich der Besitzer meines eigenen Kopfes bin, was in diesem vorgeht. Ich weiß daher auch über jeden Zweifel hinaus, daß ich meine Rakete ohne jeden Hintergedanken einzig und allein zu dem Zweck in der Hand halte, mich mit ihr notfalls verteidigen zu können. Angesichts der Rakete, die ich in der Hand des Gegners sehe, ist mein Wissen sehr viel weniger vollständig. Der Inhalt seines Kopfes ist mir nicht unmittelbar zugänglich, und daher rät meine Angst mir, vorsichtshalber von der schlimmsten Möglichkeit auszugehen.

Diese psychologische Asymmetrie ist allen Menschen angeboren und daher nicht aufhebbar. Sie ist ein erstaunlich oft übersehener Motor des aberwitzigen Rüstungswettlaufs. Denn sie nimmt dem von beiden Seiten als Verhandlungsziel angestrebten "Gleichgewicht" a priori jegliche Realisierungschance. Soweit die Kontrahenten dieses Ziel ernstlich verfolgen — und das nicht zur Vertuschung von Falschspielertricks nur zu tun vorgeben —, jagen sie einem Phantom nach.

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Die trotz jahrzehnte­langer Ergebnislosigkeit unverdrossen fortgesetzte Raketenzählerei ist deshalb so vollkommen sinnlos, weil sie von der gänzlich verfehlten Annahme ausgeht, bei einem Bedrohungs­gleich­gewicht handele es sich um eine objektive, rechnerisch feststellbare Größe. Ein Mißverständnis, das alle an diesem Ziel orientierten Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn ein Bedrohungsgleichgewicht ist keine objektivierbare Größe, sondern eine psychologische Erlebnisqualität. Für diese aber gelten ganz andere als arithmetische Gesetze. Deshalb überläßt sich einem Irrlicht, wer die Herstellung eines von beiden Seiten bestätigten "Gleichgewichts" zur obersten Richtschnur von Rüstungskontrollverhandlungen macht.

Selbstverständlich ist dieser Begriff sinnvoll und legitim. Jedoch darf, wer ihn benutzt, nicht aus dem Auge verlieren, daß er damit ein auf dem Felde der Sicherheits­politik grundsätzlich nicht realisierbares Ziel beschreibt. Auf welcher Ebene das Gleichgewicht numerisch auch immer hergestellt würde, keines der beiden Lager könnte jemals aufhören, die Bedrohung, der es ausgesetzt ist, für unvergleichlich viel größer zu halten als die Bedrohung, die von ihm selbst ausgeht.  

Jedes der beiden Lager wird daher auch in Zukunft — so, wie es in den zurückliegenden Jahrzehnten ausnahmslos der Fall war — der aus seiner Sicht zwingenden Logik gehorchen, nach der es notwendig ist, die aus der eigenen Perspektive unübersehbar vorliegende Differenz zwischen dem eigenen Bedrohungs­potential und dem des Gegners durch eigene "Nach"-Rüstung auszugleichen. Und jede Seite wird eben diesen Schritt dann, wenn die Gegenseite ihn vollzieht, unweigerlich als das sichere Indiz einer gegnerischen Aggressivität interpretieren, die auf sie um so provozierender wirken muß, als sie — subjektiv ehrlich — fest davon überzeugt ist, nicht den geringsten Anlaß für einen neuerlichen Rüstungsschritt geliefert zu haben.

So bleibt das Karussell in Schwung.

Deshalb kann weiterhin als ehrlicher Mensch gelten, wer, wie Helmut Kohl oder Alfred Dregger oder Theodor Waigel oder der amerikanische Präsident, eine unsere Sicherheit in höchstem Maße bedrohende russische Überlegenheit an die Wand malt, obwohl aus dem eigenen Lager stammende Zahlen existieren, die diese Behauptung objektiv zur Unwahrheit stempeln.

Deshalb ist der deutsche Bundeskanzler weiterhin ein ehrenwerter Mann, auch wenn er am 21. November 1983 vor dem Deutschen Bundestag verkündete, daß ein Verzicht auf die Aufstellung von Pershing-2-Raketen und Marschflugkörpern die Gefahr eines Krieges erhöhen würde.

Obwohl die "Generale für Frieden und Abrüstung" mit militärisch unwiderlegbaren Argumenten nachge­wiesen hatten, daß 1. die Aufstellung der NATO-Kernwaffen nur mit der Absicht eines nuklearen Erstschlages zu rechtfertigen sei, daß 2. jeder konventionelle Konflikt in Mitteleuropa zwangsläufig eine Gefährdung dieser nuklearen Systeme bedeuten werde und damit die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit ihres frühzeitigen Einsatzes und daß 3. nicht der geringste Zweifel daran bestehe, daß die Sowjetunion daraufhin Europa mit einem nuklearen Gegenschlag in eine Wüste verwandeln würde. (62/4, S. 118)

Keine Frage: Ehrlich sind sie alle und alle ehrenwert. Auch die Weinbergers, die Adelmans, die Rostows und Perles.85) Auch Edward Teller, der "Vater der Wasserstoffbombe", der heute als wissenschaftlicher Chefberater Reagans in Rüstungsfragen die Rolle eines Super-Falken spielt.

Die Frage ist nur, was aus uns werden wird, wenn wir uns weiterhin dem Urteil und den Entscheidungen dieser Männer überlassen.

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