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Auf dem Kurs in den "führbaren Atomkrieg"

 

 

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Aber hat das nukleare <Gleichgewicht des Schreckens> etwa nicht dazu beigetragen, daß uns in Europa der Friede seit 1945 erhalten geblieben ist? 

Und ergibt sich daraus etwa nicht der logische Umkehrschluß, daß folglich jeder Eingriff in dieses Gleichgewicht — also zum Beispiel das einseitige "Einfrieren" des westlichen Vernichtungspotentials auf dem erreichten Stand ohne Vorleistung des Ostens — den weiteren Erhalt dieses Friedens aufs Spiel setzen würde?

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen dieses von allen Rüstungsbefürwortern nachgeplapperte Argument für überzeugend halten. Sie sind ganz offensichtlich blind gegenüber dem zentralen Denkfehler, auf dem es beruht. 

Von der gleichen Aussagekraft wäre auch die banale Feststellung, daß die "Titanic" sich in Sicherheit befunden habe, bevor sie auf den Eisberg stieß. 

Es mag durchaus sein, daß die von vielen offenbar schon für bemerkenswert lang gehaltene Friedensperiode in Europa eine Folge des Prinzips wechselseitiger "Abschreckung" gewesen ist. 

Beruhigung für die Zukunft aber ließe sich daraus doch nur ziehen, wenn wir sicher sein könnten, daß es sich bei diesem durch Abschreckung gewährleisteten Frieden um einen statischen Zustand handelt. (Wenn die "Titanic" bewegungslos in ihrem Heimathafen liegengeblieben wäre, ja dann, aber auch nur dann, hätte man sie für alle Zukunft in Sicherheit glauben können.)

Bischöfe sind es bemerkenswerterweise gewesen, nicht Generale oder Politiker, die in aller Unmißverständ­lichkeit ausge­sprochen haben, was selbst­verständlich ist: "Nukleare Abschreckung ist auf Dauer kein verläßliches Instrument der Kriegsverhütung."86 Die Begründung wurde gleich mitgeliefert: Es sei "eine tragische Illusion zu meinen, der Rüstungswettlauf könnte bis ins Unendliche so weitergehen, ohne eine Katastrophe herauf­zubeschwören"

Das ist genau der Punkt. Wer den Frieden durch Abschreckung aufgrund der Erfahrung der letzten vier Jahrzehnte für eine ausreichende Sicherung der Zukunft hält, verdrängt total, daß die "Abschreckung", der er vertrauen zu können glaubt, ihren Charakter nicht für alle Zeiten unverändert beibehalten kann.

Hier stoßen wir abermals auf einen seltsam widersprüchlichen Sachverhalt. Denn wer sich auf diesen durch Abschreckung erzwungenen Frieden auch weiterhin einlassen will, der müßte eigentlich doch entschieden dafür eintreten, daß sich an den "bewährten" Bedingungen, die ihn bisher erhalten haben, nicht das geringste ändert. Gerade er müßte also zum Beispiel engagierter Anhänger jener von den USA ausgehenden Variante der Friedens­bewegung sein, die "Freeze", das Einfrieren der atomaren Rüstung auf dem jetzigen Stand, propagiert. 

Bekanntlich aber ist das Gegenteil der Fall. 

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Bekanntlich erklären gerade jene, die sich fortwährend auf das Argument berufen "40 Jahre Frieden in Europa unter dem atomaren Schirm", einen Verzicht auf den jeweils nächsten möglichen Aufrüstungs­schritt (die Vermehrung oder "Verbesserung" einer bestehenden Waffe oder die Einführung eines neuen Waffensystems) mit stereotyper Beharrlichkeit zu einem Verrat an der Sache der Friedenssicherung.

Auch in diesem Punkt aber hat die vom quantitativen und vor allem qualitativen Rüstungswettlauf bewirkte Eigen­dynamik der Entwicklung die offiziell noch immer vorgetragene sicherheitspolitische Argumentation längst überholt. Die "Gnadenfrist", die uns das Abschreckungsprinzip verschaffte, um über zuverlässigere und rationalere Möglichkeiten der Friedenssicherung nachdenken zu können, geht heute definitiv ihrem Ende ent­gegen. Bisher haben wir sie ungenützt verstreichen lassen. Aus eigener innerer Dynamik steuert die Entwickl­ung aber bereits erkennbar auf ein neues strategisches Konzept zu: auf das des "führbaren Atomkriegs".

Abschreckung wird nämlich durch den Fortgang der waffentechnischen Entwicklung früher oder später auto­mat­isch in Frage gestellt. Die Perfektionierung der Systeme setzt der Wirksamkeit "reiner" Abschreckung als friedens­sichernder Strategie mit Notwendigkeit schließlich ein Ende, ohne daß noch so gut gemeinter und energ­ischer menschlicher Widerstand — wenn es ihn denn gäbe — das geringste daran ändern könnte. Nukleare Abschreck­ung beginnt just dann, wenn sie aus waffentechnologischer Perspektive den Gipfel ihrer Perfektion erreicht hat, aufgrund eines ihr anhaftenden und unvermeidlichen inneren Widerspruchs an Wirksamkeit zu verlieren.

Abschreckung funktioniert nur, wenn der Gegner davon überzeugt ist, daß die andere Seite nicht nur über die Mittel verfügt, mit denen sie ihn auslöschen könnte, sondern auch über den unerschütterlichen Willen, diese Mittel notfalls einzusetzen, und zwar selbst dann, wenn sie damit infolge eines unausbleiblichen Gegen­schlages auch die eigene Vernichtung auslöst. Die plausible Annahme, daß diese Aussicht beide Seiten davon abhalten werde, von dem eigenen nuklearen Arsenal Gebrauch zu machen, ist bekanntlich der Kern der Abschreckungsdoktrin. Sie erklärt auch so manchen eigentümlichen Vorfall, der für sich allein genommen zunächst skurril wirken könnte.

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So schickte Kennedy im Dezember 1960 zum Beispiel Sicherheitsberater nach Moskau, die keinen anderen Auftrag hatten als den, die Russen dazu zu bewegen, ihre Interkontinentalraketen endlich unver­wundbar zu machen. Die im ersten Augenblick verblüffend klingende Forderung folgte peinlich genau der Logik des Abschreckungsprinzips: Sie hatte zum Ziel, die mögliche russische Befürchtung zu beseitigen, die Verwundbarkeit ihres Abschreckungspotentials könnte die amerikanische Seite irgendwann einmal dazu verleiten, dieses Potential durch einen Erstschlag auszuschalten. 

So kompliziert verlaufen die psychologischen Wege der Abschreckungsstrategie! Ich entnehme diese Begebenheit dem schon wiederholt zitierten Buch von H. Afheldt 66/3, der an seine Schilderung die in der Tat höchst beunruhigende Frage anknüpft, warum denn dann wohl zwanzig Jahre später, im Rahmen der "Nach"-Rüstungsdebatte, gerade die sich aus ihrer Mobilität ergebende Unverwundbarkeit der SS-20 als besonderes Bedrohungs­moment empfunden wurde.

"Die erschreckten Reaktionen auf die ›schwere Bekämpfbarkeit‹ der neuen SS-20-Raketen zeigen eine besorgnis­erregende Änderung der Auffassung, die im Westen von der Rüstung, insbesondere von Kernwaffen, herrscht." Eine Änderung in der Tat, die den sich auch aus anderen Hinweisen speisenden Verdacht nährt, das westliche strategische Denken bewege sich inzwischen in der Richtung auf einen nicht mehr unter allen Umständen zu verhindernden, sondern ganz im Gegenteil unter bestimmten Voraussetzungen durchaus führbaren Atomkrieg.

Aber wir wollen der Reihe nach vorgehen. 

Wir sagten, die Vorbedingung der Wirksamkeit von Abschreckung sei die Überzeugung beider Seiten, daß ein Angriff auch die eigene Vernichtung nach sich ziehen werde. "Wer als erster schießt, stirbt als zweiter" lautete die Devise. Sie aber führte sich, dies die Folge eines inneren Widerspruchs des so einleuchtend erscheinenden Prinzips, im weiteren Verlauf selbst ad absurdum. 

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Denn just als die Perfektion der Waffen­technik den absoluten Selbstmord­charakter einer jeglichen Angriffshandlung mit strategischen Kernwaffen zur absoluten Gewißheit gemacht hatte, kam ein irritierendes psychologisches Moment neu ins Spiel.

"Wenn", so flüsterte die allzeit wache Bedrohungsangst es den westlichen Strategen jetzt ins Ohr, "wenn die Russen nunmehr also völlig sicher sein können, daß wir unsere Kernwaffen niemals einsetzen werden, weil wir keine Selbstmörder sind, was hindert sie dann eigentlich daran, sich mit Hilfe einer Reihe ›kleiner‹ Aggressionen Stückchen für Stückchen jene Vorteile zu nehmen — Rohstoffquellen oder strategisch wichtige Stützpunkte —, die das Kräfteverhältnis auf längere Sicht zu ihren Gunsten verändern würden?" Gerade die Vervollkommnung der Abschreckung — und darin liegt ihre innere Widersprüchlichkeit — ließ sie unglaubhaft und damit unwirksam werden.

Niemand kann billigerweise davon ausgehen oder gar die Forderung erheben, die Amerikaner sollten bei einer "begrenzten" russischen Aggression, bei der vielleicht sogar einige taktische Kernsprengköpfe eingesetzt würden, unverzüglich mit nationalem Selbstmord antworten oder gar, durch die Auslösung der Automatik von Schlag und Gegenschlag, mit der Zerstörung der ganzen Erde. Der Abschreckungsschirm, unter dem bisher der Frieden geborgen schien, verwandelte sich von diesem Punkt an im Verständnis derer, die ihr Denken dem Einfluß permanenter Bedrohungsängste unterworfen hatten, langsam in einen Schirm, unter dessen Deckung Krieg, auch ein mit "kleinen" Kernwaffen geführter Krieg, erneut gedeihen konnte.

Was ließ sich dagegen tun? 

Einen Ausweg wies der waffentechnische Fortschritt, der aus eigengesetz­licher Dynamik fortwährend die Anpassung an den "strategischen Markt" zu verbessern sucht: Zielgenauigkeit hieß von nun an das Leistungskriterium und: Miniaturisierung der Sprengköpfe. 

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Eine "blindwütige" Zerstörungs­kraft, gewährleistet durch Sprengköpfe im Megatonnenbereich, die mit nur mäßiger Präzision in die Umgebung des Ziels befördert zu werden brauchten, das waren die Charakteristika einer typischen strategischen Abschreckungswaffe gewesen. Die Perfektionierung der Treffgenauigkeit und die — bei Kernsprengsätzen technisch außerordentlich schwierige — Verkleinerung der Sprengköpfe sind ebenso charakteristisch für die Abkehr von diesem strategischen Prinzip.

Deshalb ist eine Rakete vom Typ Pershing-2 eben — auch wenn das von interessierter Seite bis heute heftig in Abrede gestellt wird — keine typische "Abschreckungs­waffe" mehr. Sie ist der waffentechnisch konkretisierte Ausdruck einer neuen strategischen Denkschule, die das zur Friedens­sicherung nicht mehr länger für tauglich erachtete Abschreckungs­prinzip durch die Androhung gezielter ("chirurgischer") nuklearer Schläge — gegen Befehlsbunker, Nachrichtenzentren und andere Schwerpunkte der gegnerischen Verteidigungs­strukturen — zu ersetzen sucht.

Der anhaltende Streit um die Frage, ob es sich bei der Pershing-2 um eine "Erstschlagswaffe" handele oder nicht, ist ein Streit um des Kaisers Bart. Es kommt auf die Definition an. Mit einem Zielkreis von etwa dreißig Metern — in diesen läßt sie sich aus mehreren tausend Kilometern Entfernung steuern — und Sprengköpfen im Kilotonnenbereich erfüllt sie die von einer Erstschlags­waffe zu fordernden Leistungskriterien jedenfalls in bisher unbekanntem Maße. In höherem Maße als das Gegenstück auf sowjetischer Seite, die legendäre SS-20, deren Eigenschaften andererseits keinen Zweifel daran lassen, daß auch die russische Waffenentwicklung vom Pfade reiner Abschreckung abzuweichen begonnen hat.

Es ist zwar sicher richtig, daß die 108 Pershings, die aufgestellt werden sollen, weder zahlenmäßig noch mit der (offiziell angegebenen) Reichweite von rund 5000 Kilometern in der Lage sind, das russische Zweitschlags­potential auszuschalten und damit die "Abschreckung" aus den Angeln zu heben. Aber noch ist ja auch nicht aller Tage Abend.

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Wer unter diesen Umständen, wie alle Nachrüstungsbefürworter im deutschen Parlament es unisono getan haben, im Brustton der Überzeugung verkündet, die Aufstellung der neuen amerikanischen Raketen diene allein "der Wiederherstellung des atomaren Gleichgewichts" und damit der "Aufrechterhaltung der Abschreckung" und somit auch der Vergrößerung unserer Sicherheit, der weiß entweder nicht, wovon er redet, oder er belügt die Öffentlichkeit.

Zu seinen Gunsten sei unterstellt, daß er die "Nach"-Rüstung aus welchen Gründen auch immer für unbedingt notwendig hält und nur deshalb objektiv unwahre Gründe vorschob, weil er nicht mit der Möglichkeit rechnete, uns seine wahren, einen höheren Grad an Weisheit voraussetzenden Argumente verständlich machen zu können.

Daß der Untertan auch in der Demokratie von der Obrigkeit in aller Regel für ziemlich dumm gehalten und entsprechend behandelt wird, für diese Vermutung sprechen ja auch sonst Anhaltspunkte in Hülle und Fülle. (Wie oft bekommt man in der Diskussion mit "Sicherheitsexperten" bis auf den heutigen Tag zum Beispiel allen Ernstes das groteske "Argument" aufgetischt, die Abnahme einer nuklearen Gefährdung ergäbe sich doch allein schon aus der stetigen Verkleinerung der Sprengköpfe!)

Diese Entschuldigung mag der Ehrenhaftigkeit der "Nach"-Rüstungs-Befürworter Genüge tun, unsere Sorge angesichts der Mentalität, in der "da oben" über Fragen entschieden wird, die unser Überleben berühren, vermag sie nicht im mindesten zu beschwichtigen. Denn wer weiß sich schon gern in der Hand von Menschen, die, und seien sie noch so intelligent und ehrlich, über unser Schicksal in einer psychischen Verfassung entscheiden, die von phobischen Ängsten geprägt ist. Von Menschen, die sich auf eine sicherheitspolitische Philosophie festgelegt haben (oder haben festlegen lassen), die durch Realitätsverlust und die spezifischen Symptome eines unübersehbar gewordenen Verfolgungswahns charakterisiert ist.

Schon ihre Sprache verrät sie. Auch in ihren Kreisen hat sich längst ein spezifisches Rotwelsch-Idiom entwickelt, das die Vorstellungswelt verräterisch widerspiegelt, in die sie sich zurückgezogen haben. Von den "Insidern" selbst unbemerkt, bestätigt es unsere Befürchtungen:

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Hier ist ein die Phantasie abstumpfendes, das Grauen in schlimmster Hollywoodmanier mit Pastellfarben zukleisterndes Vokabular im Schwange87, unverkennbares Anzeichen eines bereits fortgeschrittenen Realitätsverlustes. Oder genauer, da "Verlust" einen vom Betroffenen selbst bedauerten, rein passiven Vorgang meint: sprachlicher Ausdruck einer konsequenten, durch berufliche Gewöhnung und phobische Verdrängung motivierten aktiven Abwendung von der Realität.

Es begann, wir erinnern uns, damit, daß die beteiligten Militärs der Hiroshima-Bombe seinerzeit den Kosenamen "Little Boy" verliehen — so, als wollten sie sich durch sprachliche Verniedlichung des "Geräts" vor der Einsicht abschotten, daß sie im Begriff waren, mit ihm den ungeheuerlichsten Massenmord der Kriegsgeschichte zu begehen. Inzwischen hat man sich auch an Wörter wie "Megatod" und "Overkill" als an (bitte sehr!) sachlich aufzufassende Fachausdrücke gewöhnt. Das heißt aber doch nur, daß das unvorstellbare Entsetzen, auf das diese Wörter sich beziehen, mit ihrer Hilfe mehr verdeckt als ins Bewußtsein gehoben wird.

Im militärischen und sicherheitspolitischen Raum sind Begriffsbildungen dieser Art, die jeden potentiellen emotionalen Anknüpfungs­punkt vorsorglich umgehen, längst gängige Münze. Da tauchen Soldaten in einem Rüstungsvergleich als "menschliche Aktivposten" auf und zukünftige tote Zivilisten als "Nebenverluste". Menschen verwandeln sich im Kopf eines Waffentechnikers in "Weichziele" — die Wirkungsabschätzung erfordert zwingend ihre Unterscheidung von Gebäuden oder "militärischem Gerät" —, und Großstädte werden zu abstrakten "Zielgebieten".

Ein letztes Restchen an Humanität mögen diese das Grauen verharmlosenden Umschreibungen mittelbar insofern noch reflektieren, als sie sich als Belege dafür interpretieren lassen, daß der Mensch Unmenschliches denn doch nicht in beliebig hoher Dosierung zu akzeptieren bereit ist. Aber da gilt es dann eben, sich zu entscheiden. Entweder man lehnt das Unerträgliche entschieden ab und stellt sich ihm bedingungslos in den Weg, oder man "bewältigt" es passiv durch Gewöhnung und läßt sich dabei moralisch korrumpieren. Strategen und Sicherheitspolitiker in Ost und West marschieren mit ungebrochenem Selbstbewußtsein auf dem zweiten Weg.

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Deshalb sind ihre Beteuerungen, sie seien an nichts anderem interessiert als an der Erhaltung des Friedens, in Wahrheit auch keinen Pfifferling wert. Schon zu Lebzeiten Bert Brechts galt der Satz: "Wenn die Oberen vom Frieden reden, weiß das gemeine Volk, daß es Krieg gibt." 88) Selbst wenn sie glauben sollten, was sie uns sagen, änderte das gar nichts. Denn jener Gewöhnungs­prozeß hat längst begonnen, nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihr Denken und ihre Vorstellungswelt zu denaturieren.

Wer es sich lange genug zur alltäglichen professionellen Pflicht macht, das Undenkbare zu denken, für den nimmt das Undenkbare früher oder später ganz unvermeidlich den Charakter des Möglichen an. An diesem Punkt aber beginnt er in seinem Kopf mit dem Gedanken zu spielen, welche Optionen sich wohl eröffnen könnten, wenn er das ursprünglich Undenkbare und inzwischen immerhin als möglich Erscheinende einmal als realisierbare Maßnahme betrachtet. Nur im Kopf, selbst­verständlich, und nur als bloßes Gedankenspiel. Aber von hier ab wird der Weg immer abschüssiger, und Gewöhnung schmiert ihn wie Seife.

An welchem Punkt dieses Weges jene inzwischen schon angelangt sind, die über unser Schicksal entscheiden werden, das ist für jeden in aller Deutlichkeit erkennbar, der Augen und Ohren hat. Wenn die Verantwortlichen heute von der Führbarkeit eines Atomkriegs reden, weil sie bei ihren Computerspielen herausgefunden haben, daß es strategische Möglichkeiten gibt, bei denen nicht die ganze Menschheit, sondern "bloß" zwanzig oder dreißig Prozent der gegnerischen und der eigenen Bevölkerung ausgerottet werden würden — die Bevölkerung der nichtkriegführenden Länder bleibt in der Regel unerwähnt —, dann wird man ohne Übertreibung von einem bereits kritischen Punkt reden dürfen.

Oder kann es uns etwa beruhigen, wenn der amerikanische Vizepräsident George Bush die Ansicht äußert, daß die Vereinigten Staaten selbst aus einem global eskalierenden Atomkrieg als "Gewinner" hervorgehen könnten, wenn es nur gelänge, durch Zivilschutzmaßnahmen das Überleben von mindestens fünf (!) Prozent der amerikanischen Bevölkerung sicherzustellen?23  

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Oder wenn der bundesdeutsche Verteidigungsminister Manfred Wörner kühl resümiert: "Die Bereitschaft zur Hinnahme empfindlicher Verluste an Menschen und Material fällt heute in einem potentiellen Kriegstheater wie in Westeuropa ... bereits mit der Entscheidung, sich überhaupt verteidigen zu wollen."89

Am Rande: 

"Kriegstheater" — wieder so ein die Realität verlogen ins noch Erträgliche verfälschendes Wort, das der nuklearen Massentötung den Charakter einer gewaltigen Show unterzuschieben scheint. Als ob es sich auch dabei nur um eine Variante aus der Gattung der so beliebten Hollywood-Katastrophen­spektakel handelte.

Sie alle wollen den Krieg nicht. Niemand will ihn. Aber will denn niemand sehen, daß die Wahrscheinlichkeit seines Ausbruchs gleichwohl immer größer wird infolge der professionellen Abstumpfung, die in den Köpfen derer um sich greift, denen wir die Aufgabe überlassen haben, uns vor ihm zu schützen? 

Die Gefahr besteht nicht darin, daß irgend jemand heute den Krieg will. Das ist richtig. Aber wie lange können wir die Augen noch davor verschließen, daß sie dadurch stetig näherrückt, daß wir alle einer Gesellschaft angehören, deren Denken und Maßstäbe sich immer mehr militarisieren?

Es ist Zeit, sich darauf zu besinnen, daß der Prozeß nicht nur die sicherheitspolitischen "Profis" erfaßt hat. Diese naturgemäß zwar am stärksten. Ganz unberührt aber sind auch wir, das gewöhnliche Volk, inzwischen nicht mehr. Psychisch seien wir alle längst "atomar verseucht", schreibt Franz Alt. Längst haben wir uns daran gewöhnt, daß wir keine Zeitung mehr aufschlagen und keine Nachrichtensendung mehr hören können, ohne — "mitten im Frieden"! — auf Meldungen über Krisen oder Zwischenfälle, über gegenseitige Drohungen, Ab- oder Aufrüstungsinitiativen, über den erfolgreich abgeschlossenen Test einer neuen Rakete oder die martialische Äußerung irgendeines Generals zu stoßen. 

Mehrmals an jedem Tag, ohne Ausnahme. Längst haben wir uns gewöhnt, das für "normal" zu halten. In der Tat: Es ist "Vorkriegszeit"!

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Auch in unseren Köpfen hat die Realität längst auf bedenkliche Weise begonnen, unrealistische Züge anzunehmen. Es beginnt schon damit, daß wir das, was da auf uns zukommt, noch immer mit dem gewohnten Wort "Krieg" bezeichnen. "Krieg", den hat es immer gegeben, in aller Geschichte. Mit ihm sind die Menschen, so furchtbar er ihnen auch mitspielte, immer auf irgendeine Weise dann doch fertig geworden. Selbst der letzte, der furchtbarste Krieg von allen, unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von seinen historischen Vorgängern: Millionen Menschen kamen um. Aber Zivilisation und Kultur überlebten. In allen Trümmern hinterließ er doch genügend Reste, um den Überlebenden die Chance zu lassen, "wieder von vorn anfangen" zu können. Auch die zwischenstaatliche Ordnung hatte überlebt. Verträge konnten geschlossen werden und das friedliche Zusammen­leben wenigstens innerhalb begrenzter Regionen der Erde neu ordnen.

"Es ist ganz offensichtlich eine den Tatbestand der Unwahrheit erfüllende Verharmlosung, wenn wir, als hätte sich nichts geändert, noch immer dies längst nicht mehr treffende Wort gebrauchen", indem wir von "Krieg" und "Kriegsgefahr" reden, wo es um die Gefahr der Vernichtung allen menschlichen Lebens geht, um die Aussicht, daß hinterher keine Überlebenden mehr Frieden schließen und an eine "Vorkriegszeit" wieder anknüpfen könnten, indem sie von neuem anfangen. "Die Distanz zwischen der Wirklichkeit, um die es geht, wenn wir (heute) Krieg sagen, und der Vorstellung, die wir mit diesem Wort verbinden, ist abgründig", stellt der Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger zu Recht fest.90

 

Das gleiche gilt für das Wort "Waffe". Es stellt objektiv eine Lüge dar angesichts der Wirkung von Vernichtungsmitteln, deren Folgen nicht nur ganze Populationen von "Nichtkombattanten" (welch rührend nostalgisches Wort aus ferner Vergangenheit!), sondern sogar "den Nichtgeborenen, ja den noch nicht Gezeugten" treffen würden. "Völkervertilgungsmittel" (Ivan Illich) wäre ein weitaus passenderes Wort für das, was gemeint ist.

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Für <Waffen>, die "in der Anwendung, bei einiger Eskalation, alle Regeln des Völkerrechts, alle Konventionen und Protokolle von Haag und Genf und dazu die Normen von Nürnberg, mit einem Schlag außer Kraft setzen, die unvermeidlich <Verbrechen gegen die Menschlichkeit> begehen müßten, ja, die dazu bestimmt sind, das zu tun"

Mit diesen Worten beschrieb Dolf Sternberger die "absolute Kriminalität" dieser von uns allen höchst bedenklich nach wie vor <Waffen> genannten Vernichtungs­instrumente.91

Es gibt noch weitere Beispiele: 

Das Wort "Verteidigung" gehört dazu (weil seine legitime Verwendung die Bedeutung einschließt, daß das, was verteidigt werden soll, hinterher — und dies selbst im Falle des Mißlingens der Verteidigung — noch existiert). Das Wort "Nach"-Rüstung gehört ebenfalls dazu, weil es beschwichtigend suggeriert, daß man nur einen Schritt nachvollziehen wolle, den der Gegner schon getan habe, und daß danach alles wieder so sein werde wie zuvor.92  

So stutzt der Verrohungs­prozeß einer zunehmenden psychischen Abstumpfung die Gefahr unmerklich auf eine scheinbar handhabbare Größe zurecht. Wer aber mit dem Gedanken vertraut zu werden beginnt, daß auch Pest und Cholera letztlich nur "gewöhnliche" Infektionen sind, die viele Menschen schon überlebt haben, der wird eines Tages auch anfangen, seinen Impfschutz zu vernachlässigen. 

Kriege fangen in Köpfen an, lange Zeit, bevor der erste Schuß fällt. 
Haben wir den kritischen Punkt womöglich schon überschritten?

 

Ende Juni 1984 hatte ich die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit Edward Teller, dem wohl einflußreichsten Befürworter des Konzepts, die Vereinigten Staaten durch einen im Weltraum zu installierenden Schirm von Abwehrraketen in eine "uneinnehmbare Festung"* zu verwandeln. Der äußerst charmante und lebhafte, hochgebildete alte Herr gab mir dabei eine Antwort, die einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht hat. 

* Festung: Signalisiert diese, im Zusammenhang mit dem "Star-War-Konzept" in den USA — "mitten im Frieden!" — gebräuchliche, angeblich auf Reagan zurückgehende Formulierung nicht auch das Vorliegen eines wahnhaft übersteigerten Schutzbedürfnisses?

Gegen Ende des in deutscher Sprache geführten Gesprächs sagte er (und ich entnehme das folgende Zitat wörtlich dem vorliegenden Protokoll unserer Unterhaltung):

"Sie haben es öfters behauptet, daß ein Atomkrieg die Menschheit ausrotten könnte oder mindestens die Zivilisation. Da bin ich mit Ihnen nur zum Teil einig. Die seelischen Konsequenzen: die könnten der Zivilisation ungeheuren Schaden, vielleicht unwiderrufbaren Schaden zufügen. Aber die Menschheit würde überleben. Das muß man wissen!"

 

Kein Zweifel war möglich: Teller empfand diese Feststellung als beruhigend und hielt sie mir entgegen, weil er überzeugt war, dieser mit Verve vorgetragene Hinweis werde die von mir vorgebrachten Befürchtungen als übertrieben erscheinen lassen.

 wikipedia  Verve  mit Schwung, Begeisterung

Ein Einblick in die Vorstellungswelt des wissenschaftlichen Chefberaters der Reagan-Administration in Rüstungsfragen, der einen lehren kann, wie weit sich die innerhalb des kleinen, exklusiven Kreises der professionellen Sicherheitsexperten geltenden Maßstäbe und Denkprozesse bereits von der Welt entfernt haben, in der wir noch immer zu Hause sind. 

Das Denkgebäude, an dem sie seit so langer Zeit arbeiten und das sie dabei — in ihren Augen — immer weiter vervollkommnet haben, ist in sich schlüssig und logisch unwiderlegbar. In unseren Augen aber hat es seit geraumer Zeit immer unübersehbarer den Charakter eines Wahn­systems angenommen.

Ob sie uns wenigstens vorher fragen werden, wenn sie an den Punkt gelangen, an dem es ihnen früher oder später unweigerlich als "vernünftige Option" erscheinen wird, angesichts irgendeiner kritischen Konstellation von dem Instrumentarium endlich auch einmal Gebrauch zu machen, mit dessen Anwendungs­möglichkeiten sie in ihren Köpfen jahrein, jahraus gespielt haben? 

Ob sie uns wohl wirklich "konsultieren" werden, um zu erfahren, ob es uns auch recht ist, bevor sie die Hölle loslassen?

Machen wir uns nichts vor:

"Kein nuklearer Staat teilt die Entscheidung über den Einsatz einer Waffe, die über die eigene Existenz entscheidet, mit irgendeinem anderen Staat, schon gar nicht mit einem nicht­nuklearen. Konsultationen sind Märchen für die nichtnuklearen Kinder."93 [Egon Bahr]

So ist es.

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