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4. Trampelpfade aus der Gefahr 

 

«Politik, die sich einem angeblich autonomen technischen Prozeß anvertraut und nur nachträglich seine positiven Folgen konstatieren, seine negativen beklagen kann, wird vollauf damit beschäftigt sein, Flickschusterei zu treiben an einem Schuh, den sie selber weder entworfen noch zerrissen hat. Sie wird hinter Entwicklungen herkeuchen, die sie nie einholt. Es ist ein Politikum ersten Ranges, daß heute viele erkennen: Wir sind an einem Punkt angekommen, wo die Politik der Technik Vorgaben machen muß.» 

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Die glatten und breiten Straßen in die Zukunft, die in Herman Kahns(1) <Gute Jahre vor uns> führen, gibt es offenkundig nicht. Daß wir dies im Laufe der siebziger Jahre erkannt haben, hat viele entmutigt, andere aber auch angespornt, nach Pfaden in die Zukunft zu fahnden, nach Trampelpfaden, beschwerlich, steinig, oft durch dorniges Gestrüpp. 

Vielleicht tun wir gut daran, nicht gleich nach der Planierraupe zu rufen, sondern uns für besonders dichtes Gebüsch mit Messer und Rebschere zu wappnen. Wenn einmal einige hundert Menschen denselben Trampelpfad vorangestapft sind, wird er wegsamer, bequemer, und wenn sie berichten können, daß man sich da nicht verirrt, läßt sich später über einen — bescheidenen — Ausbau reden.

Politisch heißt dies: Wir müssen durch kleine Schritte in der richtigen Richtung Fakten schaffen und gleichzeitig Bewußtseinswandel vorantreiben, um dann mit Hilfe des veränderten Bewußtseins den nächsten kleinen Schritt tun zu können.

Hier soll nicht allen heute denkbaren Pfaden nachgegangen werden; was hier interessiert, ist nicht ihre Zahl, nicht ihre Länge, sondern ihre Richtung. Dafür einige Beispiele:

 

   Selektives Wachstum   

Zum Jahresende 1980 fanden sich auf dem Trampelpfad eines selektiven Wachstums Wanderer ein, die man dort bisher nicht vermuten durfte. Im Wirtschafts­teil einer der bedeutenderen Zeitungen unserer Republik, die traditionellem Machen besonders zugetan scheint, war unter der Überschrift <Wirtschafts­wachstum — nein danke?> folgender Kommentar zu lesen:

«Endlich sind wir wieder einmal alle einer Meinung. Linke und Rechte, Ökologen und Ökonomen, Unternehmer- und Gewerkschafter haben in seltener Einmütigkeit eine fundamentale Erkenntnis zutage gefördert: Die schönen Zeiten hoher Wachstumsraten sind — zumindest fürs erste — vorbei. Den Gürtel enger schnallen, heißt die Devise, Bescheidenheit ist wieder gefragt. Die Umkehr kommt rapide. Wachstum, das war doch noch vor wenigen Jahren der scheinbar nie versiegende Quell neuen Wohlstands und das Motiv für die Unternehmer zu unternehmen und für die Arbeiter zu arbeiten.

Immer mehr, immer größer, immer schneller — technischer Fortschritt und Marktwirtschaft, eine als Team unschlagbare Kombination. Das alles soll nun auf einmal nicht mehr wahr sein ... Gegenüber den Vorteilen der wirtschaftlichen Expansion finden offenbar ihre Risiken immer mehr Beachtung ... Dies hat dazu geführt, daß sich niemand mehr so recht damit zufriedengeben will, daß irgend etwas wächst, sondern daß auch danach gefragt wird, was denn da eigentlich wächst. 

Gefragt ist weniger die Quantität als vielmehr die Qualität des Wachstums. Damit soll zum Beispiel sichergestellt werden, daß energie­sparende Investitionen gefördert, energiefressender Konsum aber eingeschränkt wird, oder daß Altbauten saniert werden, eine Zersiedlung der Landschaft dagegen vermieden wird. 

So einleuchtend und begrüßenswert das neue Wachstumskonzept ist, es droht bereits wieder zum unverbindlichen Schlagwort zu werden, das es erlaubt, gleichzeitig dafür und dagegen zu sein. Qualitatives Wachstum stellt sich nämlich nicht von selbst ein, sondern fordert der Wirtschafts­politik zukunftsweisende Entscheidungen ab, in der Energiepolitik ebenso wie in der Forschungspolitik. 
Einfacher ist es sicher, Wachstum aus dem Zielkatalog der Wirtschaftspolitik zu streichen, schwierig wird es erst bei der Bestimmung, was an seine Stelle treten soll.»
2

Genauso ist es. Darum soll hier auch nicht von qualitativem, sondern von selektivem Wachstum die Rede sein, von den «zukunftsweisenden Entscheidungen», mit denen Wachstum an einer Stelle gefördert, beschleunigt, ermutigt, auf der anderen gedämpft, gebremst, entmutigt oder gar gestoppt werden soll, von Entscheidungen, bei denen politisch nicht nur «gedacht, gezählt, verwaltet», sondern gewählt, eine Wahl getroffen werden muß zwischen Alternativen.

Dabei gilt es zuerst, im Sinne von Scherhorn, unbewußte Wachstumsentscheidungen bewußtzumachen. Seit langem wird in vielen Bereichen politisch entschieden, was wachsen soll. Eine ärztliche Gebührenordnung, die technische Leistungen des Arztes, ja sogar seine Rezepte, besser honoriert als das Gespräch mit dem Patienten, hat sicherlich zur Expansion der pharmazeutischen und der medizintechnischen Industrie beigetragen — ob auch zur Volksgesundheit, mag man bezweifeln.

1) Herman Kahn, Vor uns die guten Jahre, a.a.O.         2) Uwe Vorkötter in der Stuttgarter Zeitung,  31.12.1980

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Eine Forschungspolitik, die sich zuerst fast ausschließlich, dann immer noch mit Schwerpunkt auf Nutzung der Atomenergie konzentriert hat, entscheidet natürlich nicht nur darüber, was wachsen soll, sondern indirekt auch, was nicht wachsen soll: all jene Alternativen zur Kernenergie, die erst in den letzten Jahren bis ans Tageslicht öffentlicher Diskussion durchstießen und dann übrigens auch gefördert wurden. Wer, wie dies bis in die letzten siebziger Jahre hinein bei uns geschah, die Leistungen der Verkehrspolitik in den Kilometern neuer Autobahnen mißt, entscheidet natürlich nicht nur, daß der Autoverkehr wachsen, sondern auch, daß die Bundesbahn schrumpfen soll. Wer staatliche Normen für die Wärmedämmung von Gebäuden festlegt, entscheidet, wie immer er es tut, mit darüber, ob der Energieverbrauch wachsen soll oder aber das, was diesen Energieverbrauch drosseln könnte.

Daß unsere Gesellschaft so lange braucht, um bewußte Wachstumsentscheidungen zu treffen, hat mit einer — ziemlich unglücklichen — Diskussion in der Sozialdemokratie zu tun. Just in dem Moment, in dem es möglich und nötig gewesen wäre, über Selektion von Wachstum zu sprechen, begann Mitte der siebziger Jahre in und mit der großen linken Volkspartei, durch den <Orientierungsrahmen 1985>3 angeregt, ein Streit über Investitionslenkung, also über die — sicher auch wichtige — Frage, mit welchen Instrumenten Investitionen zu lenken seien. Da aber nicht gesagt wurde, welche Investitionen aus welchen Gründen nach welchen Kriterien und zu welchem Zweck wohin gelenkt werden sollten, hatte die Gegenseite leichtes Spiel: Hier seien wieder einmal sozialistische Theoretiker am Werk, die nichts von den wirklichen Sorgen der Bürger wüßten und überdies die Wirtschaft ruinieren wollten.

Die niederländischen Sozialdemokraten waren da erfolgreicher. Ihr erklärtes Ziel war selektives Wachstum, politische Entscheidungen über das, was wachsen und was nicht wachsen soll. Und als Instrument dafür kam die Lenkung von Investitionen ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, daß es bereits eine große Zahl von Instrumenten gab, die es nur zu nutzen galt.

3)  Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975-85, Beschluß des Mannheimer SPD-Parteitags 1975, vor allem Ziffer 2.6

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Wenn die Lenkung von Investitionen einen Sinn haben soll, dann den, Wachstum zu selektieren. Nirgendwo — davon soll noch die Rede sein — werden Investitionen von solch gigantischem Ausmaß so eindeutig politisch gelenkt wie in der Energiepolitik, und zwar durchweg mit längst vorhandenen Instrumenten (Genehmigungen, Verbote, Steuern, Gebühren, Forschungsetat, etc.). Wer hier, wo er nicht nur lenken kann, sondern muß, wo wirklich durch Steuerung von Konsum und Investitionen über unsere Zukunft entschieden wird, gar nicht merkt, welche Instrumente er in der Hand hat, wer statt dessen eher zu technokratischer Fortschreibung neigt, wird wenig Glück haben, wenn er neue Instrumente der Investitionslenkung sucht oder empfiehlt. Wenn im letzten Jahrzehnt bewußte Selektion von Wachstum nur in bescheidenen Ansätzen stattgefunden hat (etwa Bauverbot für Ölkraftwerke 1974), dann nicht, weil die Instrumente fehlten, sondern weil die Politiker entweder nicht wußten, was sie wollten, oder sich nicht durchzusetzen getrauten, was sie wußten.

Selektion von Wachstum bedarf keiner neuen Eingriffe einer staatlichen Bürokratie in die Investitionsentscheidungen des Unternehmers. Sie bedarf neuer Rahmenbedingungen für diese Investitionsentscheidungen. Wenn die Verkehrspolitik des Bundes den Akzent verlagert vom Straßenbau zur Modernisierung der Bundesbahn und zum öffentlichen Personennahverkehr, so sind das neue Ausgangsdaten, die Tausende von Investitionsentscheidungen bei Großkonzernen und kleinen Zulieferern direkt oder indirekt bestimmen. Wenn der US-Kongreß 1977 Richtwerte für den — zu senkenden — Benzinverbrauch von Autos bis 1985 festlegte, dann mußte die mächtige Automobilindustrie in den Vereinigten Staaten anders investieren, als sie dies vorgesehen hatte. Wenn eine Landesregierung in der Bundesrepublik sich für den Bau von Kohlekraftwerken und gegen den Bau neuer Kernkraftwerke entscheidet, so trifft dies ein Investitionsvolumen von vielen Milliarden Mark.

Es genügt, in einigen Schlüsselbereichen klare Entscheidungen zu treffen, die rasch ausstrahlen. Solche Bereiche sind: Energie, Rohstoffnutzung, Verpackung, Umweltschutz, Verkehr, Stadtplanung, Landwirtschaft, Gesundheit. Dabei kann Politik durchaus an den Punkt kommen, wo über neue Instrumente gesprochen werden muß, aber auch dann werden es keine Instrumente sein können, die Investitionsentscheidungen in die Hand der Bürokratie legen.

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Wer entscheiden will — oder muß —, was wachsen soll, braucht dazu:

1. Kriterien,
2. einen Mehrheitskonsens über diese Kriterien,
3. Instrumente, mit denen sich die Kriterien umsetzen lassen,
4. Macht, die Instrumente einzusetzen,
5. Konfliktbereitschaft, diese Macht anzuwenden.

Es läge nahe, an dieser Stelle auf die Bemühungen der letzten Jahre einzugehen, unter dem Stichwort «Lebensqualität» Kriterien und Indikatoren für Wachstumsentscheidungen zu sichten und zu ordnen. Vor allem wäre auf die zusammenfassende Aufarbeitung des Themas hinzuweisen, die ein Forscherteam unter Leitung von Wolf gang Zapf geleistet hat.4 Da der Autor hier auf frühere Arbeiten verweisen kann,5 erscheint es ratsamer, an Hand eines besonders eindrucksvollen und überragend wichtigen Beispiels deutlich zu machen, was an Kriterien, Instrumenten, Konsensbildung, Macht und Konfliktbereitschaft nötig ist, um über Inhalt, Richtung und Ziel von Wachstum zu entscheiden.

 

 

Schlüsselentscheidung: Energie

 

Zukünfte öffnen

Bis zur Zäsur in der ersten Hälfte der siebziger Jahre war die Energiediskussion Sache ganz weniger, genauer: der Experten in den Ölkonzernen, den Energie­versorgungsunternehmen, den Wirtschaftsministerien des Bundes und der Länder, des einen oder anderen wissenschaftlichen Instituts.

4)  Wolfgang Zapf (Hg.), Lebensbedingung in der Bundesrepublik, Sozialpolitische Entscheidungs- und Indikatorensysteme (SPES), Mannheim/Frankfurt 1977
5)  Siehe vor allem Erhard Eppler, Maßstäbe für eine humane Gesellschaft: Lebensstandard und Lebensqualität, Stuttgart 1974

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Heute steht die Energiepolitik mitten in der politischen Diskussion, ja sie hat in dieser Diskussion eine Schlüsselrolle. Nicht nur Parteitage und Gewerkschafts­kongresse ringen um die richtige Energiepolitik; in den Familien, in den Betrieben, den Schulen wird darüber heiß und ausdauernd gestritten.

Es ist weder Zufall noch eine Marotte von Intellektuellen mit ökologisch verengtem Blickfeld, was die Energiepolitik ins Zentrum politischen Streitens gerückt hat. In die Energiepolitik münden fast alle Fragen ein, die uns heute umtreiben:

 

Amory B. Lovins ist zu der Ansicht gelangt, «daß in dieser Zeit des Wandels Energie — das beherrschende, symbolische und strategische Zentrum unserer Lebensweise — vielleicht das alles integrierende Prinzip für die Veränderungen der Politik und der Einsichten sein könnte, auf die wir uns langsam zubewegen. Wenn wir die richtige Energiepolitik finden, werden viele andere politische Aufgaben sich sozusagen von selbst lösen.»6

Das ist ein großes Wort. Wenn auch nur einiges dafür spricht, daß Lovins recht hat, tun wir gut daran, uns um die richtige Energiepolitik zu streiten. Dann hat die Energiediskussion nicht nur Signalcharakter, dann werden in der Energiediskussion die Weichen für die Zukunft gestellt.

Wir haben gesehen, wie alle Energieprognosen, die einfach fortschreiben wollten, von der Wirklichkeit Lügen gestraft wurden, aber auch, zu welch unsinnigem Aufwand an Kapital der Versuch hätte führen müssen, den technokratisch errechneten Energiebedarf der Zukunft durch Großtechnologie zu decken. Beides gilt übrigens nicht nur für die Bundesrepublik, sondern weltweit.

6)  Amory B. Lovins, Sanfte Energie, Reinbek 1978, S. 33

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Alvin Weinberg, der noch mit einer Zunahme des weltweiten Energieverbrauchs um das Zwanzigfache rechnet, verlangt zur Deckung dieses Bedarfs schließlich 30.000 Schnelle Brüter von je 5000 Megawatt, und auch die könnten nur helfen, wenn sie alle voll ausgelastet wären (8760 Stunden im Jahr) und jedes Jahr 1000 solcher Brutreaktoren in Dienst gestellt und ebenso viele wieder abgewrackt würden.7) Inzwischen haben sich alle diese Träume in Luft aufgelöst, und die Energiefachleute der Harvard Business School, in der Wolle gefärbte Ökonomen, kommen zu dem ernüchternden Schluß:

«Schon lange vor Three Mile Island hatte das Entsorgungsproblem die Verlängerung des Moratoriums für Kraftwerksaufträge bis in die Mitte oder gar bis zum Ende der achtziger Jahre sehr wahrscheinlich werden lassen. Harrisburg, der verfahrensrechtliche Kollaps, der dem Unfall folgte, und die wachsenden Finanzsorgen der Stromversorgungs­unternehmen haben gemeinsam dazu beigetragen, daß die Wahrscheinlichkeit praktisch zur Gewißheit geworden ist.
In den Vereinigten Staaten besteht schlicht und einfach keine vernünftige Aussicht mehr, daß die Kernkraft vor Ablauf des 20. Jahrhunderts noch <einen umfangreichen Beitrag> leisten könnte. Die Kernkraft bietet keine kurzfristige Lösung für das Problem der wachsenden amerikanischen Abhängigkeit von importiertem Öl.»
8

Das faktische Moratorium für den Neubau von Atomkraftwerken, das J. C. Bupp für die USA seit Mitte der siebziger Jahre konstatiert,9 gibt es längst auch in der Bundesrepublik, und die Atomprogramme der Regierung werden entweder immer bescheidener oder immer unrealistischer. Aber eine Energiewende hat in den Köpfen der Regierung noch nicht stattgefunden. Und das hat gute Gründe. Hinter der Energiediskussion verbirgt sich die Frage, wie wir uns zum wirtschaftlichen Wachstum verhalten: nicht, ob wir Wachstum wollen oder nicht, sondern, ob Wachstum, gleich welches, unser politisches Ziel sein kann.

7)  Zitiert nach Wege aus der Wohlstandsfalle. Der NAWU-Report (hg. v. Binswanger, Geissberger, Ginsburg), Frankfurt 1978, S.48f 
8)  Energie-Report, der Harvard Business School, hg. von R. Stobaugh und D. Yergin, München 1980, S. 190
9)  ebenda, S. 73

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Eine Energiepolitik, die einen stetig wachsenden Energiebedarf durch kapitalintensive großtechnische Anlagen decken will, schafft maximales Wachstum. Riesige Investitionen in neue Kraftwerke bedeuten Wachstum; mehr Energieverbrauch bedeutet Wachstum; Investitionen in der Wirtschaft, die Arbeitskraft durch Kapital und Energie ersetzen, bedeuten Wachstum; die Ausgaben für Transport, Sicherung, Umweltschutz, die dazu nötig werden, bedeuten Wachstum. Nur: Ob wir deshalb dann besser leben, ob unsere Lebensqualität dadurch besser wird, darüber streiten wir. Denn dies alles bedeutet auch Landschaftsverbrauch, Bindung von Kapital, Veränderung der Arbeitswelt, mehr Kontrolle, mehr Abhängigkeit.

Sicher, auch eine alternative Energiepolitik schlägt sich in Wachstumsraten nieder: Wärmedämmung, Sonnenkollektoren, energiesparende Automotoren, das alles wird in der Statistik zu Wachstum. Nur: Wachstum ist hier nicht das Ziel, sondern die Folge einer energiepolitischen Entscheidung. Ziel ist, mit möglichst wenig Energieeinsatz das zu bekommen, was wir brauchen: warme Stuben, Wasser zum Duschen, Strom für den Kühlschrank.

In der Energiediskussion geht es darum, ob Wachstum des Bruttosozialprodukts unser Ziel ist, wobei wir nachträglich feststellen, was an besserer oder schlechterer Lebensqualität dabei abfällt, oder ob eine gute, eine bessere Lebensqualität unser Ziel ist und wir nachträglich feststellen, was dabei in der Statistik an Wachstumsraten anfällt. Kurz: Es geht um globales oder selektives Wachstum.

Wie unsere Gesellschaft aussieht, wenn unsere Kinder so alt sind wie wir jetzt, wird nicht zuletzt in der Energiepolitik entschieden. Und wir sollten unseren Kindern möglichst wenig Hypotheken und möglichst viel eigenen Entscheidungsspielraum hinterlassen.

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So wird die Energiediskussion ein Signal für den Aufstand gegen die vorprogrammierte Zukunft. Gibt es nur die eine Zukunft, also keine Alternative zu der Zukunft, die große» Konzerne zusammen mit eingespielten Bürokratien für uns vorbereitet haben? Oder setzt sich die Einsicht durch, daß es die Zukunft nicht gibt, die sich zwangsläufig aus irgendwelchen «Entwicklungen» ergibt?

Theodor Leuenberger sagte 1979 auf der ökumenischen Konferenz in Boston: Jede Zukunft hat immer auch eine Gegenzukunft in sich ... Von Zukunft müssen vor allem Wissenschaftler immer im Plural sprechen.»

Dies gilt, wie mir scheint, noch mehr vom Politiker. Vor ihm liegen verschiedene Möglichkeiten von Zukunft, verschiedene Zukünfte, auf die er zugehen oder die er vermeiden will. Auch wenn er keine der Zukünfte herbeizwingen kann, so ist glaubwürdige und nachvollziehbare Politik immer auch die bewußte Entscheidung zwischen Zukünften.

Um eben diese Öffnung alternativer Zukünfte geht es, wo von selektivem Wachstum, von alternativer Energiepolitik die Rede ist. Diese Öffnung ist deshalb so mühsam, weil sie Umdenken voraussetzt und mächtige Interessen herausfordert. Wer das Bestehende, die herkömmlichen Trends fortschreiben will, steht bislang noch nicht unter Beweiszwang. Es hat ja bisher funktioniert, warum sollte es künftig nicht funktionieren? Ob es in zwanzig oder dreißig Jahren noch funktioniert, bewegt nur wenige. Unter Beweiszwang stehen alle, die eine Alternative für möglich, für richtig, für notwendig, für lebenswichtig halten. Sie haben es schwerer als die Vertreter des Bestehenden, denen auch hier die einfachen, die unmittelbar einleuchtenden, die allzu simplen Argumente zur Hand sind.

Wenn das Öl knapp und teuer werde, dann brauchten wir eben die Kernenergie; wenn bisher mehr Wohlstand mehr Energieverbrauch bedeutet hatte, warum sollte es künftig anders sein? Steinzeit — nein danke!

 

Kriterien

Wer Alternativen anbieten will, muß sehr präzise sein, er muß zeigen, was theoretisch möglich und was praktisch durchsetzbar ist. Er muß technische Alternativen anbieten und beweisen, daß sie politisch «machbar» sind, mindestens so leicht und so schwer wie das, was bisher gewollt wird.

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Deshalb ist die Feststellung der Enquete-Kommission so wichtig, jeder der vier «Energiepfade» sei in sich schlüssig, aber keiner von allen habe «einen Wirklichkeitsbezug losgelöst von den Handlungsmaßnahmen».10) Das heißt: Was Wirklichkeit wird, hängt nicht zuletzt von unseren Entscheidungen ab. Was die Anerkennung dieser vier Energie-Zukünfte — bei Pfad 3 wird vom Jahr 2000 an keine Kernenergie mehr genutzt, bei Pfad 4 von 1980 an — bedeutet, kann ermessen, wer auf ein sehr moderates Energieszenario n, das sich irgendwo zwischen Pfad 2 und Pfad 3 bewegte, noch 1979 von «Experten» nur zu hören bekam, dies sei völlig unrealistisch.

Wichtig für jede Politik selektiven Wachstums ist, daß die Kommission bei Kriterien ansetzt. Man kann dem Kriterienkatalog, den sie ihren Einschätzungen zugrunde legte, an manchen sehr vagen Formulierungen den Kompromißcharakter ansehen; entscheidend ist, daß sich hier eine Kommission von Abgeordneten und berufenen Sachverständigen über Kriterien dafür geeinigt hat, was im Bereich Energie mit Priorität wachsen soll. Hatten Technokraten in den sechziger Jahren mehr oder minder ausschließlich wirtschaftliche Maßstäbe angewandt, so nennt die Kommission vier Hauptkriterien, die sie dann untergliedert:

1. Wirtschaftlichkeit
2. Internationale Verträglichkeit
3. Umweltverträglichkeit
4. Sozialverträglichkeit
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Schon zum Kriterium «Wirtschaftlichkeit» gehört eine Festlegung, die noch vor wenigen Jahren nicht denkbar gewesen wäre: «Energiesysteme sollen Energiedienstleistungen für den Verbraucher an jedem Ort und zu jeder Zeit zuverlässig und ausreichend zu wirtschaftlich günstigen Bedingungen bereitstellen.»13

10)  Bericht der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergiepolitik, Bundestagsdrucksache 8/4341, S. 24  
11)  Erhard Eppler, Ein Alternativszenario zur Energiepolitik, vorgelegt am 30.5.1979     12)  Bundestagsdrucksache 8/4341, S.12    13) ebenda, S.13

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Der Akzent liegt auf Energiedienstleistungen. Es waren zuerst Hartmut Bossel und seine Freunde, die darauf bestanden, daß es für die Menschen nicht darauf ankomme, wieviel Energie man einsetzen müsse, um eine Stube warm zu bekommen. Wenn bei einem gut isolierten Haus nur die Hälfte der Energie nötig sei für die Dienstleistung der warmen Stube, dann sei dies den Bürgern, die ihr Öl oder ihren Strom zu bezahlen hätten, lieber.

Indem die Kommission nicht vom Bedarf an Energie, sondern an Energiedienstleistung ausgeht, entgeht sie von vornherein den Zwängen, in die Energie­politik sich bisher verstrickt hätte. Auch in der zweiten Rubrik, «Internationale Verträglichkeit», erscheinen beachtliche Überlegungen: Energie­systeme sollen «keine waffentechnischen oder andere Entwicklungen unterstützen bzw. verbreiten, welche die Wahrscheinlichkeit des Austrags von Konflikten durch Kriege erhöhen könnten, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht durch eine Erhöhung ihrer Verletzlichkeit gegenüber Kriegs­handlungen gefährden».14)

Auf die erhöhte Verletzlichkeit durch Atomkraftwerke im Kriegsfall hatte C. F. v. Weizsäcker mehrfach hingewiesen. Unter «Umweltverträglichkeit» finden sich folgende Anforderungen an ein Energiesystem: Es soll

Es tut diesen Kriterien keinen Abbruch, daß offenbar verschiedene Mitglieder der Kommission verschiedene Gefahren im Vordergrund sehen.

14)  ebenda, S.13    15)  ebenda, S.13

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Am meisten überrascht — und dies ist offenkundig ein Verdienst des Vorsitzenden —, wie Energiesysteme auf ihre Sozialverträglichkeit abgeklopft werden. Sie sollen 

Mit diesen Forderungen ist stillschweigend ein Dogma beerdigt worden, das bis in die frühen siebziger Jahre unumschränkt gegolten hatte: daß technische Systeme und technische Erfindungen politisch wertneutral seien. Hatte noch die Anti-Atomtod-Bewegung der späten fünfziger Jahre fröhlich erklärt, Atome für den Krieg seien böse, solche für Frieden dagegen gut, so wird jetzt anerkannt, daß großtechnische Energiesysteme, vor allem nukleare, etwas mit «Freiräumen für persönliche Entscheidungen» zu tun haben könnten, ja sogar mit den «verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten».

Technische Systeme, das ist nun — mögen Robert Jungks17 Visionen vom Atomstaat sich realisieren oder nicht — zu Protokoll genommen, sind keineswegs wertneutral, sie haben in sich Tendenzen, die zu mehr oder weniger Entscheidungsfreiheit führen, die Realisierung von Grundrechten fördern oder hemmen können.

16)  ebenda, S. 13      17)  Robert Jungk, Der Atomstaat, München 1977

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Auf Grund ihrer Kriterien drängen sich der Kommission Konsequenzen auf, vor allem eine: 

«... daß eine für eine breite Mehrheit wünschenswerte oder akzeptable Energiezukunft nur bei erheblichen Energieeinsparungen möglich ist. Die zahlreichen Diskussionen über die Möglichkeiten zur rationellen Energienutzung haben gezeigt, daß aus technischer Sicht ein weit größeres Einsparpotential vorhanden ist, als noch vor einiger Zeit angenommen wurde.»18

Es hat sich inzwischen durchgesetzt, was noch Mitte der siebziger Jahre als ökologischer Spleen abgetan wurde: daß Energiesparen mittelfristig die ergiebigste Energiequelle ist.

 

   Instrumente, Macht, Konfliktbereitschaft  

 

Wie die Kommission Kriterien festlegt und Konsequenzen zieht für das, was prioritär wachsen soll, damit der Energieverbrauch möglichst wenig wächst, so nennt sie auch Instrumente. Sie schlägt unter anderem zweiundsechzig Maßnahmen zur Einsparung von Energie vor.

Da sind Maßnahmen, die Änderungen bei Gesetzen, Verordnungen oder in der Verwaltungspraxis verlangen:

 

Vermissen wird man die Forderung nach neuen Normen für den Höchstverbrauch bei Elektrogeräten. Offenbar fand sich dafür in der Kommission keine Mehrheit.

18)  Bundestagsdrucksache 8/4341, S. 107

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Ein zweites Bündel von Maßnahmen sieht finanzielle Belastungen und Entlastungen vor, zum Beispiel:

Nicht durchringen konnte sich die Kommission zu so einfachen und wirksamen Schritten wie einer Sondersteuer für besonders energiefressende Fahrzeuge, verständlicherweise auch nicht zu der im NAWU-Report20) geforderten allgemeinen Energiesteuer.

Wenn zu einer Politik selektiven Wachstums Kriterien, Instrumente, Konsensbildung, Macht und Konfliktbereitschaft gehören, so ergibt sich von selbst die Frage, warum in der Regierungserklärung vom 24.11.1980 — obwohl inzwischen eine klare Mehrheit der Bevölkerung Energiesparen für unerläßlich hält — von dem wohldurchdachten Katalog der Kommission so gut wie nichts aufgenommen wurde, und das wenige, wie bei der Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer, mit der entschuldigenden Erläuterung, man glaube selbst nicht daran.

Die Macht einer Bundesregierung, Gesetze oder auch Verordnungen zur Energieersparnis durchzusetzen, ist in der Tat dadurch beschränkt, daß bei den meisten der zweiundsechzig Maßnahmen der Bundesrat zustimmen müßte. Aber eben hier beginnt die politische Aufgabe: Wenn es für die Kriterien einer Energiepolitik, wenn es für die Aufgabe der Energieersparnis einen breiten Konsens gibt, was hindert die Bundesregierung daran, diesen Konsens auch gegenüber Bundesländern zu nutzen? Auch Länderregierungen handeln nicht gerne und nicht lange gegen den Mehrheitswillen in ihrem Lande.

19)  Dazu, auch über die verbrauchssteigernde Wirkung des Grundpreises, hat Klaus Meyer-Abich interessante Berechnungen vorgelegt: Klaus Meyer-Abich, Energieeinsparung als neue Energiequelle, München 1979, S. 79ff      20) Wege aus der Wohlstandsfalle, a.a.O., S.198

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Macht läßt sich nur erproben und ausspielen, wenn sie mit der Bereitschaft zum Konflikt verbunden ist. Wer Energieeinsparung selbst nur halbherzig betreibt — in der Regierungserklärung ist davon weit knapper die Rede als von Kernenergie —, wird sich nicht in Konflikte stürzen mit mächtigen Interessen­verbänden und großen Teilen der Opposition, auch dann nicht, wenn er die Mehrheit der Bürger hinter sich weiß oder doch mit einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit für sich gewinnen könnte.

Für eine Politik der Selektion von Wachstum fehlt es meist nicht an den Instrumenten, oft auch nicht mehr an konsensfähigen Kriterien, häufiger schon an der Macht, in den meisten Fällen allerdings schlicht an der Bereitschaft, sich gegen mächtige Widerstände im Konflikt durchzusetzen. Dies läßt sich an der Energiepolitik am leichtesten zeigen, aber es gilt auch für andere Bereiche, wie zum Beispiel Verkehrspolitik, Gesundheitspolitik und Agrarpolitik.

 

  Konsum oder Askese?   

 

An der Energiepolitik läßt sich auch zeigen, daß die Alternative «Konsum oder Konsumverzicht», «Bequemlichkeit oder Askese» nicht zwingend ist.

Natürlich kann man sich auch eine Welt ohne Auto, ohne Waschmaschine, ohne Kühltruhe vorstellen. Man kann sich vorstellen, daß im Winter eben nur ein Raum geheizt wird, wie früher auch, daß wir weniger duschen und baden, wie früher auch. Aber all dies kann kein politisches Ziel sein.

Es kann sehr wohl sein, daß jemand lieber mit dem Fahrrad als mit dem Auto zur Arbeit fährt, weil er Bewegung und frische Luft der Bequemlichkeit vorzieht. Aber auch er wird ganz froh sein, wenn er für alle Fälle, bei Wolkenbruch oder Schneesturm, einen Wagen in der Garage hat. Natürlich gibt es Leute, die in einem Zimmer mit 18 Grad besser arbeiten können als in einem mit 21 Grad. Aber es gibt eben auch Menschen, die sich erst bei 21 Grad wohl fühlen. Und es wäre sinnlos und unmenschlich, von ihnen zu verlangen, sie sollten gefälligst ein wenig frieren.

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Nein, die politische Alternative zur Energieverschwendung ist nicht Askese, sondern bessere Nutzung von Energie. In der Zeit, als wir den Ölländern ihren kostbaren Rohstoff für praktisch nichts abnehmen konnten, als der Liter Heizöl zehn Pfennig kostete, haben wir uns daran gewöhnt, mit Energie umzugehen, als sei sie nichts wert. Jetzt müssen wir lernen, aus den Energiequellen mehr herauszuholen, mit weniger Energie mehr Energiedienstleistungen zu erbringen. Wir sind energiesüchtig geworden. Und jetzt sollten wir nicht von einer harmloseren auf eine härtere Droge umsteigen, sondern von der Droge wegkommen. Dies ist der Sinn alternativer Energiepolitik. Daß sie möglich ist, wissen wir längst. In welchem Umfang, darauf haben uns am eindringlichsten Florentin Krause, Hartmut Bossel und Karl-Friedrich Müller-Reißmann aufmerksam gemacht.21)

Diese Energieforscher gehen gerade nicht davon aus, daß wir uns demnächst drastisch einschränken müssen. Sie nehmen an, daß wir künftig pro Person mehr Wohnraum haben werden als heute, mehr Autos als heute, daß wir mehr Warmwasser verbrauchen, daß mehr Fernseher in unseren Stuben stehen als heute. Sie übernehmen insofern einfach die Prognosen, die mit einem Wachsen der Ansprüche rechnen. Daran mag es viele berechtigte Zweifel geben, denn auch Ansprüche haben ihre Grenzen. Und trotzdem kommen sie zu Ergebnissen, die uns alle überraschen. 

Die drei Autoren halten folgende Einsparungen für langfristig möglich:

21) Florentin Krause, Hartmut Bossel, Karl-Friedrich Müller-Reißmann, Energiewende, Frankfurt 1980     22) ebenda, S.33f

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Und dies alles, obwohl außer mit Energie an nichts gespart wird:

«Pro Kopf wird unter den Szenarioannahmen im Jahr 2030 1,7mal soviel Wohnraum bewohnt wie 1973, 1,5mal soviel Auto gefahren, 4mal soviel geflogen, l,8mal soviel geduscht und gebadet, und jeder Haushalt hat so gut wie jedes elektrische Gerät in Benutzung. Die Industrieproduktion pro Kopf ist ihrem Wert nach 2,3mal so groß wie 1973, das Bruttosozialprodukt sogar 3,2mal so hoch ...»

Wie gesagt, man kann darüber streiten, ob dies alles nötig ist und ob es wirklich so kommen wird. Aber sogar unter der Prämisse wachsenden Komforts kämen wir nach dieser Untersuchung zu einem Energieverbrauch, der in zehn Jahren etwa so groß wäre wie heute, in zwanzig Jahren um ein Fünftel und in fünfzig Jahren sogar um die Hälfte niedriger wäre als heute. Die Kurve des Energieverbrauchs, so sagt die Untersuchung, wird sich, wenn wir es nur wollen, nicht nur abflachen, sie wird sich noch in diesem Jahrhundert nach unten neigen.

Dabei erwarten diese Energieforscher keine Wunder, sie rechnen nur damit, daß zum Beispiel unsere Neubauten mit besserer Wärmedämmung ausgerüstet werden, daß Wärmedämmung für den Hausbesitzer und dann auch für den Mieter bei steigenden Olpreisen immer rentabler wird, daß im Lauf der Jahre auch Altbauten besser isoliert werden, daß Autokäufer, wenn sie ohnehin ihr altes Auto abstoßen, lieber energiesparende Autos kaufen, wenn sie erschwinglich auf dem Markt sind, daß elektrische Haushaltsgeräte nach etwa zehn Jahren durch stromsparende Geräte ersetzt werden können, daß Sonnenkollektoren häufiger für Warmwasserbereitung und Heizung verwandt werden.

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   Alternative Energiepolitik  

 

Der Streit über die einzelnen Zahlen ist müßig und letztlich belanglos. Worauf es ankommt, ist die zentrale These für eine alternative Energiepolitik auf kurze und mittlere Sicht: Es ist vernünftiger, die Nachfrage nach Energie zu drosseln, als das Angebot zu erhöhen. Vor allem: Es ist einfacher, billiger, ungefährlicher, umweltschonender, leichter und rascher durchsetzbar, Öl und andere Energien durch bessere Nutzung einzusparen, als Öl durch Atomstrom zu ersetzen. Oder umgekehrt: Die Substitution von Öl durch Atomstrom ist schwieriger, teurer, gefährlicher, langwieriger und schwerer durchsetzbar als die Einsparung von Öl und anderer Energie durch bessere Energienutzung.

Der Anteil des Öls an der Stromerzeugung liegt etwa bei sieben Prozent, sinkt weiter, kann aber nur dann verringert werden, wenn weniger schweres Heizöl in Raffinerien anfällt, denn irgendwo muß dieses schwere Heizöl verbraucht werden.

Da unsere Stromversorgung überwiegend auf heimischer Braun- und Steinkohle beruht, ist sie der unabhängigste Teil unserer Energieversorgung und kann es auch bleiben. Wenn der Ölhahn einmal wirklich abgedreht würde, bekämen dies zuerst die Autofahrer zu spüren; dann blieben im Winter manche Zimmer kalt, aber die Lichter gingen nicht aus.

Die schwierigste Aufgabe unserer Energieversorgung ist nicht die Stromversorgung, sondern die Bereitstellung billiger Wärme und preiswerter Treibstoffe. Elektrischer Strom ist zur Heizung nur bei gewaltigen Umwandlungsverlusten einsetzbar und daher auch zu teuer. Ein Kernkraftwerk, das 1985 in Betrieb geht, kostet nach Berechnungen der Elektrizitätswirtschaft pro erzeugtes Kilowatt etwa 3000 DM, also gut dreimal soviel wie 1975. Auch Atomstrom wird also rasch teurer. Der Streit darüber, ob Atomstrom wirklich so billig sei, wie behauptet wird, dürfte noch lange weiterschwelen. 

J. C. Bupp von der Harvard Business School, der sich redlich Mühe gab, durch den Dschungel von Argumenten und Gegenargumenten Schneisen zu schlagen, kommt zu demselben resignierenden Schluß wie eine eigens dazu eingesetzte Kommission im Staate Wisconsin, die schließlich eingestand, daß «wir in unseren Un-

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terlagen nunmehr ein breites Meinungsspektrum bezüglich der relativen Wirtschaftlichkeit der Elektrizitätserzeugung auf Kernkraft- oder Kohlebasis beisammen haben. Die Meinungen reichen von derjenigen, daß die Kernkraft sehr viel kostengünstiger sei als die Kohleverbrennung, auf der einen bis zu derjenigen, Kohle sei billiger als Kernkraft, auf der anderen Seite und schließt auch die Ansicht mit ein, daß es unmöglich sei, hierüber etwas Genaues zu sagen.» C&o^L [

Bupp zitiert das Ergebnis einer ähnlichen Kommission im Staate New York:

«Ein zuverlässiger Rückschluß, wie sich die Gesamtkosten der Stromerzeugung auf nuklearer und fossiler Brennstoffbasis unterm Strich zueinander verhalten, läßt sich aus unseren Unterlagen nicht ableiten.»23

Nun mag man einwenden, Kohle sei in den USA billiger als in Deutschland. Aber was bedeutet es für den Preis des Atom-Stroms, wenn unsere Kernkraftwerke im Schnitt nur die Hälfte der Zeit laufen? Daß hier jeder mit den Prämissen arbeitet, die seine These stützen, dürfte bei uns nicht anders sein als in den USA. Bupp: «Daraus folgt, daß wir uns in der Frage der Wirtschaftlichkeit der Kernkraft keine baldige Lösung versprechen dürfen.»

Es ist also völlig offen, ob Atomstrom, wenn einmal alle Kosten für Entsorgung, Sicherung und den Abriß stillgelegter Reaktoren voll durchschlagen, billiger ist als Strom aus Kohle oder Erdgas. Nicht offen, sondern völlig sicher ist, daß die Einsparung von Öl billiger ist als das Ersetzen durch Atomstrom.

Eine konsequente Politik besserer Energienutzung könnte schon bis 1990, ehe auch nur ein einziges jetzt geplantes Kernkraftwerk am Netz wäre, erhebliche Mengen an Öl einsparen. Der steile Rückgang des Ölverbrauchs 1980 zeigt, um welche Mengen es dabei geht. In den zehn Jahren, die für den Bau eines Kernkraftwerks gerechnet werden müssen, haben sich für viele Hausbesitzer die Kosten besserer Wärmedämmung bei steigenden Ölpreisen längst amortisiert. Das Kapital für ihre Investitionen wird also in vergleichsweise winzigen Anteilen gebraucht und schlägt sich um ein Mehrfaches rascher um als bei einem großen Kraftwerk. Die Belastung des Kapitalmark-

23)  Energiereport, a.a.O., S.170

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tes wäre sogar dann um das Vier- bis Fünffache geringer, wenn die Aufwendungen innerhalb von dreißig Jahren dieselben wären.

Es geht also nicht darum, das ökologisch Richtige gegen das ökonomisch Nötige abzuwägen. Es geht darum, das ökologisch wie ökonomisch Vernünftige gegen partikulare Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.

Nachdem sich inzwischen herausgestellt hat, daß ohne energisches Energiesparen auch unsere Zahlungsbilanz nicht aus den roten Zahlen zu bringen ist, stehen die Chancen für das ökonomisch und ökologisch Notwendige nicht schlecht.

Manchem Leser dürfte aufgefallen sein, daß bisher die gängigsten Argumente gegen Atomkraftwerke nicht vorgetragen wurden, die Argumente ihrer Gefährlichkeit. Das hängt damit zusammen, daß ich nicht Angst, sondern Mut machen will zu einer vernünftigen Energiepolitik. Es tut uns allen nicht gut, wenn die Angst vor Atomkraftwerken ausgespielt wird gegen die Angst vor einer «Energielücke».

Die Risiken der Option Kernenergie sind zum einen die allgemeinen Risiken der Großtechnologie, zum andern die speziellen Risiken einer qualitativ neuen Technik.

Zu den Risiken der Großtechnik gehören:

Dazu kommen die Risiken einer qualitativ neuen Technologie: Atomraketen sind nicht, wie der erste Kanzler der Bundesrepublik meinte, eine Fortentwicklung der Artillerie. Und ein Atomkraftwerk ist nicht einfach eine Weiterentwicklung herkömmlicher Kraftwerke.

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Qualitativ neu ist:

  1. der Zeitraum, in dem atomare Abfälle gefährlich bleiben. Hier geht es um Zeitdimensionen, die wir eher aus der Erdgeschichte als aus der Geschichte der Völker und Staaten kennen. Es gibt niemanden, keinen Staat, auch kein anderes Rechtssubjekt, das etwa die Bewachung radioaktiven Mülls für 20.000 Jahre garantieren könnte, wenn wir ehrlich sind, nicht einmal für hundert Jahre;

  2. Ausmaß und Dauer der Vernichtungswirkungen, die bei Unfall oder Mißbrauch zu erwarten sind; sie könnten ganze Landstriche unbewohnbar machen;

  3. die extreme Giftigkeit des Plutoniums, so daß mit minimalen Mengen Millionen von Menschen ausgerottet werden können;

  4. die wachsenden Gefährdungen durch Atomkraftwerke im Krieg;

  5. die Gefahr des militärischen Mißbrauchs an einer einzigen Stelle mit der Folge einer atomaren Eskalation.

Die Gefährdungen durch die Atomtechnologie können also nicht aufgerechnet werden gegen Tote im Straßenverkehr oder bei Arbeitsunfällen. Hier geht es um eine neue Qualität. Diese Gefahren lassen sich auch nicht vergleichen mit den Anstrengungen, die eine alternative Energiepolitik von uns verlangt. Besteht auch nur ein Teil der Gefahren, die von besorgten Wissenschaftlern ausgemacht wurden, dann kommen mir die Einwände gegen konsequentes Energiesparen recht kläglich vor.

Ob es eine Energielücke geben muß, läßt sich bestreiten. Daß es eine Glaubwürdigkeitslücke in der Energiepolitik gibt, läßt sich nicht bestreiten. Sie öffnet sich zwischen dem Reden von drohenden Gefahren und dem praktischen Tun.

Dabei ist es unerheblich, ob wir die Gefahren mehr in nuklearen Unfällen und Abfällen sehen oder in Klimaveränderungen durch Kohlendioxyd. Wer wirklich befürchtet, durch zunehmende Verbrennung von Kohle, Öl und Gas könnten wir die Polkappen abschmelzen und eines Tages ganz Norddeutschland unter Wasser setzen, muß sich fragen lassen, warum wir dann in der Verkehrspolitik aufs Auto setzen und noch nicht einmal eine Geschwindigkeitsbegrenzung oder vernünftigere Stromtarife durchsetzen können, warum wir nichts tun, um die Abholzung jener tropischen Wälder zu verhindern, die das CO2 absorbieren können.

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Was wir als Gefahren der Energieverschwendung zu erkennen glauben, steht in einem grotesken Mißverhältnis zu dem, was gegen Energieverschwendung getan wird. Entweder es gibt Gefahren für unser Überleben - dann müssen die Sparmaßnahmen den Gefahren angemessen sein -, oder wir setzen beim Sparen vor allem auf den Markt und die dadurch sich ändernden Interessen des Bürgers - dann sollten wir jede Dramatisierung meiden.

 

   Arbeitsplätze  

Bleibt das Argument der Arbeitsplätze, das gegen jede selektive Wachstumspolitik vorgebracht wird. Zwei ziemlich grobschlächtige Thesen stehen sich da gegenüber. Die eine lautet: Ohne Strom stehen alle Räder still, so, als ob demnächst kein Strom mehr da wäre für unsere Fabriken. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben hohe Überkapazitäten bei der Stromerzeugung. Seit 1973 sind die Kraftwerkskapazitäten doppelt so rasch gewachsen wie der Stromverbrauch, und wenn in Nord-Rhein-Westfalen auch nur die Kohlekraftwerke gebaut werden, die längst genehmigt sind, dannhabenwirauch 1985 nochbeträchtlicheÜberkapazitä-ten, zumal die Zuwachsraten im Stromverbrauch, seit 1973 mehr als halbiert, tendenziell weiter abnehmen.

Das Gegenargument lautet: Durch mehr Energie, vor allem durch mehr Strom, würden Arbeitsplätze nicht geschaffen, sondern wegrationalisiert, Arbeiter würden durch Automaten oder Roboter ersetzt. Auch dieses Argument sticht wenig, zumal Mikroprozessoren sehr wenig Strom brauchen. Die Rationalisierung schreitet fort, mit oder ohne Atomstrom.

Eines allerdings läßt sich kaum bestreiten: Eine Energiepolitik, die langfristig prognostizierte Zuwachsraten des Energieverbrauchs durch großtechnische Anlagen, vor allem Kernkraftwerke, zu decken versucht, ist äußerst kapitalintensiv. Eine Energiepolitik, die kurz- und mittelfristig den Akzent auf Energieeinsparung, langfristig auf dezentrale, erneuerbare Energiequellen legt, ist wesentlich arbeitsintensiver.

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Nach einer Untersuchung von Eric Hirst und Bruce Hannon aus dem August 1979 dürfte das vom Kongreß 1977 beschlossene Energiesparprogramm bis zum Jahr 2000 etwa 600.000 Arbeitsplätze vernichten und etwas über eine Million neue schaffen, so daß ein Nettogewinn von etwa 425.000 Arbeitsplätzen übrig bliebe. Dieses Ergebnis entspricht dem, was Karl Feldengut, der beim DGB-Bundesvorstand als Referatsleiter tätig ist, in den WSI-Mitteilungen vom Juli 1979 festgestellt hat, daß nämlich in der Bundesrepublik der Umweltschutz jährlich höchstens 70.000 bis 80.000 Arbeitsplätze - und zwar durch Investitions­verzögerungen - vernichte, aber mehr als 200.000 jährlich neu schaffe.

Eine Politik, die auf schonenden Umgang mit Ressourcen und Natur hin angelegt ist, schafft per saldo Arbeitsplätze, und zwar überwiegend in mittleren und kleinen Betrieben der Industrie und des Handwerks. Dafür sprechen ja auch die Erfahrungen, die wir im Alltag machen. Um Sonnenkollektoren zu erzeugen, anzubringen und zu warten, um Häuser mit Wärmedämmung zu versehen, brauchen wir eine große Zahl von Handwerkern, Ingenieuren, Arbeitern, weit mehr als zum Aufstellen einiger riesiger Kraftwerke.

Hinter der Kontroverse um die Energiepolitik verbergen sich gegensätzliche Interessen. Wer aus Prognosen eine Energielücke konstruiert und diese Lücke mit großtechnischen Anlagen zu füllen verspricht, handelt - ob er es weiß oder nicht - im Interesse der Großkonzerne. Wer eher die Nachfrage durch alternative Energiepolitik drosseln als das Angebot erhöhen will, handelt - den Betroffenen wird dies langsam klar - im Interesse von Kleinindustrie und Handwerk.

   Signale von der Basis  

Die Energiediskussion hat auch noch in anderer Weise den Charakter des Beispiels, des Signals. Wir müssen zugeben, daß die neuen Richtungsweiser in der Energiepolitik nicht von den Regierungen aufgestellt wurden. Sie wurden zuerst von kleinen Gruppen, von Bürgerinitiativen aufgerichtet, dann in den Parteien wahrgenommen, und keineswegs in allen Parteien. Es waren nicht die Etablierten, die ihre Mitbürger aufklärten, es waren mutige Leute an der Basis, die in ihrer Hartnäckigkeit eine neue Energiediskussion erzwungen, neue Trampelpfade ausfindig gemacht haben.

Und auch das hat wohl Signalcharakter: daß der Bewußtseinswandel nicht oben, nicht in den Ministerien und Parteizentralen beginnt, sondern unten, wo Menschen ihre alltäglichen Erfahrungen machen und von daher ihre Fragen stellen. Es könnte sein, daß nicht nur der Inhalt und die Richtung der Energiediskussion anzeigt, was die achtziger Jahre bestimmen wird, sondern auch Form und Ablauf dieser Diskussion:

In dem Jahrzehnt, in das wir nun eingetreten sind, werden wir uns daran gewöhnen müssen, daß viele Impulse von den betroffenen Bürgern selbst ausgehen, daß Politik da gemacht wird, wo sie in der Demokratie Ausgang und Ziel haben soll: bei dem Bürger, der nicht glauben kann und will, daß Politik nur im Vollzug von Sachzwängen bestehen soll.

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Von Dr. Erhard Eppler