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2.6  Die Philosophie

Der Mensch ist heute nur aktiver geworden —  aber nicht
glücklicher — nicht weiser, als er's vor 6000 Jahren war.
Der amerikanische Dichter, Edgar Allan Poe  

118-125

Im Grunde sind Religion und Philosophie ihrem Wesen nach nicht zu trennen. Die Religionen kann man als verfestigte und erstarrte Philosophien auffassen, die für sich jeweils Allgemeingültigkeit beanspruchen. Einen solchen Anspruch erhebt die Philosophie selten. Darum führt sie in der Regel auch nicht zu blutigen Kriegen; Religionskriege gab es zu allen Zeiten, dagegen ist der Ausdruck <Philosophiekriege> unbekannt, es sei denn, es waren solche mit der Feder. Dafür beanspruchen die Philosophen für sich die Freiheit des Denkens. Die nächsten Verwandten der Philosophen sind die Dichter, die ebenfalls zu allen Zeiten ihre individuelle Gestaltungsfreiheit als Voraussetzung ihres Schaffens betrachtet haben.

Nun soll hier keine Geschichte der Philosophie geschrieben werden. Aber die Spitzenergebnisse der Philosophen gehören zu den Triumphen, die der Mensch in der relativ kurzen Periode seines denkenden Daseins erreichen konnte. Dabei ist es kein Zufall, daß die konzentrierteste Periode der Religions­gründungen zugleich die Gipfelzeit der Philosophiegeschichte gewesen ist. Wir sprechen von der Zeit zwischen 600 und 480 v.Chr., die der Philosoph Karl Jaspers als <Achsenzeit> der Weltgeschichte bezeichnet hat, wobei ihm der Historiker Arnold Toynbee zustimmte, daß dies ein Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte des menschlichen Denkens gewesen ist.

Damals hatten einzelne Menschen einen Stand der Weltweisheit erreicht, der von den heutigen Wissen­schaften — bei aller Anwendung moderner technischer Hilfsmittel — nur bestätigt, im wesentlichen aber nicht übertroffen werden konnte. Wäre damals die Existenz des Menschen durch Katastrophen beendet worden, es hätte in philosophischer Hinsicht fast nichts an den Weis­heiten gefehlt, zu denen wir bis heute gekommen sind. Die Renaissance und die deutsche Klassik — mit Goethe an der Spitze — hat noch einmal diese Gipfelhöhe erreicht.

Und es ist ein Glücksfall, daß der letzte große Philosoph, Friedrich Nietzsche, die hellenische Philosophie als Altphilologe gründlich studiert hatte. Damit konnte er die seit zweieinhalb Jahrtausenden vorliegenden Ergebnisse noch einmal den Europäern anbieten — eine Chance, die von diesen nicht ergriffen wurde, nicht ergriffen werden konnte! Tausend Jahre Christentum hatten Europa in andere Richtung geführt. 

Und auch der chinesische Taoismus des dem Heraklit kongenialen Laotse, der wie jener die Welt geistig durchschritten hatte, um schließlich weit über ihr zu stehen, kam in Europa überhaupt nicht zur Wirkung. 

Von beider Leben ist wenig überliefert, weil sie wohl schon zu ihrer Zeit nur von einigen Wenigen verstanden worden sind.

Der Philosoph der Chinesen aber war Konfuzius, der wahrscheinlich von 567 bis 487 gelebt hat. Das war in der zu Ende gehenden Zeit des <Frühling und Herbst> (771-481), in der das Land von elf selbstherrlichen Fürsten und ihren Höfen beherrscht wurde. In einer Epoche der allgemeinen Auflösung wollte Konfuzius unter Berufung auf vergangene Ideale zur neuen Besinnung wachrufen, die als <Weg des Himmels> bezeichnet wurde. Auch im Staatswesen sollten Güte und Pflichterfüllung herrschen wie in einer Familie. Aber nicht nur Tradition und alte Riten sollten wieder zu Ehren kommen, auch Neuerungen wurden eingeführt. Weitaus bedeutender als sein Wirken zu Lebzeiten waren die Nachwirkungen in der chinesischen Geschichte — bis heute. In mancher Hinsicht kann Konfuzius mit dem Athener Sokrates verglichen werden. Seine Lehren hielt besonders Meng-tse (371-289) aufrecht.

Nach dem Tode des Konfuzius folgte erst einmal die Zeit der "Streitenden Reiche" (481-249). Sie ist erfüllt von grausamen politischen und militärischen Kämpfen, aber zugleich das Zeitalter der <Hundert philosoph­ischen Schulen>, die sich mit dem praktischen und gesellschaftlichen Leben beschäftigten. In ihrem Geistesleben waren die Chinesen stets weniger spekulativ als die Inder und die Hellenen. 

Dagegen waren die philosophierenden Taoisten (im Unterschied zu den Vulgärtaoisten) durchaus Metaphysiker und mit ihrer anspruchsvollen Lehre dem täglichen Leben ab- und den großen Zusammenhängen der Natur zugewandt. "Je näher man der Welt ist, desto weniger sieht man von ihr." 48)

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Die Taoisten suchten den Urgrund des Seins, das, was immer gültig bleibt. Ihre Lehre ist in zwei berühmten Büchern enthalten, dem "Tao-te-king", das dem Laotse zugeschrieben wird, und dem Buch des Philosophen Dschuang-Dsi (365-290). Sie erhielten im vierten Jahrhundert v.Chr. ihre jetzige Fassung, während Laotse schon im sechsten Jahrhundert gelebt haben könnte. Anders als der Konfuzianismus hatte der Taoismus keine praktische Wirkung auf die Geschichte der damaligen Zeit, bildete aber später ein Gegengewicht zu jener Lehre.

Die beiden kontroversen Philosophen zeugen laut Toynbee von der geistigen Spannung und Regsamkeit in den politisch "streitenden Reichen". Die Taoisten mißbilligten die technischen und sozialen Fortschritte der verschiedenen autoritären Landesregierungen und sahen im Konfuzianismus kein taugliches Rezept gegen die chinesische Zivilisationskrankheit

"Der Taoismus war die erste Philosophie in der ganzen Ökumene, in der die Vermutung ausgesprochen wurde, der Mensch könne durch die fortschreitende Zivilisation sich selbst gefährden - dadurch, indem er uneins wird mit dem Geist der letzten Wirklichkeit, in der sich sein Dasein abspielt." 

Arnold Toynbee folgert daraus: 

"Diese chinesische Philosophie des vierten Jahrhunderts v. Chr. hat nicht nur für ihre eigene Zeit und ihr eigenes Land Gültigkeit, sondern läßt sich auf alle Zeiten und Länder und besonders auf die Situation der Menschheit in unserer Zeit übertragen." 49)

Festzuhalten bleibt schon jetzt, daß diese alte ökologische Philosophie auf den Gang der chinesischen Geschichte kaum jemals Einfluß gewonnen hat. Die Taoisten, an der Spitze Laotse, Dschuang-Dsi und Lia-Dsi könnte man als Ökosophen bezeichnen. Ihre eindeutigsten Äußerungen habe ich in meiner Sammlung ökologischer Texte aus vier Jahrtausenden veröffentlicht.*

Es ist sicher, daß sich die Lebenszeiten von Zarathustra, der zu Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr. geboren wurde, Buddha, geboren um 563-, Konfuzius, geboren 551-, überschnitten haben, und vielleicht lebte auch Laotse um diese Zeit. Gesichert ist, daß der Hellene Heraklit damals in Ephesos lebte (um 535 bis um 475). Die Gleichzeitigkeit so vieler großer Geister - die nichts voneinander wissen konnten - in China, Persien und im hellenischen Teil Kleinasiens, ist verblüffend.

*  (d-2008:)   Diese Sammlung bei detopia 

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Allein im hellenischen Raum, das heißt von der Westküste der heutigen Türkei bis Unteritalien, lebten damals viele bedeutende Philosophen, die den Gesichts­kreis des Menschen erweitert haben. Sie waren die ersten, welche "die Phänomene der Natur aus unpersönlichen Urelementen" ableiteten,50) also auf die Annahme eines göttlichen Schöpfungsaktes (speziell für den Menschen) verzichteten. 

Von ihnen sind zu nennen: Anaximander, Anaximenes und Thales, alle drei aus Milet in Kleinasien, wie auch Xenophon aus Kolophon, Pythagoras aus Samos, Parmenides aus Elea in Unteritalien, Alkmäon aus Kroton, ebenfalls Unteritalien.

In der sogenannten vorsokratischen Philosophie spielte Athen überhaupt keine Rolle. Thales, geboren 624/623, gestorben zwischen 548 und 544, wurde in der Antike zu den "sieben Weisen" gezählt. Berühmt ist er geworden, weil er die Sonnen­finsternis des Jahres 585- richtig voraussagte. Er war der Meinung, daß es auch für die größten Dinge wie die Entstehung der Welt einfache Erklärungen geben müsse. Wenn er behauptete, die Erde schwimme auf dem Wasser, dann konnte er damit zugleich die Erdbeben erklären. Alle Dinge bewegten sich und seien im Fluß, weil sie mit der Natur des ersten Urhebers ihres Werdens übereinstimmten. Das, was weder Ursprung noch Ende habe, sei Gott. 51) 

Anaximander* (um 610 bis um 546), Schüler des Thales, nahm bereits an, daß am Anfang der Weltordnung eine Explosion erfolgt sei, die sich aus dem Aufein­andertreffen von Feuer und Wasser ergeben habe. Die ersten Lebewesen seien im feuchten Erdschleim unter Einfluß des Feuers entstanden, der Mensch aber dann aus dem Fisch.

"Die Kräfte greifen einander fortwährend an. Wenn eine die Überhand gewinnt, zieht sich die andere zurück, wie wir es im Wechsel von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten selbst erleben. Aber dieser vorübergehende Sieg ist ein Unrecht, das durch ein anderes Unrecht, die Rache der entgegengesetzten Kraft, wieder gesühnt wird. Doch wird auch dieses Unrecht bestraft, so daß der Kampf kein Ende nimmt, bis sich die Gegner totgesiegt [!] haben. Der Verlauf dieses Kampfes zeitigt aber auch etwas Wunderbares. Zwischen Ursamen und Untergang gibt es jetzt den herrlichen Bau des Kosmos mit seinem eindrucksvollen Wechsel der Jahreszeiten; und als Produkt des Kampfes entstehen auch die Lebewesen, die den Kampf miterleben und mitmachen." 52)

* wikipedia  Anaximander  um 600 v.Chr. in Milet

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Demnach wurde das Prinzip der Evolution schon vor 2600 Jahren gefunden! Aristoteles gibt die Lehre des Anaximander wie folgt wieder: "Denn jedes Entstandene muß notwendig ein Ende nehmen, wie jedes Vergehen einmal zum Abschluß kommen muß. Somit gibt es ... keinen Anfang des Anfangs." 53)

Anaximenes, geboren 546 oder 545, Todesjahr unbekannt, schloß sich der Lehre des Anaximander an, daß die Hauptfaktoren Wärme und Kälte das Werden bestimmen, meinte aber, daß alles aus der Luft entstanden sei und daß die Erde "auf der Luft treibe", und "Gott sei Luft", unermeßlich und unendlich — und ewig in Bewegung.54 Die Gestirne bewegten sich aber um die Erde herum.[!]

Pythagoras (570-490) stammt von der Insel Samos, wanderte kurz vor 530- nach Kroton in Süditalien aus, wo er die Schule der "Pythagoreer" begründete. Laut Aristoteles behaupteten die Pythagoreer, daß im Zentrum des Weltalls ein Feuer brenne und die Erde einer der Himmelskörper sei, die sich im Kreis um das Zentrum bewegten.55 Die Pythagoreer standen in einer anderen philosophischen Tradition, denn bei ihnen spielte die Zahlenmystik eine tragende Rolle und sie hingen, wie oben erwähnt, dem Glauben an die Seelenwanderung an.

Xenophon, um 570 in Kolophon, Kleinasien, geboren, wanderte wohl schon 545 nach Unteritalien aus und starb dort hochbetagt um 475. Er dichtete auch, verfaßte unter anderem größere Epen, die verloren­gegangen sind. Seine Naturphilosophie und Gottessicht stellte er in Hexametern vor. Die Götter seien nicht menschlich oder gar "allzumenschlich" und hätten dem Menschen auch nicht die technischen Erfindungen dargeboten. Über den einen Gott, der über allem stehe, läßt sich nach Xenophons Ansicht nichts aussagen; wir sollten uns vielmehr hüten, uns einen Gott nach unserem Bilde vorzustellen.56) Gott greife in das Leben der Menschen und das ihrer Umwelt nicht ein.

Xenophon führt die Gedanken der genannten milesischen Philosophen weiter und sieht die Entstehung der Lebewesen aus dem Urschlamm durch die Abdrücke von Fossilien in Gesteinen bestätigt. Er glaubt daraufhin auf periodische Weltuntergänge schließen zu dürfen. Das Meer wird ganz richtig als Quelle der Wolken, des Regens und damit der Flüsse gesehen. "Aus Erde stammt alles und wird wieder zur Erde. Aber was wird und wächst, aus Erde besteht es und Wasser."57

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Zu dieser philosophischen Richtung gehört auch Parmenides, der um 515- in Elea (Unteritalien) geboren wurde und dort auch um 445- starb. Er schrieb ein bedeutendes Lehrgedicht "Über die Natur", worin steht, daß die Erde schließlich ein Ende haben werde. Alkmäon (570-500) entdeckte im Gehirn das Organ des Geistes.

Der Philosoph Demokrit aus Abdera in Thrakien (460-371) lehrte bereits, daß der Kosmos aus Atomen besteht. Diese seien unsichtbar, verschieden schwer, bewegten sich im leeren, grenzenlosen Raum und seien auch nach ihrer Anzahl grenzenlos, da es verschiedenartige und zahllose Welten im unendlichen Raum gebe. Der einzelne Mensch sei ein Mikrokosmos; in seinen Körperorganen wirkten ebenfalls die Atome zusammen und brächten auch die Gefühle und Denkvorgänge hervor. Demokrit vertrat ferner die Auffassung, daß die Menschen Wichtiges von den Tieren gelernt hätten.58

 

Der wohl tiefsinnigste aller Philosophen, Heraklit, verbrachte sein Leben ungefähr zwischen 535 und 475 in Ephesos, an der Westküste Kleinasiens. Er beendete zwar um 480- ein Buch, doch davon sind nur Bruchstücke erhalten. Die wenigen über­lieferten Aussagen von ihm vermitteln der Nachwelt einen deutlichen Aufriß seiner imposanten Gedankenwelt. Heraklit tritt nicht als Prophet auf, etwa mit der Autorität dessen, dem Gott eine Lehre offenbart hat, sondern sagt offen, daß er selbst darauf gekommen ist. Er unternimmt es, die Weltordnung nachzuvollziehen. 

"Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, im Hinhorchen." 59) Zunächst: "Diese Weltordnung hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird immer sein: immer-lebendes Feuer, entflammend nach Maßen und verlöschend nach Maßen."60

Und die Dinge der Welt bewegen sich in einem immerwährenden Kreislauf zwischen Gegensätzen und bilden doch eine Einheit; alles ist miteinander verknüpft. Das gilt für die physikalische Welt wie auch für die Erlebniswelt des Menschen. Der Widerstreit der gegensätzlichen Mächte treibt die Welt (wir sagen heute: die Evolution) voran. Aus dem Kampf der Gegensätze entsteht alles Werden. In diesem Sinne ist der Krieg unter den Lebewesen "der Vater aller Dinge". Insgesamt bleibt dennoch alles in einem dynamischen Gleichgewicht.

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Sollte das Ziel der Geschichte darin liegen, einige weise Menschen hervorzubringen, dann war es schon vor zweieinhalb Jahrtausenden erreicht! 

Sowohl Laotse in China als auch Heraklit in Hellas und die Philosophen in ihrem Umkreis hatten einen Erkenntnis­stand, der in unserem Jahrhundert durch weit verfeinerte Mittel bestätigt worden ist. Ihr Weltbild war ökologisch.

In der Dichtkunst waren den Philosophen schon Homer und Hesiod vorausgegangen; jetzt folgten ihnen die Dramatiker und Komödiendichter: Aischilos †456-, Euripides †407-, Sophokles †406-, Aristophanes †380-.

Ihre Werke wurden besonders bei den Olympischen Spielen aufgeführt. Unter den Dichtern herrschte Wettstreit wie unter den Sportlern. Während dieser Festzeiten herrschte Friede. Sonst aber befehdeten sich die hellenischen Staaten, in Bruderkriegen zwischen dem einen und dem anderen Stadtstaat und innerhalb der Staaten stritten sich Klassen und Parteien. 

"In dieser Periode der griechischen Geschichte — bis die Römer den Bruderkriegen ein Ende machten — bekämpften die Griechen einander so rücksichtslos, wie sie es in der mykenischen Zeit getan hatten; und in den griechischen Staaten, wo im siebenten Jahrhundert v. Chr. wirtschaftliche Revolutionen stattgefunden hatten, wurde der innere Hader so bedrohlich, daß sie zeitweise unter Diktatur gestellt wurden."61

Trotz der heftigen inneren und auch äußeren Kämpfe in der Zeit von 750 bis 500 und wachsender Uneinigkeit "waren sich die Griechen ihrer kulturellen Zusammengehörigkeit bewußt, und dieses Gemeinschaftsgefühl kam in zahlreichen panhellenischen Institutionen zum Ausdruck".62  

Eine Art von Krieg war allerdings den Hellenen unbekannt, der Religionskrieg - und das blieb eine der wenigen Ausnahmen in der Weltgeschichte. Religionskriege hat es sonst wohl fast in jeder Kultur gegeben. Im syrisch-jüdischen Raum berichtet die Bibel Unzähliges und Unsägliches darüber, und die Frühzeit des Islam ist voll davon. Nur bei den Römern setzte der blutige Religionskampf erst mit dem Auftauchen der ersten Christen ein.

Die christliche Theologie hat die Ergebnisse der Naturphilosophie der Hellenen über zwei Jahrtausende lang verdrängt. Das freie Denken und Forschen mußte erst in einem mühsamen, oft lebensgefährlichen Kampf zurückgewonnen werden. Allerdings haben damals auch die Klöster die antiken Schriften aufbewahrt, die zuvor von lateinischen und einigen arabischen Sammlern gerettet worden sind.

Die Befreiung von der theologischen Vormundschaft war ein Gegenstoß, der vom Norden ausging. Dort blieb es zweifelhaft, ob einige dieser Völker je so recht christlich geworden waren. Das gilt auch für England und das anglikanische Nordamerika. Darum konnte Shakespeare, der englische Goethe, schon 200 Jahre früher auftauchen. In Großbritannien gab es keine echten Religions­kriege, nicht die schlimme Form der Inquisition und der Hexenverbrennungen. So waren in dieser Nation alle Voraus­setzungen vorhanden, um in Naturwissenschaft und Technik die Führung übernehmen zu können.

Die Kultur Europas bestand aus verschiedenen Volkskulturen, die durch eigene Sprachen voneinander getrennt blieben. Das hatte es bei den vorherigen Hochkulturen nicht gegeben. Ob in Ägypten, China, Griechenland oder Rom, man hatte bei allen Bruderkriegen eine Sprache gesprochen. Auch in Indien sprach die jeweils herrschende Schicht ihre Sprache. In Europa hatte allerdings die lateinische Sprache in Kirche und Wissenschaft lange Zeit für eine gewisse Gemeinsamkeit gesorgt. Mit der Verselbständigung der Nationen verschärften sich dann die Konflikte.

Als die europäische Kultur im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde sie ein gutes Stück hellenisch - und das besonders in Deutschland. Dafür standen Goethe, Schiller und Hölderlin, gefolgt von vielen anderen. Die Vorherrschaft der Theologie wurde aber nicht durch die Philosophie abgelöst, sondern durch die experimentellen Naturwissenschaften.

Hätte es die lange christliche Vormundschaft nicht gegeben, dann wäre auch das glorreiche Erlebnis der Befreiung von ihr nicht eingetreten. Ein lauter Jubel darüber ist allerdings ausgeblieben. Zum einen, weil der Klassik das innere Erlebnis genügte, zum anderen, weil man die Machtstrukturen der von den Staaten (bei den Katholiken auch vom Papst) gestützten Kirche auch im 19. Jahrhundert immer noch zu fürchten hatte.

Das war die Lebenslüge des 19. Jahrhunderts, die Nietzsche bemerkte und lauthals aufdeckte. Man ließ ihn gewähren und zog es vor, seine Existenz zu verschweigen. Kein Kunststück, denn die geistigen Köpfe der Zeit beschäftigten sich bereits kaum noch mit philosophischen oder geistigen Gegenständen, sondern mit solchen der Technik und Ökonomie.

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