Aushungern und Fordern Über die Hartz-4-Sanktionspraxis Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz (Berlin) |
Fragesteller:
Reinhard Jellen |
Web:
Hartzkampagne.de Berlin |
Seit 2005 hat sich in Deutschland die Armut, die Kinderarmut und die Anzahl der Tafeln verdoppelt. Der Niedriglohnsektor hat sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre gleichfalls dupliziert. Während Einkommen aus Gewinnen und Vermögen um 36 Prozent zugenommen haben, bleibt die Lohnquote mit 66,2 Prozent auf einem historischen Tiefstand: Neun Prozentpunkte unter dem Spitzenniveau von 1974.
Maßgeblicher Türöffner für diese Entwicklung sind die unter dem Begriff <Hartz IV> subsummierten Reformen des Arbeitsmarkts aus dem Jahr 2005. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Einführung einer Grundsicherung unterhalb des ehemaligen Sozialhilfeniveaus, indem staatliche Einmalleistungen der Sozialämter durch unzureichende Pauschalen (PDF) [6] ersetzt wurden und der (teilweisen) Verringerung des Schonvermögens [7] wurde bei Langzeitarbeitslosen eine verheerende Armutsspirale in Gang gesetzt.
Doch damit hören die Zumutungen für Bezieher des Arbeitslosengelds II nicht auf, denn mit der ökonomischen Entmachtung geht eine gravierende Entrechtung einher. De facto nähert man sich durch die exponentielle Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien für Arbeit [8] hart der Grenze zur Zwangsarbeit. Die Alg-II-Bezieher bewegen sich nicht mehr als Rechtssubjekte, als Staatsbürger in der Gesellschaft, sondern werden zu reinen Pflichterfüllern degradiert.
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Machtlosigkeit und Erniedrigung sind Langzeitarbeitslose noch der Willkür der Behörden ausgesetzt. Denn die Jobcenter und ARGEN haben das Recht, die Zahlungen an Hartz-4-Empfänger bis zum Wegfall der Leistung einzuschränken, falls diese ihren Anweisungen nicht Folge leisten.
Letzteres ist für die Arbeitslosen durchaus schwieriger, als sich das anhört: Schließlich sind die Alg2-Regelungen in etwa so kompliziert, wie das deutsche Steuerrecht, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass Wohlbetuchte mit Hilfe juristischer Spezialisten Ausnahmeregelungen und Steuerschlupflöcher für sich ausfindig und zu ihrem Vorteil nutzen können, während man den Alg II-Bezieher in einem Dschungel voller Fußangel-Paragrafen und unklarer Regelungen, die sich mitunter gegenseitig widersprechen, alleine stehen lässt.
Sanktionen sind nicht nur, aber auch ein Mittel, um den Sparvorgaben der Bundesagentur für Arbeit nachzukommen. Eine Großzahl davon ist rechtswidrig, wie die Anzahl der gewonnen Prozesse gegen die Maßnahmen beweist. Diese Anordnungen sind keine Bagatellmaßregeln, sondern gehen an die Existenz:
In der Broschüre <Sanktionen gegen Hartz-4-Beziehende - Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen> [10], welche von der <Berliner Kampagne gegen Hartz IV> [11] herausgegeben wurde, ist zum Beispiel von einem Fall zu lesen, in dem ein Diabetiker sich aufgrund der Sanktionen kein Insulin und auch kein Essen mehr leisten konnte.
Auch sind die Umstände der darin beschriebenen Sanktionen oftmals grotesk: Ein Epileptiker sollte auf einem Baugerüst arbeiten, eine Hartz-4-Bezieherin wurde vom Job-Center dazu angehalten, die "Nebentätigkeit" Prostitution [12] gegen ihren Willen fortzusetzen.
Über die drakonischen Strafen, die das Gesetz vorschreibt, und die zum Teil lebensgefährliche Sanktionierungspraxis von Jobcentern und ARGEN sprach Telepolis mit Claudia Daseking und Solveig Koitz, welche die Broschüre mitverfasst haben und Mitinitiatorinnen des "Bündnis für ein Sanktionsmoratorium" [13] sind, einer erstaunlich breiten Plattform namhafter Vertreter aus Politik, Erwerbsloseninitiativen, Wissenschaft und Kirche. Solveig Koitz arbeitet seit Jahren als Sozialberaterin für Hartz-4-Beziehende.
"Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum"
1) Die Sanktionsfälle gegen Hartz-4-Bezieher in Ihrer Broschüre lesen sich geradezu kafkaesk. Haben Sie besonders krasse Beispiele ausgesucht?
Claudia: Nein, die Fälle sind ein Querschnitt des alltäglichen Hartz-4-Wahnsinns, auch wenn die meisten Fälle nicht derart grotesk sind wie die von ihnen genannten Beispiele. Wenn Sie sich im Internet die Unterzeichnerliste unseres Aufrufs für ein Sanktionsmoratorium [14] , also ein Aussetzen der Hartz-4-Sanktionen, angucken, können Sie sehen, wie viele Leute aus sozialen Berufen den Aufruf unterschrieben haben, wie viele Leute aus caritativen Einrichtungen, Sozialberatungen, Schuldnerberatungen, Leute, die täglichen Umgang mit dem Leid haben. Dann sehen Sie, dass wir ganz dicht dran sind an der Wirklichkeit.
2008 gab es 780.000 Sanktionen
2) Was ist denn so schlimm an den Sanktionen?
Solveig: Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum. Um Missverständnissen vorzubeugen: Sanktionen betreffen nicht Fälle von Leistungsmissbrauch, sondern es geht um Menschen, die auf die niedrigen Hartz-4-Leistungen angewiesen sind und denen man irgendein Fehlverhalten vorwirft. Bei vielen Langzeitarbeitslosen, die über keinerlei Ressourcen verfügen und zum Beispiel kein Schonvermögen haben, führen diese Geldkürzungen sofort in blanke Not, in staatlich verordnete Not - wie man sie sich für Deutschland, einem Land mit Sozialstaat nicht vorstellen kann, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 780.000 Sanktionen verhängt. Es mag wenig klingen, dass "nur" etwa drei Prozent der Alg-2-Beziehenden sanktioniert werden - wie es immer wieder verharmlosend und beschwichtigend angeführt wird, so auch vom Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt. Man muss sich aber vergegenwärtigen, wie viele Menschen dies massiv trifft. So mussten im Jahr 2008 knapp 100.000 junge Erwachsene - die Altersgruppe der unter 25jährigen wird besonders hart sanktioniert - einen Teil des Jahres völlig ohne Geldmittel auskommen, in der Regel drei Monate lang, und haben von den Jobcentern, wenn überhaupt, nur Lebensmittelgutscheine erhalten.
Ein zweiter Punkt ist die Hilflosigkeit, wenn man dem Sanktionsapparat ausgeliefert ist. Das ist entwürdigend.
Die vielen erfolgreichen Klagen und Widersprüche dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass weniger als zehn Prozent der Bestraften von diesen Rechtsmitteln Gebrauch machen. Über die meisten Menschen brechen die Sanktionen wie eine Katastrophe herein, und die Kraft geht dafür drauf, die Grundversorgung und drum herum den Alltag neu zu organisieren und die Sanktion psychisch zu verkraften.
Für den Rechtsweg braucht man Energie und Zeit, außerdem Wissen oder zumindest Kontakte.
Druck auf die regulär Beschäftigten
Claudia: Und drittens wirken die Sanktionen nicht nur auf die Sanktionierten. Alle, die in die Nähe des Hartz-4-Regimes kommen, stehen unter dem Druck, ganz schnell irgendeine Arbeit anzunehmen, egal um welchen Preis. So werden Menschen für den Niedriglohnsektor "zugerichtet". Und diese Bedrohung spüren auch die noch Erwerbstätigen und sind zu vielerlei Zugeständnissen bereit. Statt "Arbeit muss sich wieder lohnen" ist das Motto von Hartz 4 eigentlich: "Arbeitslosigkeit muss weh tun". Als Gerhard Schröder den Wirtschaftsgrößen in Davos 2005 verkündete, Deutschland habe einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt, hat er dies als Erfolg des Umbaus des Sozialstaates, als unmittelbaren Erfolg von Hartz 4 proklamiert [15].
"Fast jede Arbeit zumutbar"
3) Können Sie uns kurz schildern, in welchen Fällen Sanktionen gegen Hartz-4-Beziehende verhängt werden?
Solveig: Die landläufige Meinung ist ja, sanktioniert würden die "Drückeberger", also die, die sich weigern würden, Arbeit anzunehmen. Es ist tatsächlich einer der Gründe für Sanktionen, wenn so genannte "zumutbare" Arbeit abgelehnt, vereitelt oder abgebrochen wird. Ein Blick in die Sanktionsstatistik zeigt aber, dass dies ein eher seltener Sanktionsgrund ist, der nur etwa zehn Prozent der Fälle ausmacht. Dazu muss man auch wissen, dass schon ein Verhalten im Bewerbungsverfahren, das einem Arbeitgeber aus irgend einem Grund nicht gefällt, zu einer Sanktion führen kann.
Hinzu kommt, dass fast jede Arbeit als zumutbar gilt, egal woher man beruflich kommt und wo man hin will, und fast egal, wie niedrig der Lohn ist, nur Lohnwucher darf es nicht sein. Aber nicht einmal daran halten sich die Jobcenter und es werden Sanktionen verhängt, wenn sich Erwerbslose weigern, für Wucherlohn zu arbeiten. Wenn solche Sanktionen vor Gericht landen, werden sie aufgehoben, zum Beispiel in einem Fall, wo eine Frau Arbeit bei einem Textildiscounter für 4,50 € Stundenlohn nicht antreten wollte.
4) Arbeitsverweigerung ist also ein seltener Sanktionsgrund. Wofür werden die meisten Sanktionen verhängt?
Solveig: Über die Hälfte der Sanktionen betrifft Meldeversäumnisse, also wenn jemand zu einem Termin beim Jobcenter nicht erscheint oder zu spät kommt. Der zweithäufigste Sanktionsgrund sind Verstöße gegen die so genannte Eingliederungsvereinbarung, das waren 2008 etwa 17 Prozent der Sanktionen, zum Beispiel wenn zu wenig Bewerbungen vorgelegt wurden. Nur ein, zwei Bewerbungen weniger als in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt, also zum Beispiel achtzehn Bewerbungen im Monat statt 20, und eine Sanktion wird fällig.
"Zwangsvertrag"
5) Eine Zwischenfrage: Eine Eingliederungsvereinbarung, was ist das? Und zwanzig Bewerbungen im Monat, ist das realistisch? Bewerbungen müssen doch zielgerichtet sein, wenn man damit Erfolg haben will ...
Solveig: Da sprechen Sie mehrere wunde Punkte an. Bewerbungen sind nicht billig und die Kosten dafür nicht im Regelsatz enthalten. Die Jobcenter übernehmen aber Bewerbungskosten nur in bescheidener Höhe. Und wie viele Alg-2-Beziehende wagen es angesichts angedrohter Sanktionen, auf der Kostenübernahme der angeordneten Bewerbungen zu bestehen und im Ablehnungsfall weniger Bewerbungen zu schreiben? Die Jobcenter dürfen eigentlich keine Bewerbungen verlangen, deren Kosten sie nicht erstatten. In der Praxis geschieht das aber.
Was die Eingliederungsvereinbarungen betrifft: Diese müssen die Jobcenter mit allen Alg-2-Beziehenden abschließen. Darin sollen, vereinfacht gesagt, für beide Seiten ihre im Gesetz allgemein angelegten Pflichten konkretisiert werden. Dabei ist schon das Wort "Vereinbarung" irreführend, "Zwangsvertrag" wäre hierfür eine passendere Bezeichnung, denn die Unterzeichnung steht der einen Seite nicht frei, die Unterschriftsverweigerung ist laut Gesetz ihrerseits ein Sanktionsgrund.
Dabei wissen alle, die nur ein Fünkchen von Sozialarbeit verstehen, dass in diesem Bereich die unbedingte Freiwilligkeit der Kooperation eine essentielle Voraussetzung dafür ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Betreuenden und Klienten gelingt, und dass die vereinbarten Ziele bestmöglich erreicht werden. Was diese Eingliederungs"vereinbarung" laut Gesetz enthalten und wie sie zustande kommen soll, und wie das demgegenüber in den Jobcentern gehandhabt wird, das sind weitere Probleme.
"Überfordernde Pflichten"
Claudia: Ja, zum Beispiel ist es der Normalfall, dass einem der fertige Entwurf zur sofortigen Unterschrift vorgelegt wird, ohne vorherige Besprechung, was darin aufgenommen werden sollte. Unter Umständen steht da viel Unverständliches drin, zum Beispiel lange Gesetzeszitate. Bei einem der in unserer Broschüre Porträtierten war es so, dass er überhaupt nicht verstanden hat, was er da unterschrieben hat - erklärt hat es ihm im Jobcenter niemand, obwohl er krankheitsbedingte Auffassungsschwierigkeiten hat, von denen das Jobcenter wusste.
Zum Widersinn von Eingliederungsvereinbarungen, die überfordernde Pflichten enthalten und so zwangsläufig zu Sanktionen führen, nannte die Mitarbeiterin einer Sozialberatungsstelle, die wir im Rahmen unserer Erhebung befragt hatten, ein Beispiel aus ihrem Erfahrungsbereich: "Wenn einem 20jährigen Obdachlosen, dessen Leben chaotisch und instabil ist und der psychisch nicht belastbar ist, zehn Bewerbungen im Monat abverlangt werden, muss man sich nicht wundern, dass der scheitert."
Verstoß gegen Dienstanweisung
6) Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, in dem Sie mitwirken, hat soeben einen offenen Brief (PDF) [16] an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit geschrieben, weil durch die Jobcenter entgegen einer BA-Anweisung weiterhin Sanktionen verhängt werden, wenn Alg-2-Beziehende ihre Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigern. Sie fordern Aufklärung darüber, wie es dazu kommen konnte und sofortige Abhilfe. Können Sie mehr zum Hintergrund sagen?
Solveig: Seit Dezember 2008 gibt es die Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit, dass die Unterschriftsverweigerung unter die Eingliederungsvereinbarung, die laut Gesetz ein Sanktionsgrund ist, nicht mehr sanktioniert werden soll. Denn die Bundesregierung hat nach entsprechenden Gerichtsurteilen in der Begründung zu einer geplanten Gesetzesänderung eingeräumt, dass bei der jetzigen Gesetzesregelung gegen die Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, die ein Verfassungsgrundsatz ist. Im Vorgriff auf diese geplante Gesetzesänderung, die übrigens immer noch nicht erfolgt ist, hat dann die BA diese Dienstanweisung herausgegeben.
Trotzdem werden in den Jobcentern in nahezu unveränderter Höhe Sanktionen verhängt, wenn jemand die Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigert hat, wie in den aktuellen Sanktionsstatistiken der BA zu sehen ist. Auch dieses Beispiel zeigt, wie notwendig ein Sanktionsmoratorium ist, um dem Handeln der Jobcenter Einhalt zu gebieten.
7) Gibt es denn noch weitere Sanktionsgründe?
Solveig: Der dritthäufigste Sanktionsgrund - im Jahr 2008 waren es 11 Prozent der Fälle - ist die Weigerung, Eingliederungsmaßnahmen wie Ein-Euro-"Jobs", Bewerbungstrainings und unbezahlte Praktika anzutreten oder fortzuführen. Im Gesetz sind weitere Sanktionsgründe festgelegt - die Pflichten von Hartz-4-Beziehenden erschöpfen sich ja nicht im bisher Genannten. In der Sanktionspraxis kommen diese Fälle, wie zum Beispiel die Fortsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens, nur selten vor. Die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit sagt aber nichts darüber aus, ob die Sanktionierten tatsächlich die genannten Pflichtverletzungen begangen haben oder ob ihnen ein Fehlverhalten nur unterstellt wurde.
Auf den hohen Anteil rechtswidriger Sanktionen wollen wir noch zu sprechen kommen.
"Bescheinigung für Bettlägerigkeit gefordert"
8) Sie sagten, die meisten Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen verhängt. Aber kann man nicht erwarten, dass jemand, der staatliche Leistungen bekommt, zu den Terminen bei der Behörde erscheint, und zwar pünktlich?
Solveig: Dass man irgendwo zu spät kommt, sollte natürlich nicht vorkommen, ist aber den meisten von uns schon mal passiert. Wenn man krank ist und deshalb nicht zu einem Termin ins Jobcenter gehen kann, hat man zwar die Möglichkeit, einen Krankenschein zu schicken, aber es dauert mehrere Tage, bis die Post innerhalb des Jobcenters auf dem richtigen Schreibtisch landet - in Berlin sind es durchschnittliche sechs Tage, wie uns ein Jobcenter-Mitarbeiter verriet. Bis dahin kann schon das Sanktionsverfahren eingeleitet worden sein und muss dann mühsam wieder gestoppt werden. Dazu kommt, dass immer wieder Jobcenter normale Krankenscheine nicht als Entschuldigung gelten lassen wollen, sondern Bescheinigungen für Bettlägerigkeit verlangt haben, die Ärzte normalerweise nicht ausstellen. Dieses Vorgehen hat die Bundesagentur für Arbeit inzwischen in einer Dienstanweisung als unzulässig gewertet.
Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen mit dem Jobcenter oder mit Behörden derart Angst davor haben, was im Jobcenter mit ihnen gemacht wird, dass sie trotz der Sanktionsdrohung nicht zu einem Termin gehen. Und dann gibt es diejenigen, die wegen ernster psychischer Probleme oder einer Suchterkrankung nicht einmal ihren Alltag bewältigen können und ihre gesamte Post nicht zur Kenntnis nehmen. Das Klischee, dass Leute einfach zu faul sind, um morgens aufzustehen und ins Jobcenter zu gehen, mag vereinzelt zutreffen, aber in vielen Fällen dürfte es an der Realität vorbeigehen.
"Schwerwiegende Versorgungslücken"
Claudia: Natürlich gibt es auch unter Erwerbslosen Leute, die "total verpeilt" sind, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und die nicht mit Behörden umgehen wollen oder können, aus welchen Gründen auch immer. Aber kann es ein geeigneter Umgang damit sein, dass diesen Menschen das Existenzminimum gekürzt wird? Wir finden: nein. So ein Vorgehen mutet, gelinde gesagt, an wie der Versuch hilfloser Eltern, ihr unartiges Kind zur Einsicht zu bewegen, indem das Spielzeug weggenommen und das Kind ohne Abendbrot ins Bett geschickt wird.
9) Nun ist das Leben als Hartz-4-Bezieher ohnehin kein Zuckerschlecken. Da muss es doch dramatisch sein, wenn das Geld noch weiter gekürzt wird...
Claudia: So ist es. Das Arbeitslosengeld II soll das Existenzminimum abdecken und es ist zweifelhaft, ob das überhaupt gewährleistet ist. Es liegt auf der Hand, dass schwerwiegende Versorgungslücken entstehen, wenn an diesem Existenzminimum auch noch gekürzt wird. Diejenigen unter den Sanktionierten, denen vielleicht noch das physische Existenzminimum verbleibt, werden völlig vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten - oder auch sie hungern, um nicht darauf zu verzichten. Menschliche Existenz ist doch mehr als das nackte Überleben.
Wenn ein Familienmitglied sanktioniert wird, sind alle im Haushalt davon betroffen, schließlich werden im Kühlschrank keine Trennfächer eingezogen. Wenn der Regelsatz eines Familienmitglieds komplett gestrichen wird oder sogar dessen Wohnkosten nicht übernommen werden, ist das besonders gravierend. Dann müssen zum Beispiel Eltern von den Regelsätzen ihrer Kinder leben. Wenn Mietschulden entstehen, trifft dies ebenso die nicht sanktionierten Familienmitglieder. Das ist Sippenhaft.
Komplette Streichung der Leistungen
10) Wie hoch fallen denn die Kürzungen des Hartz-4-Geldes aus?
Solveig: Das reicht von zehn Prozent des Regelsatzes für das erste Mal, wenn man einen Termin im Jobcenter verpasst, über 30 Prozent des Regelsatzes, wenn einem das erste Mal ein anderer Pflichtverstoß zur Last gelegt wird - vorausgesetzt, man ist mindestens 25 Jahre alt, den unter 25jährigen wird schon beim ersten derartigen Pflichtverstoß 100 Prozent vom Regelsatzes gekürzt.
Bei wiederholten Pflichtverletzungen geht das ruckzuck bis zur vollständigen Streichung des gesamten Alg 2, also von Regelsatz, Wohnkosten und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Kürzungen erfolgen jeweils für drei Monate.
"Materielle Not bis hin zur Todesangst"
Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz über die Hartz-Sanktionspraxis, Teil 2, Reinhard Jellen, 23.09.2009
Gründe für Sanktionierung nicht einsichtlich
11) Sie haben ja sanktionierte Hartz-4-Bezieher befragt. Was ist Ihrer Einschätzung nach das größte Problem für die Betroffenen?
Solveig: Das hängt zum einen davon ab, wie hoch die Sanktion ist und ob jemand noch Geld auf dem Konto oder dem Sparbuch hat. Es macht schon einen Unterschied, ob einem zehn Prozent vom Regelsatz gekürzt werden, oder ob das Alg2 ganz gestrichen wird. Wie jemand eine Sanktion verkraftet, hängt auch davon ab, wie die persönliche Situation und die psychische Verfassung ist, d.h. wie belastet jemand durch Hartz4 schon vor der Sanktion war und welche Probleme jemand außerdem noch hat.
Claudia: Wer sanktioniert wird, ist meist wie vor den Kopf geschlagen. Viele verstehen nicht, warum sie überhaupt sanktioniert wurden. Deutlich wurde auch, dass Sanktionen in gravierender Weise den Alltag und die Lebensmöglichkeiten der Betroffenen und ihrer Familien beeinträchtigen. Als besonders belastend wurden von den Befragten auch Ohnmachtsgefühle genannt: Das Gefühl, dieser Behörde ausgeliefert zu sein, von ihr in Not gebracht zu werden und daran selbst nichts ändern zu können. Verbreitet ist die starke Empfindung, ungerecht behandelt zu werden. Ein Sanktionierter hat angegeben, für ihn sei das Schlimmste das genaue Wissen gewesen, dass mit ihm rechtswidrig verfahren wird.
Unsere Umfrageergebnisse zeugen davon, dass zum Teil große materielle Not entsteht, die bis hin zu Todesangst führt, weil der Zugang zu Nahrung und Medikamenten versperrt ist.
"Wer nicht betteln will, muss hungern"
12) Hunger, fehlende Versorgung mit Medikamenten und Todesangst, das klingt ungeheuerlich. Schließlich reden wir hier über Deutschland, nicht über die dritte Welt...
Claudia: Das mag unglaublich klingen, aber dazu muss man wissen, dass selbst Sachleistungen gegen Hunger und Verwahrlosung laut Sozialgesetzbuch II nur in bestimmten Fällen gewährt werden sollen. Sogar dann teilt das Jobcenter die Lebensmittelgutscheine nicht immer von sich aus zu, sondern dies muss gegebenenfalls erst beantragt werden. Wer es nicht fertig bringt zu betteln - sei es im Jobcenter, auf der Straße oder bei der Familie -, muss eben hungern. Die Tafeln fangen hier einiges ab, aber ein vertretbarer Ersatz für einen die Würde gewährleistenden Sozialstaat sind sie nicht.
Auch der Krankenversicherungsschutz ist unter Umständen stark eingeschränkt. Hier gelten komplizierte Regelungen, und über ihren Anspruch zumindest auf eine Notfallversorgung werden die Betroffenen, denen das Alg II komplett gestrichen wurde, nicht aufgeklärt. Infolgedessen werden sie medizinische Behandlungen wenn irgend möglich vermeiden, um etwaigen Schulden wegen Arzt- oder Krankenhausrechnungen zu entgehen - mit unter Umständen dramatischen Folgen. Einer unserer Fragebögen wurde von einem Diabetiker ausgefüllt, der infolge seiner Sanktion kein Insulin und keine Nahrung hatte. Er hatte Angst um sein Leben.
"Systemumbruch ist politisch gewollt"
13) Sie sagten eingangs, die in Ihrer Broschüre beschriebenen Fälle wären ein Querschnitt der Sanktionsrealität. Zugleich schreiben Sie, dass Sie keine repräsentative Untersuchung durchgeführt haben. Liegen denn inzwischen größere Studien und repräsentative Ergebnisse vor?
Claudia: Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung, die wir vor etwa einem Jahr abgeschlossen haben, gab es noch keine nennenswerte evaluierende Forschung zu den Hartz-IV-Sanktionen, was sehr verwunderlich ist, weil hier massiv in das Leben der Menschen eingegriffen wird. Wir wissen, dass inzwischen zum Beispiel die Sozialwissenschaftlerin Anne Ames und auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit an größeren Studien arbeiten, die Ergebnisse sind aber noch nicht veröffentlicht.
Daher ist denen, die keinen unmittelbaren Kontakt zu Sanktionsbetroffenen haben, das tatsächliche Ausmaß der Probleme nicht bekannt.
Das mag ein Grund dafür sein, dass die politisch Verantwortlichen bislang untätig bleiben konnten. Die Regierung hat wiederholt behauptet, die bestehenden gesetzlichen Regelungen würden sicherstellen, dass hilfebedürftige Personen immer ein Mindestmaß an Hilfe [2] erhalten [3]. Diese Haltung hat ihren tieferen Grund darin, dass der Systemumbruch weg von einem Sozialstaat, der diesen Namen verdient, von den Regierungsparteien unbedingt gewollt ist[4], und dass man die Schwierigkeiten einfach aussitzen möchte.
Solveig: Etlichen Bundestagsabgeordneten gingen ja die Sanktionsregelungen, die mit Inkrafttreten von Hartz IV eingeführt wurden, noch nicht weit genug. Deren Forderung nach noch mehr Druck auf Alg2-Beziehende hatte eine erhebliche Verschärfung des Sanktionsparagrafen zur Folge. Bei der Abstimmung darüber im Bundestag wussten Abgeordnete, die die Gesetzesverschärfung veranlasst bzw. mitgetragen haben, offenkundig nicht, was sie da eigentlich beschließen.
In der Debatte wurde geleugnet, dass zum Beispiel einem verheirateten Erwerbslosen mit zwei Kindern das Arbeitslosengeld II komplett gestrichen werden kann, einschließlich der Wohnkosten, obwohl genau dies im verabschiedeten Gesetzentwurf vorgesehen war. Wer das genauer wissen möchte: Der Auszug aus dem entsprechenden Bundestagsprotokoll ist im Anhang unserer Broschüre zu finden [5].
Klagen erfolgreich
14) Sie haben schon mehrfach im Interview anklingen lassen, dass die Sanktionen zum Teil rechtswidrig erfolgen. Können Sie einschätzen, in welchem Umfang dies geschieht?
Solveig: Ein Indiz dafür ist die Erfolgsquote von Widersprüchen und Klagen gegen Sanktionen. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei DIE LINKE hat die Bundesregierung dazu kürzlich Zahlen veröffentlicht [6]. Im Jahr 2008 wurde 41 Prozent der Widersprüche gegen Sanktionen zumindest teilweise stattgegeben.
Von den im Jahr 2008 abschließend erledigten Klagen gegen Sanktionen waren 65 Prozent zumindest teilweise erfolgreich. Es ist ja bekannt, dass von den Klagen im Bereich Hartz IV etwa die Hälfte für die Klagenden zum Erfolg führt. Diese verhältnismäßig hohe Erfolgsquote wird im Bereich der Sanktionen noch übertroffen.
"Jobcenter setzen Gerichtsurteile nicht in die Tat um"
15) Werden Hartz-4-Bezieher, bei denen anerkanntermaßen die Bezüge widerrechtlich gestutzt worden sind, in angemessener Weise entschädigt?
Claudia: Wenn der Widerspruch oder die Klage erfolgreich war, bekommt man den gekürzten Betrag erstattet. Man bekommt eine einfache Nachzahlung, aber keine Entschuldigung und schon gar keine Entschädigung. Nur einen Anspruch auf Verzinsung gibt es. Man muss wissen, dass Widersprüche und Klagen gegen Sanktionen keine aufschiebende Wirkung haben. Die Sanktion wird sofort vollzogen, egal ob es Zweifel an der Rechtmäßigkeit gibt oder nicht.
16) Widerspruch und Klage haben bei den Sanktionen keine aufschiebende Wirkung? Wie das?
Solveig: Jemand hat dazu festgestellt, wenn die Abwägung des Interesses der Allgemeinheit am sofortigen Vollzug gegenüber dem Rechtsschutzinteresse der Alg-II-Beziehenden zu dem Ergebnis führt, dass ersterem ein stärkeres Gewicht beizumessen ist, dann müsse dem zwangsläufig die Annahme zugrunde liegen, Hartz-IV-Beziehende wären mehrheitlich Sozialschmarotzer.
Das Fehlen der aufschiebenden Wirkung hat zur Folge, dass vor allem diejenigen, die nicht den gerichtlichen Eilrechtsschutz nutzen oder nutzen können, über Monate mit den Kürzungen leben müssen. Denn bis über Widerspruch und Klage entschieden ist, kann wegen der Überlastung der Sozialgerichte und der Widerspruchsstellen in den Jobcentern viel Zeit ins Land gehen. Wenn dann eine Nachzahlung erstritten wurde, macht dies die Lebenseinschränkungen in der Sanktionszeit nicht rückgängig.
Claudia: Hinzu kommt noch Folgendes: Ein Leser unserer Broschüre hat berichtet, dass er wegen zweimaliger hundertprozentiger Kürzung seiner Leistungen vor das Sozialgericht gezogen ist und gewonnen hat. Nun weigert sich aber das Jobcenter zu zahlen, so dass er wiederum klagen muss, damit das Jobcenter dem Urteil nachkommt. Und dies ist kein Einzelfall. Tatsache ist, dass kürzlich eine Richterin vom Bundessozialgericht in der Berliner Morgenpost beklagt hat, dass die Jobcenter die Gerichtsurteile oftmals nicht in die Tat umsetzen.
"Lange Zitate aus unverständlichen Gesetzestexten"
17) Wann sind denn Sanktionen rechtswidrig? Können Sie Beispiele dafür nennen?
Solveig: Eine Sanktion ist zum Beispiel rechtswidrig, wenn die Pflicht, die der Sanktion zugrunde gelegt wird, gar nicht rechtmäßig ist. Das betrifft zum Beispiel ein Arbeitsangebot mit Wucherlohn. Oder den Abbruch einer unpassenden oder unsinnigen Maßnahme wie zum Beispiel das xte Bewerbungstraining oder den Computergrundkurs für eine IT-Expertin. So etwas dürfte bei korrekter Gesetzesanwendung nicht sanktioniert werden. Ein unbezahltes Praktikum, das die Chancen auf eine bezahlte Arbeit nicht verbessert, braucht ebenfalls nicht angetreten werden. Das Jobcenter darf auch nicht verlangen, die bisherige Teilzeitstelle aufzugeben, die sich mit der Kinderbetreuung vereinbaren lässt, um eine zugewiesene schlecht bezahlte Vollzeitstelle anzunehmen.
Außerdem darf keine Sanktion erfolgen, wenn es einen wichtigen Grund für die Pflichtverletzung gab, zum Beispiel wenn ein Termin versäumt wurde, weil das kranke Kind zum Arzt gebracht werden musste. Damit sichergestellt ist, dass so ein wichtiger Grund bei der Sanktionsentscheidung beachtet wird, muss vor der Verhängung der Sanktion eine Anhörung stattfinden, während der sich ein Alg-II-Beziehender, dem eine Pflichtverletzung vorgeworfen wird, zu diesem Vorwurf äußern kann. Den Begriff "Anhörung" sollte man dabei nicht wörtlich nehmen, eine Anhörung darf auch schriftlich erfolgen.
Für die meisten Sanktionsgründe gilt, dass über die zugrunde liegende Pflicht vorher eine eindeutige und verständliche Aufklärung stattgefunden haben muss, also zum Beispiel bei der Zuweisung einer Maßnahme.
Lange Zitate aus einem unverständlichen Gesetzestext, wie sie zum Beispiel in Eingliederungsvereinbarungen immer wieder anzutreffen sind, reichen dafür nicht.
Außerdem dürfen nur Pflichtverletzungen sanktioniert werden, die tatsächlich begangen wurden - das klingt selbstverständlich, aber hierzu zählen zum Beispiel Sanktionen wegen angeblich unterlassener Bewerbungen oder wegen unterstellten Fehlverhaltens gegenüber einem Maßnahmeträger. Rechtswidrig sind auch Sanktionen, wenn mehr gekürzt wird, als im Gesetz vorgeschrieben ist. So einen Fall hatte ich erst neulich in der Beratung.
Rolle der "Träger"
18) Wenn nur die Verletzung von rechtmäßigen Pflichten sanktioniert werden darf, dann fallen einem sofort die problematischen Arbeitsgelegenheiten ein, die Ein-Euro-Jobs...
Solveig: In der Tat, der Nichtantritt oder der Abbruch von Ein-Euro-"Jobs" dürfte laut Gesetz nur sanktioniert werden, wenn die Maßnahme den gesetzlichen Vorgaben entspricht, d.h. wenn der Ein-Euro-"Job" die Chancen erhöht, eine bezahlte Arbeit zu bekommen, und wenn er tatsächlich zusätzlich und im öffentlichen Interesse ist. Diese Voraussetzungen werden von den meisten Ein-Euro-"Jobs" bekanntermaßen nicht erfüllt, das haben sowohl der Bundesrechnungshof[7] als auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit [8] festgestellt.
Zu den Pflichten der Jobcenter gehört nicht nur, für die Rechtmäßigkeit der vermittelten Ein-Euro-"Jobs" zu sorgen, sondern auch, zumindest darüber aufzuklären, dass nur rechtmäßige Arbeitsgelegenheiten angetreten werden brauchen. Stattdessen wird in den Schreiben der Jobcenter, mit denen Ein-Euro-"Jobs" vorschlagen werden, die oftmals rechtswidrig sind, von vornherein mit Sanktionen gedroht, die dann häufig auch umstandslos verhängt werden.
Kommunikationsprobleme
19) Welche Rolle spielen bei der Sanktionierungspraxis der Jobcenter die "Träger"?
Claudia: Viele Alg2-Bezieher hatten schon mit Trägern [9] zu tun. Die Träger gab es bereits vor den Hartz IV-Reformen, aber inzwischen ist daraus eine richtige Industrie geworden. Die Träger bekommen vom Jobcenter Gelder, vor allem in Form von Kopfpauschalen, nicht etwa nur für die Weiterbildung von Erwerbslosen, wie es früher war, sondern um Alg2-Beziehende anstelle der Jobcenter zu betreuen, um ihre Arbeitsbereitschaft zu überprüfen oder in Ein-Euro-"Jobs" zu vermitteln. Letzteres stellt praktisch ihre Hauptaufgabe dar.
Diese Träger haben ein wesentliches Interesse daran, dass ihre "Fälle" mit möglichst wenig Aufwand abgewickelt werden, nur dann ist es für sie einträglich. Das ist mithin ein Massengeschäft, bei dem der Alg2-Bezieher sehr gut aufpassen muss, dass er nicht unter die Räder kommt. Die Gefahr ist wirklich groß. Es mag sein, dass es Mitarbeiter bei Trägern gibt, die sich im Sinne der Alg2-Beziehenden bemühen, aber letztendlich ist alles sehr stark vom Gewinninteresse der Träger geprägt.
Dazu kommt ein Kommunikationsproblem, weil die Abstimmung zwischen Träger, Job-Center und Alg2-Beziehenden nicht klar geregelt ist und es für Letzteren schwer ist, diese unklaren Strukturen zu durchblicken. Wenn zum Beispiel der Ein-Euro-"Job" nicht beim Maßnahmeträger selbst erfolgt, sondern der Träger in eine andere Einsatzstelle vermittelt, sieht sich der Ein-Euro-Jobber drei verschieden "Arbeitgebern" gegenüber: Dem Maßnahmeträger, der Einsatzstelle und dem Jobcenter. Welche Pflichten bestehen gegenüber wem? Wer ist der wichtigste? Wer ist zum Beispiel im Krankheitsfall derjenige, der die Krankmeldung bekommt? Das ist ja essentiell, um einer Sanktionierung vorzubeugen.
Sehr viele Alg2-Bezieher wissen also nicht, wer welche Pflichten und Rechte hat und wem sie welche Information übermitteln müssten. Dies wäre aber von zentraler Bedeutung, denn wenn bestimmte Informationen übermittelt oder auch nicht übermittelt werden, kann das ziemlich leicht zu Sanktionen gegen jemanden führen, dem unterstellt wird, sich falsch verhalten zu haben. Vielleicht hat aber dieser jemand gute Gründe, die Maßnahme bei einem Träger abzulehnen - sei es, dass die Maßnahme für ihn nicht passend ist oder dass er Zweifel an der Seriosität des Trägers hat. Wenn an dieser Stelle nur den Behauptungen vom Träger geglaubt oder eine Annahme zugunsten des Trägers konstruiert wird - wie es einem der in unserer Broschüre Porträtierten passiert ist -, dann ist das sehr nachteilig für die Alg2-Bezieher.
"Gute Arbeit Konkurrenznachteil"
Solveig: Hier kommt auch der Umstand negativ zum Tragen, dass das primäre Interesse der Träger nicht darin besteht, Alg2-Beziehende zu unterstützen, sondern ohne viel Aufwand an ihre Gelder heranzukommen. Dabei konkurrieren die Träger um die Gelder der Jobcenter. Einige Träger sagen selber - das haben wir auf Veranstaltungen erlebt - das Geschäft wäre ein Haifischbecken und Leute, die versuchen, qualitativ gute Arbeit zu leisten, haben einen schweren Stand.
Wenn Träger gute Sozialarbeit machen, ist das aus zwei Gründen ein Konkurrenznachteil. Zum einen, weil so etwas mit höheren Kosten verbunden ist - dann bleibt zum Beispiel weniger für den Gewinn bzw. das Geschäftsführergehalt übrig. Zum anderen, weil es ein Kriterium für Folgeaufträge ist, dass möglichst viele der Maßnahmeteilnehmer irgendwie aus dem Alg2-Bezug kommen. Dann macht es sich für Träger bezahlt, wenn sie nicht so genau hinschauen, wohin sie die Leute eigentlich vermitteln und wenn sie teilweise einen Druck auf die Betreuten ausüben, der schlimmer ist, als der der Jobcenter.
Im vergangenen Jahr hatte ich zum Beispiel mehrere Male eine Alg2-Bezieherin in der Beratung, die in der Intensivbetreuungsmaßnahme bei einem Träger war und dort dermaßen in die Enge getrieben wurde, dass sie nicht mehr ein noch aus wusste. Dabei stand die Frau noch unter dem Eindruck der Mobbingerfahrungen, die sie vor ihrer Kündigung erlebt und noch nicht aufgearbeitet hatte. Aber statt dass diese Frau bei dem Träger Unterstützung bekommen hätte, wurde sie praktisch retraumatisiert.
Natürlich gibt es auch andere Fälle. Ein anderer Klient, dem es nicht gelungen war, die Zuweisung in eine Maßnahme des selben Typs abzuwehren, hatte das Glück, dass seine Betreuerin die eigene Rolle durchaus kritisch sah. Die beiden haben sich dann eher gegenseitig bei der Suche nach einer guten Arbeit unterstützt - der Klient war selbst Erwachsenenpädagoge.
Claudia: Man hat gehört, dass Träger teilweise schon anstelle des Jobcenters sanktionieren, obwohl das Jobcenter diese Aufgabe nicht aus der Hand geben darf. Manche Träger schicken Berichte über die einzelnen Ein-Euro-Jobber an die Jobcenter wie weiland Erziehungsanstalten an die Eltern - so formulierte es unsere Bündnismitstreiterin, die Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler [10], im Ergebnis ihrer Recherchen. Niemand kontrolliert, wie die Träger die ihnen zugewiesenen Menschen behandeln.
Sparen statt fördern Teil 3 24.09.2009
"Rechtsanspruch auf verständliche Bescheide wird ständig mit Füßen getreten"
20) Sie schreiben, dass es einem Hartz-4-Bezieher fast unmöglich ist, mit seinem Sachbearbeiter nach Verhängung einer Sanktion telefonisch oder kurzfristig direkt Kontakt aufzunehmen. Dabei wäre es doch sinnvoll, wenn hier Kommunikation hergestellt würde ...
Claudia: Das wäre es in der Tat. Aber die Abschottung ist gewollt, zum Beispiel um mit geringer Personaldecke frei von "Störungen" die Aktenberge abarbeiten zu können. Insgesamt gleichen Jobcenter heutzutage eher einer Festung. Zum Beispiel sind überall Security-Leute sehr präsent, also privater Wachschutz. Die Abschottung ist aber nicht in allen Jobcentern gleich rigide. Die ganze Kommunikation der Jobcenter mit ihren "Kunden" zeigt jedoch generell, dass nichts übrig ist von einem Verhältnis Bürger zu seiner Behörde, sondern dass hier obrigkeitsstaatlich verfahren wird: Wenn die Behörde einen vorlädt, kriegt man eine Rechtsfolgenbelehrung mit den Sanktionsandrohungen an die "Einladung" geheftet. Hat man als Hartz-4-Bezieherin den Wunsch nach dringender Klärung, muss man betteln und gegebenenfalls eine lange Wartezeit auf sich nehmen, um überhaupt vorgelassen zu werden.
Solveig: Das stellt keinesfalls in Abrede, dass es auch freundliche Mitarbeiter gibt, wenngleich das Machtgefälle oft deutlich zu spüren ist. Es geht hier um den Kommunikationsstil der Behörde. Dazu gehört auch, wie Textbausteine verwendet werden, zum Beispiel immer wieder solche mit unterstellendem oder anmaßenden Ton.
Typisch ist auch, dass der Rechtsanspruch auf verständliche Bescheide ständig mit Füßen getreten wird. In einigen Berliner Jobcentern sollen jetzt "Bescheiderklärer" eingesetzt werden, immerhin. Angebracht wäre es aber, die Bescheide so zu verfassen - und die genutzte Software entsprechend zu ändern - dass für die meisten Leistungsbeziehenden eine extra Erklärstelle nicht nötig ist.
Ausnahmeregelungen den Jobcenter-Mitarbeitern meist unbekannt
21) Es ist immer wieder zu hören, dass die Jobcenter nicht ausreichend besetzt sind und dass die Mitarbeiter unter hohem Druck stehen. Können Sie dazu etwas sagen?
Solveig: Die Personalsituation in den Jobcentern ist in mehrerlei Hinsicht eine Katastrophe. Zum einen ist es so, dass die Personaldecke keinesfalls ausreicht, die hohen Fallzahlen zu bewältigen. In den Berliner Jobcentern zum Beispiel sind die Mitarbeiter im Durchschnitt für 400 bis über 500 Erwerbslose zuständig, wobei einmal angestrebt wurde, dass ein Bearbeiter maximal 150 und bei den unter 25jährigen maximal 75 Kunden zu betreuen hat. Da fehlt allein schon die Zeit, um gründlich und gesetzeskonform zu arbeiten.
Claudia: Wenn die Zumutbarkeitsregelungen anzuwenden sind, wird dann zum Beispiel nur dem Grundsatz gefolgt, alles sei zumutbar. Das ist, was sich auch bei vielen Jobcenter-Mitarbeitern verkürzt festgesetzt hat. Die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die im Gesetz nur allgemein beschrieben sind und die erst durch die Rechtsprechung ausgeformt werden, bleiben außen vor. So kommt dann eine Eingliederungsvereinbarung zustande, in der eine Erwerbslose gegen ihren Willen zur Fortsetzung der Prostitution verpflichtet wurde. Oder ein Epileptiker soll auf einem Baugerüst arbeiten, oder die Einschränkungen eines schwer Herzkranken werden nicht beachtet. Dies alles sind Beispiele aus unserer Befragung.
"Die Weiterbildung ist katastrophal"
22) Da ist die Frage naheliegend: Wie steht es denn um die Qualifkation der Jobcenter-Mitarbeiter?
Solveig: Zum einen arbeiten im Jobcenter viele Leute, die gar nicht die nötige Grundausbildung dafür haben. Mit Hartz IV kamen ja zu den Sozialamts- und Arbeitsamtsfachleuten etliche Fachfremde, zum Beispiel aus dem Überhang der Telekom und der Bahn oder von woanders her. Was die Ausbildung von diesen Quereinsteigern betrifft, ist es so, dass sie nach ein paar Tagen Schulung Erwerbslose betreuen sollen, und das bei dieser komplizierten sozialrechtlichen Materie!
Auch die Weiterbildungssituation ist katastrophal. Das wissen wir auch aus Gesprächen mit Jobcenter-Mitarbeitern, mit denen wir uns seit einiger Zeit austauschen. Es gibt ja immer wieder Gesetzesänderungen, wobei die Regelungen umfangreich und komplex sind. Trotzdem bekommen die Mitarbeiter höchstens eine kurze Weiterbildung. Obendrein muss während der Weiterbildungen zum Teil parallel die laufende Arbeit erledigt werden. Das passiert dann in der Mittagspause oder die Leute werden zwischendurch aus der Schulung an ihren Schreibtisch gerufen - die Schulungen werden ja meist im Jobcenter selbst durchgeführt.
Dies alles, so wurde uns von Mitarbeitern der Jobcenter und von Personalräten berichtet, ist der Regelfall, nicht die Ausnahme. Unter diesen Umständen braucht man sich überhaupt nicht wundern, wenn etliche Mitarbeiter nicht einmal ein sozialrechtliches Grundwissen haben, geschweige denn die vielen Detailregelungen kennen. Die vielen Durchführungsanweisungen der BA sind den Mitarbeitern weitgehend unbekannt, weil sie keine Zeit haben, diese zu lesen.
23) Im Bereich Sanktionen ist das Ergebnis davon ein hoher Anteil an rechtswidrigen, zum Teil willkürlichen Sanktionsentscheidungen, bei denen die gesetzlichen Schutzvorschriften nicht beachtet werden, beispielsweise wenn die Anhörungen nicht durchgeführt werden, die zur Aufklärung von Sachverhalten vorgeschrieben sind.
Claudia: Zum Stichwort Willkür muss man sich auch vor Augen halten, dass Hartz-4-Sanktionen nicht von ausgebildeten Richtern verhängt werden, wie es sonst bei Strafen üblich ist, sondern von Sachbearbeitern im Jobcenter - von wohlmeinenden und autoritären, von Beschäftigten mit Aufstiegswünschen und befristet Beschäftigten mit Angst vor Jobverlust - viele, wie gesagt, nur mit einem Crashkurs im Sozialrecht ausgestattet.
Rigide Sparvorgaben
24) Sie schreiben ja in Ihrer Broschüre, es gäbe permanenten Druck auf die Beschäftigten im Jobcenter, die mit ihrem Team, mit ihrem Jobcenter im permanenten Statistikvergleich bestehen müssen ...
Claudia: Ja, genau. Wenn man die Situation der Jobcenter-Mitarbeiter betrachtet, fällt auf, dass es für sie einen grundsätzlichen Konflikt gibt: Einerseits sind sie dazu verpflichtet - und den meisten ist es ein Anliegen - die Kunden gut zu beraten, andererseits gibt es rigide Sparvorgaben, die von den Mitarbeitern umgesetzt werden müssen. Wenn sich Mitarbeiter an diese Vorgaben halten, können sie ihren Pflichten gegenüber den Kunden nicht nachkommen.
Was wir aus Gewerkschaftskreisen von den Jobcentern wissen, ist, dass für jeden Mitarbeiter, jedes Team und jedes Jobcenter ein umfangreiches Bewertungssystem existiert, mit dem Rangplätze ermittelt werden. Vor diesem Hintergrund müssen die einzelnen Teams nicht nur eine gewisse Falldichte abarbeiten, sondern auch das Erreichen der Sparvorgaben ist von Belang.
Es gibt von Seiten der Bundesagentur für Arbeit Vereinbarungen mit jedem Jobcenter, wie viel der sogenannten "passiven Leistungen", also die Mittel für den Lebensunterhalt, im jeweiligen Kalenderjahr einzusparen sind.
Für das Abschwungjahr 2009 wurde das "ehrgeizige" Ziel gesetzt, die Existenz sichernden Leistungen um drei Prozent zu senken und die Vermittlungsquote in den erwartbar enger werdenden Arbeitsmarkt zu erhöhen. Bereits 2008 mussten die Leistungen um 6,5 Prozent gesenkt werden.
Solveig: Zum "Wettbewerb" in den Jobcenter-Teams wurde uns auch berichtet, dass Mitarbeiter, wenn sie zum Beispiel weniger sanktionieren als ihre Kollegen, dazu von ihren Vorgesetzen angesprochen werden und sich rechtfertigen müssen.
25) Nun gibt es in den Jobcentern zahlreiche befristet Beschäftigte. Vermutlich stehen sie besonders unter Druck ...
Claudia: Natürlich, denn nur wenn sie in dem fragwürdigen Bewertungssystem "gute" Leistungen nachweisen, können sie auf eine Vertragsverlängerung oder einen unbefristeten Vertrag hoffen. Während alte und erfahrene Mitarbeiter, die kurz vor der Rente stehen, sich schon einmal weigern, zu sanktionieren, existiert für die befristeten Mitarbeiter immer die Gefahr, bei Nichteinhaltung der Vorgaben auf der anderen Seite des Hartz-4-Tresens zu landen.
"Hinauszögern, Verweigern, Sanktionieren"
26) Kommen wir noch mal auf die Sparvorgaben zurück. Wie werden diese denn umgesetzt?
Claudia: Man kann die Leistungen für den Lebensunterhalt senken, indem Leute aus dem Alg-2-Bezug kommen, also wieder ausreichend bezahlte Arbeit finden, was aber - vor allem in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise - eher einen seltenen Ausnahmefall darstellt. Wie man sich vor allem für dieses Jahr vorstellen kann, ist der Arbeitsmarkt nicht besonders aufnahmefähig. Wenn also dieser Weg, Gelder zu sparen, entfällt, gibt es nicht viele Möglichkeiten. Wie ein Jobcenter-Personalrat bei einer Veranstaltung in aller Klarheit sagte, bleiben dann nur noch die Optionen "Hinauszögern, Verweigern, Sanktionieren".
Hinauszögern bedeutet, einen Antrag möglichst lange nicht zu bearbeiten. Verweigern bedeutet, Gründe zu (er)finden, dass die Voraussetzungen für eine Leistungserteilung nicht bestehen. Und was Sanktionieren bedeutet, darüber reden wir ja die ganze Zeit. Hier kollidiert ganz eindeutig die gesetzliche Pflicht zur Beratung und Leistungsgewährung mit der Auflage, Geld zu sparen.
27) Wie wir bereits erfahren haben, ist eine Vielzahl von Sanktionen von den Job-Centern widerrechtlich verhängt worden. Werden diese Job-Center nun ihrerseits sanktioniert?
Solveig: Die Job-Center werden von niemandem belangt. Dieses Ausmaß von rechtswidrigen Entscheidungen könnte sich wahrscheinlich keine andere Behörde in Deutschland leisten. Die verlorenen Prozesse haben für die Jobcenter nur die Pflicht zur Nachzahlung der vorenthaltenen Gelder zur Folge, nicht einmal Gerichtskosten müssen sie tragen. Außerdem landet nur ein Bruchteil der Entscheidungen der Jobcenter überhaupt vor Gericht. Uns ist auch nicht daran gelegen, dass "die andere Seite" nun ihrerseits bestraft wird. Wir wollen aber, dass dieser ganze Sanktionswahnsinn in den Jobcentern aufhört, und dass die Ursachen dafür angegangen werden.
28) Wie sieht denn die Personalplanung bei den Jobcentern für die Zukunft aus? Ist da Besserung in Sicht?
Solveig: Die Bundesagentur für Arbeit hat eine Aufstockung des Personals in den Jobcentern geplant, die vorgesehene Stellenanzahl reicht aber nicht annähernd aus. Außerdem bleibt das Problem der oft unzureichenden Aus- und Weiterbildung. Mit Blick auf die Berliner Jobcenter wurde das Qualifizierungsproblem vom Geschäftsführer Grundsicherung der Regionaldirektion der BA, Dr. Regg, bei einer Stellungnahme im Berliner Abgeordnetenhaus derart heruntergespielt, dass von dieser Seite eine ernsthafte Lösung des Problems nicht zu erwarten ist.
"Abschaffungsforderungen verlangen immer auch Alternativen"
29) Warum fordern Sie nur ein Moratorium, ein Aussetzen der Sanktionen, und nicht gleich konsequent die Abschaffung des Sanktionsparagrafen im Sozialgesetzbuch II?
Solveig: Weil uns sehr daran liegt, dass sich tatsächlich etwas ändert, und zwar bald! Wenn es überhaupt die Chance geben sollte, die Sanktionspraxis zu stoppen, dann auf der Basis eines breiten Bündnisses über unterschiedliche Weltanschauungen und Parteigrenzen hinweg. Eines Bündnisses, das auch den vielen Menschen Raum gibt, die Sanktionen bei bestimmten Verstößen und in gewissem Maße für gerechtfertigt und notwendig halten - mit denen wir und andere Sanktionsgegner uns aber darin einig sind, dass angesichts der gegenwärtigen Zustände in den Jobcentern der Vollzug von Sanktionen sofort gestoppt werden muss.
Wir sehen, dass es derzeit für viele unserer jetzigen und potentiellen Verbündeten eine große Hürde ist, sich eine sanktionsfreie Arbeits- und Sozialpolitik als funktionierend vorzustellen. Wir nehmen deren Bedenken ernst und freuen uns darüber, dass sie mit uns ein Wegstück gemeinsam gehen. Wenn ein Sanktionsmoratorium gelingt, wäre das ein großer Erfolg, und zwar unabhängig davon, ob der Weg in Richtung Abschaffung von Sanktionen danach weitergegangen werden kann oder nicht. Während eines Sanktionsmoratoriums könnte man auch herausfinden, was in einer Zeit ohne unmittelbare Sanktionsdrohungen tatsächlich geschieht.
"Was haben wir von einer starken Minderheit?"
Claudia: Eine Abschaffungsforderung verlangt immer auch Alternativen für das Abgeschaffte. Eine Minderheit - sozialpolitisch Engagierte, sozial besonders Interessierte und Berufspolitiker - hat ganz klare Vorstellungen über eine Sozialpolitik nach Hartz 4. Viele Menschen, vielleicht die Mehrheit in der Bevölkerung, haben ein gewisses Unbehagen gegenüber Hartz IV, wissen aber nicht, welche Alternativen praktikabel und mehrheitsfähig wären, wenn sie denn gefragt würden. Wir stellen fest, Hartz IV und speziell das Thema Sanktionen ist eine Black Box:
Was in den ARGEN und Jobcentern passiert, wird im ganzen Ausmaß in der Bevölkerung nicht wahrgenommen. Erst, wenn das mehr bekannt ist, können wir darüber reden, ob das die einzig mögliche Antwort auf die Globalisierung ist: Billigjobs, Arbeitszwang und Schikanen gegen Erwerbslose.
Ein Moratorium würde allen Zeit geben, zu diskutieren und breit zu überlegen. Genau das Gegenteil der überstürzten Einführung von Hartz IV, ersonnen von einer kleinen Elitetruppe, der Hartzkommission. Ein Bündnis, in dem sich die gesamte gesellschaftliche Linke wiederfindet, bildet potentiell die Mehrheit in Deutschland ab. In allen großen Parteien - in der Partei der "Nichtwähler", bei DIE LINKE, bei den Bündnisgrünen, in der SPD, und auch bei sozial eingestellten Christdemokraten und Liberalen (bei letzteren allerdings noch sehr spärlich) - überall finden wir Menschen, mit denen es diesen Minimalkonsens des Moratoriums gibt, der da lautet: Wir wollen, dass keinen Tag länger so mit Erwerbslosen umgegangen wird. Und wir wollen uns über unterschiedliche Ideologien und Menschenbilder hinweg austauschen, was sich unsere Gesellschaft gegenwärtig für eine Sozialpolitik wünscht und zutraut.
Denn was haben wir von einer starken Minderheit, die sagt, Sanktionen müssen gänzlich weg, und zwar sofort? Leute, die das fordern und es damit gut sein lassen, ohne Kommunikation mit Vertreterinnen weniger radikaler Positionen zu suchen, sind mit sich im Reinen, weil sie ihre Forderung nicht verwässert haben. Aber hilft das irgendwie im Alltag der Hartz-4-Bezieher? Nimmt das irgendwo den Druck, gibt es dadurch auch nur einen einzigen Sanktionierten weniger? Sind wir damit der Realisierung unserer Vorstellungen einen einzigen Schritt näher gekommen?
30) Haben Sie abschließend noch einen Tipp für Sanktionierte?
Solveig: Wer keine finanziellen Reserven hat und dringend auf die Auszahlung des Geldes vom Jobcenter angewiesen ist, muss mit dem Gang zum Sozialgericht nicht warten, bis das Jobcenter den Widerspruch beantwortet hat. Man kann beim Sozialgericht sofort einen Antrag auf Eilrechtsschutz stellen und sollte diese Möglichkeit nutzen.
Viele wissen nicht, wie das geht, das ist aber auch ohne Anwalt zu schaffen. Man geht beim Sozialgericht in die Rechtsantragstelle und nimmt dorthin seinen Personalausweis, einen aktuellen Kontoauszug, den Sanktionsbescheid und den aktuellen Bewilligungsbescheid mit. Am sichersten ist es, man hat seine gesamte Korrespondenz mit dem Jobcenter - möglichst in geordneter Form - dabei.
Die Mitarbeiter der Rechtsantragstelle formulieren dann die Klage und den Antrag auf Eilrechtsschutz. Leider muss man nicht nur die Fahrtkosten zum Sozialgericht aufbringen, auch die beim Gericht einzureichenden Kopien sind selbst zu bezahlen. Wer eine günstigere Kopiermöglichkeit hat als den Münzkopierer im Sozialgericht, sollte diese nutzen.
Noch ein Tipp zuallerletzt: Man hat das Recht, einen Beistand mit ins Jobcenter zu nehmen. Das kann jede Person sein, die sich vernünftig benimmt.
Ende
Verweise Teil 1 Artikel heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html
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[2] heise.de/tp/artikel/31/31163/1.html
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