Ab ins 

Obdachlosen-Wohnheim

Interview mit Brigitte Vallenthin aus Wiesbaden über ihre Erfahrungen mit Hartz 4

Reinhard Jellen,19.02.2011

<Ich bin dann mal Hartz IV>
2010, 130 Seiten
Vorwort von Helga Spindler 

Web:

Verlag Buch  Amazon Buch

hartz4-plattform.de  Wiesbaden

heise.de  URL  

nrhz.de  Brigitte Vallentin  

detopia:   Hartzseite

Interview Claudia Daseking Berlin 

Interview Helga Spindler 2012 

 

1) Frau Vallenthin, Sie beschreiben in Ihrem Buch Ihr Leben mit Hartz 4 - und dies sind keine schönen Schilderungen: wenig Geld, Gängelung und Erniedrigung durch die Ämter. Was war oder ist für Sie das Schlimmste an Hartz 4 ?

Es ist nicht die gesetzlich verordnete Armut - auch wenn die alleine schon unmenschlich und ein bis zur Körperverletzung reichendes Gesundheitsrisiko ist. Das Schlimmste sind die willkürlich verursachten Qualen durch Demütigung, Schikane, Entrechtung und Kriminalisierung in den Hartz-4-Amtsstuben.

Und dass Hartz 4 einem die Lebenszeit stiehlt, weil man Tag für Tag nur noch mit Verwaltungspost, Sozialrechts-Klagen und der Einhaltung der damit verbundenen Fristen beschäftigt ist. Da bleibt nicht viel Leben übrig.

Es handelt sich dabei aber keineswegs um die gebetsmühlenartig vorgetragenen "Fehler" in der Verwaltung. Nein, diese Folgen sind beabsichtigtes Ziel des in den Ideenschmieden von Roland Berger, McKinsey und anderen in der "Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" erdachten Ausgrenzungs-Gesetzes, das die Verwaltungen anweisungsgemäß umsetzen.

 

2) Die Sozialgerichte wurden im vergangenen Jahr mit Klagen gegen Hartz-4-Bescheide förmlich überrannt, jede zweite war erfolgreich. Auch Sie haben mehrfach geklagt. Worum ging es - und haben die Richter Ihnen Recht gegeben?

Bei mir ging und geht es weiterhin auch um diejenigen Klagegründe, die den Löwenanteil der seit Jahren anwachsenden Klageflut ausmachen. Das waren monatelange Leistungs-Verweigerung, verfassungsrechtlich unzulässige so genannte Hausbesuche, die "Angemessenheit" von Wohnungsgröße und Miethöhe, die gesetzlich vorgeschriebene Übernahme der "tatsächlichen" Heizkosten, der Umzugskosten bei Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung sowie die Verhinderung von Obdachlosigkeit.

Aber es ging und geht weiterhin auch um sich unangemessen und unerträglich aufblähende Probleme wie etwa ein paar Euro rauf oder runter für Warmwasser-Kosten-Abzug oder die seit vielen Jahren immer wieder die Sozialgerichte belastende Frage meiner Entmündigung.

Zum Beispiel die Untersagung der Energiekostenabbuchung durch meinen Energieversorger und der Zahlung durch das Amt. Gerade letzteres mag unter normalen Lebensumständen und für Bürger, die frei von Behördeneinmischung ins Privatleben sind, wie Peanuts erscheinen. Aber es wird alle Jahre wieder bei der Jahresabschlussrechnung für Heizung und Strom zu einem unlösbaren Problem.  

Zwar zieht das Amt mir regelmäßig monatlich den Stromkostenabschlag vom Regelsatz ab. Die Zahlungen an meinen Vertragspartner aber erfüllt es nach Belieben, unregelmäßig und unvollständig. Das kostet mich und den Energieversorger nicht nur regelmäßig sehr viel Zeit, um da halbwegs Klarheit rein zu bringen - denn das Amt ist weder bereit noch offensichtlich in der Lage, exakte Nachweise über seine Zahlungen zu erbringen. Über die Jahre führt das nun schon beim zweiten Energieversorger zu massiver Rufschädigung gegen mich wegen "meiner" angeblich schlechten Zahlungsmoral. Im Kunden-Ranking bin ich wegen dieser schikanösen Verwaltungspraxis längst ganz unten angekommen und werde auch entsprechend behandelt.

Dasselbe ist mir - wegen hinausgezögerter Zahlung des Beitrages durch die Verwaltung - auch mit meiner Hausratversicherung passiert: wenn ich da mal die Hilfe der Hotline benötige und die meine Daten aufrufen, ist Schluss mit Lustig. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was im Schadensfalle passieren würde. Recht habe ich in den meisten Fällen bekommen - allerdings häufig erst nach mühsamem Rechtsweg bis in die zweite Instanz beim Landessozialgericht Darmstadt.

Das hat mir auch schon frühzeitig einen für alle Betroffenen weitreichenden Erfolg beschert: Es hat die schikanösen "Hausbesuche" für sozial- und verfassungsrechtlich unzulässig erklärt. An diesem viel beachteten Urteil vom Januar 2006 war übrigens Landessozialrichter Dr. Jürgen Borchert beteiligt, der jetzt auch für die Prüfung der Regelsätze beim Bundesverfassungsgericht gesorgt hat.

 

   "Bereits förmlich bewilligte Leistungen werden nicht gezahlt"  

3) Was halten Sie von Plänen der Regierung, wegen der Vielzahl der Klagen von den Harz-4-Beziehern nun Gerichtsgebühren zu verlangen?

Das ist einerseits ein unglaublich dreister Versuch, die Hartz-4-, also SGB-II-Berechtigten - ebenso wie die Rentner und arbeitsunfähig Erkrankten im SGB-XII-Bezug jeglicher Möglichkeit zu berauben, wenigstens vor den Sozialgerichten noch ihre Rechte erkämpfen zu können, die ihnen die Verwaltung systematisch vorenthält.

Gleichzeitig ist es aber die logische Konsequenz der eigentlichen Ziele eines mehr als 300-seitigen so genannten Arbeitsmarktreform-Werkes namens Agenda 2010 , das Ex-VW-Vorstand Peter Hartz bei einer pompösen Inszenierung im Französischen Dom zu Berlin an Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder - auf eine kleine blaue CD-Rom gepresst - medienwirksam übergeben hat.

Damals wie heute hatte Hartz etwas mit Wahlkampf zu tun - damals im Dienste der rot-grünen Bundesregierung. Die Auswirkungen dieses Rundumschlages gegen soziale Gerechtigkeit - von Hartz mit dem giftigen Versprechen "Ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland" angekündigt - haben seit dem 1. Januar 2005 eine wachsende Anzahl von einzelnen Menschen und ganzen Familien ruiniert.

   "Prozessflut wäre einfach einzudämmen"  

Dabei könnte man - wenn tatsächlich der Gesetzgeber guten Willens gegenüber seinen Bürgern wäre - die Hartz IV-Prozessflut, die man mit nicht aus dem Regelsatz finanzierbaren Gerichtsgebühren verhindern möchte, doch ganz einfach eindämmen, nämlich so: Die Jobcenter müssen - wie alle anderen Sozialleistungserbringer, beispielsweise Renten- und Krankenkassen auch - die pauschale Gerichtsgebühr von 150 Euro tragen.

Denn nur wegen der Befreiung der Hartz-4-Ämter von dieser Gerichtsgebührenpflicht können die Sachbearbeiter einem immer wieder frech ins Gesicht sagen: "Ist mir egal, ob Sie meinen Bescheid in Ordnung finden oder nicht - gehen sie doch zum Sozialgericht - das ist mir egal." Müssten sie Verantwortung für ihre systematisch rechtswidrigen Leistungsverweigerungen tragen und hätten sie pro Klage die 150 € zu zahlen, so wären bei ca. 200.000 Klagen schon jetzt seit 2005 von ihnen rund 30 Millionen zu berappen gewesen.

Diese Planspiele, die Gerichtskosten denen weiterhin zu erlassen, die sie verursachen, und denen anzuhängen, die sie weder verursachen noch überhaupt bezahlen können, prangerte Anfang dieses Jahres auch die Berliner Sozialgerichtspräsidentin, Sabine Schudoma, an. Sie hält das für "völlig unverständlich" und stellt fest: "Der freie Zugang zur Justiz ist wichtiger denn je."

 

4) Sie hatten ja nicht nur Probleme damit, bestimmte Leistungen bewilligt zu bekommen. Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, wurden zudem bewilligte Leistungen zum Teil nicht zuverlässig erbracht. Welche, und was waren die Folgen? Wissen Sie, ob so etwas häufiger passiert - Sie sind ja Sprecherin der Wiesbadener Hartz-IV-Plattform.

Das selbst bereits förmlich bewilligte Leistungen - wie oben berichtet - nicht zuverlässig gezahlt werden, ist absolut keine Ausnahme. Es ist tagtägliche Erfahrung mit den Ämtern. Wir stellen das immer wieder fest bei unserer Arbeit in der Bürgerinitiative Hartz-IV-Plattform, die Betroffenen aus allen Teilen der Republik bei ihren individuellen Problemen mit Behörden und Gerichten zur Seite steht.

Allzu häufig kapitulieren die Leute leider auch, weil sie an den völlig unverständlichen und intransparenten Bescheiden und Berechnungsbögen - von nicht selten 10, 15 Seiten und mehr Umfang - und an davon abweichenden Zahlungseingängen, Rechtsfolgenbelehrungen und Fristsetzungen, mit denen sie in der Form und in diesem Ausmaß nie zuvor in ihrem Leben zu tun hatten, zermürben und schließlich verzweifeln.

Die Sisyphusarbeit, dies alles im Kampf mit den unwilligen Behörden zu entwirren, halten nur wenige durch.

Deshalb zeigt auch die Klageflut nur die Spitze des Eisbergs der - beschönigend "fehlerhaft" genannten - massenhaften Leistungs-, Änderungs- und Widerspruchs-Bescheide.

Dieser Papierkrieg übertrifft an Arbeit die Erstellung einer Steuererklärung um ein Vielfaches.

 

5) Was eine angemessene Wohnung für einen Hartz-4-Empfänger ist, ist im Gesetz selbst nicht definiert. Was sind die Folgen für Hartz IV-Bezieher? Wie Sie schreiben, wurde bei Ihnen sogar ein Obdachlosenwohnheim als angemessen erachtet...

Ich kenne zwar die Häufigkeit der Klagen nicht, vermute aber mal, dass die so genannte "Angemessenheit" der Wohnung bei den Sozialgerichten ganz oben stehen dürfte. Sie ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass selbst höchstrichterliche Rechtsprechung den Behörden völlig egal ist. Denn die - meines Erachtens logische - Eingrenzung der Gesetzes-Formulierung "angemessen", hat das Bundessozialgericht seit 2005 gleich mehrfach vorgenommen und auf die Pflicht zur Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten anhand des Wohnungsspiegels sowie des verfügbaren Wohnungsangebots verwiesen.

Seitdem sind die Bundessozialrichter auch nicht müde geworden, in immer neuen Urteilen zu wiederholen, dass Wohnkosten-Pauschalierungen nicht rechtmäßig und realitätsgerecht sind. Das alles passt aber nicht in das Sparkonzept der Regierung an den Ärmsten im Lande. Also geht sie her und ändert mal einfach das Gesetz - übrigens nicht zum ersten mal bei Hartz 4 - statt die Erfahrungen der Sozialrichter aus zigtausenden von Schicksalen ernst zu nehmen. So hat sie unter anderem kurzerhand in der neuen - noch im Vermittlungsausschuss befindlichen - Hartz-4-Gesetzesnovelle den Sozialgerichten eine Wohnraumpauschalierung angeordnet. Und sie setzt auch gleich noch eine zusätzliche Einschränkung oben drauf, nämlich die Heizkosten-Pauschale.

So schlägt Ministerin von der Leyen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe, um zukünftig dem Finanzminister unliebsame, weil nicht ausreichend kostensparende Richtersprüche zu ersparen. Alleine durch diesen Teil der Gesetzesänderung - die übrigens gänzlich vom Auftrag der Verfassungsrichter abweicht - wird es vermutlich einer bedrohlich wachsenden Zahl von Hartz-4-Antragstellern ergehen wie mir: Verfügbare Wohnungen werden nicht genehmigt, man wird auf die Straße gesetzt - und, wenn nicht Freunde wie in meinem Falle schließlich überbrückend helfen, geht es ab ins Obdachlosenwohnheim. Denn das hält die Politik für "zumutbar".

 

   "Menschenwürdiges Existenzminimum"   

6) Regierung und Opposition verhandeln derzeit über Änderungen bei Hartz 4. Unter anderem geht es um eine Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro oder auch ein bisschen mehr. Sie selber haben ebenfalls einen Regelsatz errechnet, den Sie für menschenwürdig erachten. Er weicht von den aktuellen Überlegungen deutlich ab. Wie hoch ist er? Wie kommen Sie zu Ihrem Satz? Ist die Einbeziehung von Dingen wie einem Adventskranz nicht vielleicht doch zu viel verlangt?

Fangen wir mit ihrer Frage nach dem Adventskranz an: Nein der Adventskranz ist keineswegs zu viel verlangt, wenn wir nicht vollständig unsere Wurzeln des christlichen Abendlandes kappen wollen. Und ebenso sind Weihnachten, Ostern, Familienfeste, mindestens aber Geburtstage ein Muss. Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet die Parteien mit dem christlichen "C" im Namen diese Ursprünge unseres Kulturraumes für verzichtbar erklären. Waren es doch gerade sie, die diesen konservativ-bürgerlichen Werten nach der Hitler-Diktatur seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eine besondere Renaissance bescherten.

Und wenn wir auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schauen, so steht darin doch ausdrücklich, dass es bei dem am 9. Februar erklärten Grundrecht auf ein "menschen­würdiges Existenzminimum", was der Regelsatz zu gewährleisten habe, nicht nur ums nackte Überleben geht sondern vielmehr um die Zusicherung der "materiellen Voraussetzungen, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind." Die Bundesverfassungsrichter erklären dieses Grundrecht für "unverfügbar" und stellen fest: es "muss eingelöst werden".

Wenn wir nun die Karlsruher Richter beim Wort nehmen, so müsste als erstes das so genannte "Bildungspaket" fallen, das ja in Wahrheit nur eine steuer- und finanz­taktische Ausgliederung aus dem Kinderregelsatz ist. Dies verstößt eindeutig gegen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, wonach die "materiellen Voraussetzungen" für "jeden Hilfebedürftigen" zugesichert werden müssen - also muss den Menschen auch der Bildungsanteil des Regelsatzes in Form von Geld frei und individuell und nicht als staatlich verordnete Massenangebote verfügbar sein.

  "Warenkorb-Methode"  

Eine Stellungnahme zu dem weiteren Schmierentheater um das neue Hartz IV-Gesetz - um 5, 8, 11, 17 oder wieviel Euro-Almosen - erspare ich mir an dieser Stelle. Das ist einfach nur noch schäbig. Es ist Hohn und Spott gegenüber Millionen Menschen, die sich das einfach nicht mehr gefallen lassen sollten. Wir werden deshalb mit der Hartz-IV-Plattform auch unmittelbar nach der Verabschiedung der in zahlreichen Punkten verfassungswidrigen Gesetzesnovelle mit Unterstützung eines Anwalts klagen, um den Verfassungsrichtern in Karlsruhe erneut Gelegenheit zu geben, die Politik in ihre Schranken zu weisen und deren "Hausaufgaben" endlich präziser zu formulieren.

Ich empfinde es als erschreckenden und entlarvenden Zynismus, wenn sowohl die Bundeskanzlerin als auch die Sozialministerin die (wie sie selbst zugegeben) knappe Bemessung des Regelsatzes mit dem ausdrücklichen Ziel des Arbeitsanreizes begründen und als Mittel für eine Übergangszeit darstellen. Erstens: wo keine Arbeit ist, finden die Menschen auch keine Arbeit. Zweitens haben sie auch in dieser Zeit ein Grundrecht auf Menschenwürde. Und drittens bürdet man diese Unwürde schließlich auch allen Menschen im SGB-XII-Bezug auf, die nicht oder nicht mehr arbeiten können - beispielsweise langfristig und dauerhaft krankheitsbedingt Arbeitsunfähigen und Rentnern.

Nun zu meiner Regelsatz-Bedarfs-Forderung von 674,23 €, also 329,23 € mehr gegenüber dem Regelsatz von 345 €. Der galt, als ich diese Zahlen mit detaillierten Nachweisen 2007 im Rahmen meiner Regelsatzklage dem Sozialgericht vorlegte. Mit dieser Klage habe ich seinerzeit auch das Statistik-Modell der Einkommens- und Verbrauchs-Stichprobe (EVS) angefochten, das - wie aktuell täglich deutlicher wird - politisch gewünschten Manipulationen Tür und Tor öffnet.

Außerdem geht es von falschen Voraussetzungen aus. Es berücksichtigt nämlich nur die "Ausgaben" - und zwar diejenigen von Menschen, die viel zu wenig zum Leben haben. Dass die weniger ausgeben können, als man zum "menschenwürdigen Existenzminimum", also dem gesetzlich zu definierenden Regelsatz-"Bedarf" braucht, liegt auf der Hand. Die Statistik ermittelt aber nicht, was sie sich von dem, was sie eigentlich benötigten, nicht leisten können. Mein Ansatz war deshalb - in Anlehnung an die frühere Warenkorb-Methode -, empirisch zu ermitteln, was der Mensch tatsächlich zum Leben braucht.

Ich habe also für die einzelnen Gruppen des Regelsatzes - Ernährung, Kleidung, Hygiene, Hausrat, Mobilität, Kommunikation etc. - eine Warenkorb-Aufstellung für das Nötigste vorgenommen. Das ging beispielsweise bei Ernährung so weit, dass ich nach den Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung einen Tagesbedarf zusammengestellt habe. Den habe ich grammgenau auf jede Brot- Wurst- und Käsescheibe herunter kalkuliert, auf den Monat umgerechnet und bin dann bei den billigsten Discountern einkaufen gegangen. Und so habe ich auch für alle anderen Regelsatz-Gruppen die kostengünstigsten Quellen gesucht. Im Buch kann man das mit ausführlichem Tabellen-Material nachvollziehen.

   "Das Ministerium rückt die Zahlen nicht raus"  

Mit dieser Größenordnung um die 600 € bin ich ja auch keineswegs alleine. Der Juraprofessor Matthias Fromann von der FH Frankfurt kam bereits 2004 auf 627 €. Und Rüdiger Böker, Mitglied des Deutschen Sozialgerichtstages, rechnete transparent mit den aktuellen EVS-Zahlen und kam im Unterschied zur Bundesregierung auf 594 € - bei unvollständigem Datenmaterial, weil das Ministerium von der Leyen mauert und die nötigen Zahlen nicht rausrückt. Man darf vermuten, dass der Regelsatz am Ende noch höher wäre.

 

7) Ist Ihrer Ansicht nach Hartz IV ein übereilt beschlossenes Gesetz, das nun handwerklich massiv ausgebessert werden muss oder wurde es mit Absicht so schlampig ausgearbeitet, damit man in der rechtlichen Grauzone Langzeitarbeitslose besser drangsalieren kann?

Da kann ich - wie aus dem bereits Gesagte hervor geht - kurz und knapp mit der Einschätzung von Helga Spindler antworten, die das Vorwort zu meinem Buch geschrieben hat. Sie ist Professorin für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Universität Duisburg-Essen am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, langjährige Expertin für Sozialhilferecht und Kritikerin sowohl der Regeln und Verfahren, die mit der Hartz-Gesetzgebung eingeführt wurden als auch des Menschenbildes, das hinter dieser Reform steht. Sie schreibt: "Hartz IV ist im Sinne der Erfinder, aber nicht im Sinne der Gesellschaft."

Das heißt: für die, die sich das Gesetz ausgedacht haben, ist der Zweck des Unter-Druck-Setzens und der Ausgrenzung erreicht und soll so weiter erhalten bleiben bzw. verschärft werden.

Für den sozialen Frieden in unserem Gemeinwesen aber und nicht zuletzt die Kreativität der Menschen gehört das Gesetz nach meiner Meinung komplett auf den Müll.

Es ist kein Geheimnis, das ich stattdessen ohne wenn und aber hinter den Ideen den Bedingungslosen Grundeinkommens stehe - auch da keineswegs alleine, denn immer mehr Menschen schließen sich dem an, in jüngster Zeit besonders überzeugend Jakob Augstein, der Chefredakteur und Herausgeber des Freitag.

#

 

Ende

 

 

Vorwort von Helga Spindler zum Buch <Ich bin dann mal Hartz IV> von Brigitte Vallenthin

 

Brigitte Vallenthin ist ausgerechnet zu Beginn der Hartz-Gesetzgebung und offenbar ohne Vorerfahrung mit Sozialverwaltungen in diese neue Form der Armenbetreuung gerutscht – mit 64 Jahren, nach einem bewegten Leben, eigenverantwortlich, selbstbestimmt, unabhängig und wohl auch widerständig. Weihnachten 2005, das war ihr Schlüsselerlebnis, das sie nicht mehr losgelassen hat.

Was sie hier an Erfahrungen zu Papier bringt, ist schwere Kost, trotz der ansprechenden Aufmachung. Überall schimmert die tiefe Erschütterung ihres Vertrauens in eine Hilfeverwaltung durch, die keinerlei Sicherheiten und Verlässlichkeit im Umgang und bei ihren Entscheidungen mehr bietet; die Erschütterung ihres Vertrauens in Rechtsstaatlichkeit und Gerichte, mit denen sie zu oft zu tun hat und an denen sie letztlich doch verzweifelt.

Unbestritten, sie nervt ihre wechselnden Sachbearbeiter Knödel, Krempel und wie sie alle heißen. Sie reagiert impulsiv, wo sie demütig und zurückhaltend sein sollte, wo sie das wohl übliche Procedere der Sozialverwaltung passiv über sich ergehen lassen sollte. Sie will alles überprüft und korrigiert haben, empfindet die Ermittlungen im Verwaltungsverfahren nur als Zumutung, auch da, wo Nachfragen und Anforderungen durch den Gesetzgeber erzwungen sind. Man/frau würde aus sicherer Distanz und mit juristischer Vorbildung in manchen Situationen anders reagieren. Aber wo kann sie auch eine qualifizierte Unterstützung finden, zu der sie Vertrauen entwickeln könnte?

Es wäre falsch, das Buch als »Betroffenenliteratur« beiseite zu legen. Denn die Autorin schildert subjektiv, ehrlich und nachvollziehbar, mit welcher Wucht das System auf Bürger trifft, die keine Sozialhilfesozialisation haben, die sie schon abgestumpft und ihnen den nötigen Pragmatismus antrainiert hat. Ihre Sensibilität ist berechtigt. Die Erlebnisse im ersten Kapitel sind der Schlüssel, um alle weiteren Entwicklungen nachempfinden zu können bis in die letzten Wendungen in diversen Rechtsstreiten, z.B. der Wirkung einer Wegfallsperre bei einer Rentenzahlung.

Sie hat sich die meisten Konflikte nicht ausgesucht. Sie wurde mit Rechts- und Verfahrensfragen überzogen, mit denen sie sich nie vorher beschäftigen musste, und wird mehr und mehr davon aufgerieben, selbst wenn irgendwann ein unvorhergesehener Teilerfolg eintritt. Ihre Gedanken, Hoffnungen und Ängste kreisen nur noch um diese Verfahren und Rechtsfragen, sind so gefangen, dass sie eine einmal angebotene Mediation auch nicht mehr als Lösung akzeptieren kann. Ihre beruflichen Talente und Stärken kann sie in diesem Teufelskreis nur noch schwer entfalten.

So kann es aber allen Menschen gehen, die unverhofft aus einem selbstbestimmten Erwerbsleben heraus mit diesem System konfrontiert werden. Da entwickelt man keine abgewogenen Strategien mehr – vor allem, wenn einem als Dauerbedrohung die ungesicherten Wohnverhältnisse buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen. Man steht ständig vor dem Abgrund und klammert sich an den nächstbesten Strohhalm, und sei das ein Sachbearbeiter, der gar keine vollständige Akte mehr vorliegen hat, oder, wie sie selbstkritisch reflektiert, eben ein Gericht.

Mit jedem Mal, mit dem Aussagen tatsächlich oder scheinbar ins Gegenteil verkehrt werden, mit dem Unterlagen und Nachweise verschwinden, Zusagen nicht eingehalten werden, wächst die Hilflosigkeit.

Kafka lässt grüßen.

Und Brigitte Vallenthin betreibt neben dem Kampf gegen entwürdigende Behandlung auch die Auseinandersetzung um die Regelsatzhöhe, die aber die Verwaltung nicht aufgreifen kann und die die meisten Gerichte nicht aufgreifen wollen. Hier hat sie ganz viel Energie verwendet, um den für sie überzeugenderen Regelsatz zu begründen, und sie macht ihn so anschaulich wie den vor 1990 bestehenden Sozialhilfewarenkorb. Auch wenn man hier inzwischen zu ein wenig anderen Erhebungsmethoden greift – überzeugender ist ihr Versuch allemal als der von Professor Thießen aus Chemnitz, der seinen »132-Euro-Warenkorb« in der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik (Heft 2/2008) publiziert hat, oder der von SPD-Mitglied Sarazzin aus Berlin mit seinem »Drei-Tages-Speiseplan« ohne Getränke.

Viele sprechen den »Betroffenen« das Recht ab, sich zu solchen Fragen überhaupt zu äußern. Sind sie nicht zu subjektiv, zu fordernd, zu sehr auf ihre persönlichen Interessen fixiert? 

»Wenn man den Sumpf trockenlegen will, darf man nicht die Frösche fragen«, soll Minister Clement, der Exekutor der Hartz-Reformen, einmal gesagt haben. Die Frösche waren für ihn selbstverständlich die Arbeitslosen wie Brigitte Vallenthin und ihre Mitstreiter, die es sich im Sumpf der Arbeitslosigkeit bequem gemacht haben, die aktiviert und kontrolliert (oder auch nur mal gewaschen und rasiert) werden müssen.

Dabei ist der Sumpf der Arbeitslosigkeit, der Mangel an bezahlten Arbeitsplätzen durch Rationalisierung und falsche Verteilung von Arbeitszeit, nicht von den Arbeitslosen zu verantworten, sondern von Unternehmensberatern, marktvergötternden Ökonomen und Managern, die alles unternehmen, um nicht mit den Folgen ihrer menschen­verachtenden Personalpolitik konfrontiert zu werden.

Und genau diese Akteure haben die Reform maßgebend mit beeinflusst und die Verwaltung durch ihre Controllingmethoden und Führungsstile entmenschlicht und wollen den Fröschen das Überleben erschweren, indem sie sie in Versuchslabore packen, in denen getestet werden soll, wieviel Druck sie aushalten können. Die nörgelnden und nervenden Betroffenen sollen im Verwaltungsverfahren nicht ständig die Behörden mit ihren existenziellen Überlebens-Problemchen stören können, die Mitarbeiter sollen »von Getriebenen zu Treibern« werden – wie Roland Berger in einem Geheimpapier empfohlen hat.

 

Brigitte Vallenthin beschreibt, wie es einer ergeht, die an den verschiedensten Stellen mit den Vorgaben des Gesetzes und den Ergebnissen dieser Behördenorganisation konfrontiert wird und nicht zur Getriebenen werden will.

Allerdings ist es auch wichtig, den Blick darauf zu lenken, wie sich diese Situation verändern muss. Manche sind derartig abgestoßen, dass sie ein völlig bedingungsloses Grundeinkommen möglichst in doppelter Höhe wie heute fordern – ohne Schikanen, ohne Überprüfungen, ohne Bürokratie, wie sie sie kennen –, aber auch ungeachtet der Tatsache, dass es das nirgendwo auf der Welt gibt und dass dieser Zustand viele grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft voraussetzen würde.

Bei dieser Vision übersehen sie, dass viel kleinere Schritte die Lage ungemein erleichtern würden: die Rückbesinnung auf das soziale Recht auf bedarfsdeckende Existenz­sicherung, das Einhalten der Regeln des Verwaltungsverfahrens und qualifizierte, fest eingestellte Mitarbeiter, die z.B. auch die Möglichkeit haben, sich auf den menschenwürdigen Umgang mit ehemaligen Selbständigen einzulassen und für die ein geleaster Sportwagen noch kein Indiz für gefährliche kriminelle Absichten ist.

Entbürokratisierung, das heißt nicht: noch mehr viel zu niedrige Pauschalen, wie das jetzt für die Unterkunftskosten geplant ist. Entbürokratisierung heißt im Moment wieder: eine erreichbare Bürokratie, unbehinderte Zugangsmöglichkeit zu Leistungssachbearbeitern und Akten; das heißt individuelle Hilfen durch Behörden bei materiellen Problemen und Schluss mit der Verachtung der existenziellen Bedürfnisse der Betroffenen gleichermaßen durch schlechte Verwaltung als auch durch unzureichende Festsetzung des Existenzminimums durch die politisch Verantwortlichen.

Es heißt Abschaffung der »Back Office«-Leistungssachbearbeiter, die bewusst nicht erreichbar sein sollen, ihre Telefonnummern unterdrücken und auch noch ständig wechseln und selbst mit unlösbaren Softwareexperimenten und unsicheren Arbeitsverhältnissen belastet sind. Es heißt auch Abschaffung der unsäglichen Callcenter – des Lieblingsprojekts eines jeden Unternehmensberaters – zugunsten persönlicher Ansprechpartner.

Gute Verwaltung heißt: Ermittlung der entscheidungserheblichen Sachverhalte ohne schikanöse Übergriffe, Anhörung der Betroffenen und vor allem Ermöglichen von unabhängiger und qualifizierter Sozial-, Berufs-, Bildungs- und Rechtsberatung.

Selbst falsche Entscheidungen können dann auf andere Art korrigiert werden als durch die gegenwärtige Klageflut. Die 805.000 Widersprüche, die 2009 gezählt wurden, sind ja nur die Spitze des aufgeklärten und noch nicht resignierten Eisbergs an falsch behandelten Betroffenen, die durch den Gesetzgeber (genauer: verschiedene SPD-Minister) zusätzlich verhöhnt wurden, als man diesen Widersprüchen die übliche, so genannte aufschiebende Wirkung genommen hat.

Die Fördermaßnahmen – Praktika, Kurse, Weiterbildungen, Beratung und Arbeitsvermittlung – müssen frei wählbar sein, genauso wie soziale Verbände nicht erpresst werden dürfen, unsinnige Maßnahmen durchzuführen, wenn sie überhaupt noch Hilfen anbieten wollen. Die Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten muss verändert und die ständige Angst vor dem Verhungern zumindest durch Aussetzen von Sanktionen eingedämmt werden.

Brigitte Vallenthin kämpft um ihre Existenz, ihren Ruf, ihre Würde und um die Anerkennung der Bedürfnisse der Erwerbslosen. Und ihr Alltag ist kein Einzelfall. Bestätigt wird sie durch vielfältige Erhebungen – seien es die Kundenbefragung von Tacheles in Wuppertal, die statistischen Untersuchungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrts­verbands (DPWV), die Forschungen von Anne Ames oder die Untersuchungen des Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium oder eine Reihe weiterer Arbeiten.

Sie schildert den Alltag und die aufsteigende Angst, keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr zu haben: eine Angst, die sie am Ende auch – und ohne Bloßstellung – für einen beteiligten Wohlfahrtsverband dokumentieren kann.

 

 

 

Inhalt von <Ich bin dann mal Hartz 4>

Vorwort  (7)  

Zum Weiterlesen: Fakten, Fakten, Fakten   (127)

 

Amazon-Leser zu <Ich bin dann mal Hartz 4>

 

Das ist bitter nötig   2012  Von Jenspeter 

Die alltägliche Realität der Behördenmaschine Hartz4 auf so persönliche Weise in mein Verstehen und Fühlen gebeamt zu bekommen wie durch dieses Buch war bitter nötig... Ich kenne Menschen, die mit Hartz 4 leben müssen und ich war vorher schon der Meinung dieses System geht zu weit, aber nach der Lektüre dieses Buches ahne ich die noch viel schlimmere Realität!! Jetzt bin ich wirklich tief betroffen und überzeugt das sich das ändern muß. Jeder, der sich an der Hartz-4-Diskussion beteiligt, sollte so etwas vorher lesen.

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Erschreckend aber ehrlich     2012  Von Birgit,  Bottrop

Ja, die Maschinerie "Hartz 4"....man hört und liest viel, aber so ehrlich und teilweise erschreckend wie dieses Buch geschrieben ist, hat es mich doch nochmal erschüttert und empört ! Manchmal denkt man "das gibt es nicht !" und doch ist es leider so ! Ich wünsche Frau Vallenthin von Herzen alles Liebe!

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Entbehrliche Einzelfallbeschreibung    2012   Von Hans-Joachim Bartels, Berlin

Ein trauriges, für Deutschland leider fast typisches, Schicksal einer Klägerin. Sicher viel Arbeit, sicher mutig, sicher tragisch - für mich als "Hartz-Nuller" (meine Frau verdient ein wenig Geld, von dem sie mich aushalten muss), kaum Erkenntniszuwachs.

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Erschreckend - der Bericht, nicht das Buch   2011   Von Steffen Grundmann

Wenige Dinge haben aus meiner Sicht solch ein gesellschaftliches Spaltungspotential wie das unsägliche, hochbürokratische, entwürdigende Hartz 4. Dies wird im Buch von Brigitte Vallenthin mehr als deutlich. Man spürt deutlich, dass es sich hierbei nicht um ein theoretisches "Ich hab da mal was gehört" Thema handelt, sondern um einen erschütternden Einzelfallbericht. Gleichzeitig macht er deutlich, dass er eben (K)Ein Einzelfall ist. Insbesondere die recherchierten und ins Detail aufgeschlüsselten Realkosten, die dem Regelsatz gegenüber gestellt werden lassen schnell erkennen, dass es alles andere als ein erstrebenswertes Ziel ist, in Hartz 4 abzurutschen. Doch was sich eben auch als Fazit dieses Buches erkennen lässt: Vor dem Virus Hartz 4 ist keiner gefeit! 1 Stern (eher ein halber) Abzug gibt es von mir für teilweise verworrene Zeitlinien.

 

 

 

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