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Interview mit Helga Spindler (Ruhrgebiet) über Hartz IV Fragesteller: Reinhard Jellen, 18 Fragen "Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt" Teil 1 vom 22.10.2012 Teil 2 vom 24.10.2012 |
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Web: Google.Autorin heise.de/tp/artikel/37/37827/1
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Helga Maria Spindler, geboren am 7.10.1948 in Bad Dürkheim/ Pfalz. Ab 1955 Schulzeit in Bad Dürkheim und in der Internatsschule der Armen Schulschwestern in Garmisch Partenkirchen. Abitur 1967 in Bad Dürkheim. Juristisches Studium an den Universitäten Heidelberg (1967-69 ) und München (1969- 1972 ). Engagiert in der studentischen Selbstverwaltung und in studentischen Seminar- und Rechtshilfeprojekten. 1.juristisches Staatsexamen 1972 in München. Referendarzeit in Oberbayern mit Stationen beim DGB und im Anwaltsbüro. 2. juristisches Staatsexamen 1975 in München.
Aufnahme in die Graduiertenförderung. Promotion 1982 in München bei Arthur Kaufmann und Hermann Nehlsen. Von 1975 bis 1982 Rechtsanwältin in Köln. Seitdem wohnhaft in Köln. Bürogemeinschaft mit Erika Fischer und Jürgen Crummenerl. Schwerpunkte in der Anwaltstätigkeit: Strafrecht, Ausländer- und Asylrecht, Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht und Familienrecht. 1981 Heirat mit Egon Redereit-Spindler und Geburt zweier Kinder (1981 und 1984 ).
Von 1982 bis 1999 Professorin für Sozialrecht und Arbeitsrecht am Fachbereich Sozialarbeit der staatlichen Fachhochschule Köln. 1988/89 Praxissemester beim Sozialamt Köln. 1992 bis 1994 Dekanin , 1994 –1998 Mitglied des Senats der FH Köln. Seit 1999 Professorin für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Sozialrecht und Arbeitsrecht an der Gesamthochschule Essen, Fachbereich 1, Studiengang Sozialarbeit, Sozialpädagogik; nach der Fusion: im Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg- Essen.
Mitherausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift: Informationen zum Arbeitslosen- und Sozialhilferecht (info also). Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Hochschullehrer des Rechts im Bereich Sozialwesen BAGHR e.V. Mitglied im Deutschen Berufsverband für soziale Arbeit, DBSH e.V. Mitinitiatorin des Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium, 2009. Mitglied im Beraterkreis des Modellprojekts des Bundesministerium für Gesundheit: „Maßnahmen zur Erfolgskontrolle im Bereich der Sozialhilfegesetzgebung“, von 1994 bis 1999. Vom DPWV benanntes langjähriges Mitglied im Gremium sozialerfahrener Personen ( nach § 114 BSHG ) zur Beratung von Widerspruchsangelegenheiten beim Sozialamt der Stadt Köln ( inzwischen beendet ). Mitgründerin der deutschen Schöffenvereinigung DVS 1989.
Wahrscheinlich wird dieses Jahr die Anzahl der Sanktionen gegen Hartz IV-Bezieher erstmals die Millionenmarke erreichen [1]. Weniger bekannt ist, dass diese Sanktionen mehrheitlich nicht wegen Arbeitsverweigerung, sondern harmloser Vergehen wegen wie Meldeversäumnissen ausgesprochen werden und dass sich der Entzug des Existenzminimums über Monate hinziehen kann, weil der Widerspruch dagegen keine aufschiebende Wirkung besitzt.
Mit der Einführung von Hartz IV hat Rot-Grün seinerzeit auf die Zumutungen des Arbeitsmarktes mit Zwangsarbeit und erweiterte Repressionen [2] für Arbeitslose reagiert. Auch dank der funktionierenden Kollaboration der Medien werden die wesentlichen Folgen dieser Politik für die Lohnabhängigen erfolgreich ausgeblendet, während die Sozialpolitik weiter in Richtung Mittelalter zielt.Telepolis sprach mit der Professorin für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Arbeitsrecht Helga Spindler
"Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt"
Wie der Staat jenseits der Sonntagsreden die Menschenwürde in Mark und Pfennig bewertet
1) Frau Spindler, Sie gehören zu den Kritikerinnen des niedrigen Existenzminimums und haben sogar eine Senkung gegenüber der Sozialhilfe festgestellt. Was hat sich mit Hartz-4 geändert und wie wurde das vom Gesetzgeber begründet?
Die Bestimmung eines verbindlichen Existenzminimums, das vom Staat garantiert wird, ist immer schwierig. Das war auch schon in der Sozialhilfe so. Damals gab es unter dem so genannten Warenkorbmodell heftige Auseinandersetzungen - welchen Verbrauch nimmt man an, von welchen Preisen geht man aus - und mit dem Übergang zum Statistikmodell, der schon 1990 stattgefunden hat, ging die Auseinandersetzung weiter, obwohl sich die Regelsätze zunächst merkbar erhöhten. Überhaupt wurde jedes Jahr erhöht, wenn auch nicht immer ganz parallel zu den Lebenshaltungskosten.
Mich hat immer interessiert, wie der Staat jenseits irgendwelcher Sonntagsreden die Menschenwürde in Mark und Pfennig bewertet. Ich fand - bei allem Jonglieren mit Zahlen, die es in solchen Verfahren immer geben wird - beeindruckend, wie vergleichsweise redlich man mit dieser Frage umging.
So wurden zum Beispiel Sonderuntersuchungen über Energieverbrauch angesetzt, weil man wusste, dass eine allgemeine und ältere Statistik hier keine genauen Daten liefert. Oder man versuchte Zirkelschlüsse zu verhindern oder empfahl eine Sonderpauschale für Bekleidung von Teenagern, weil erkennbar war, dass da mehr gebraucht wird. Außerdem gab es viele einmalige Beihilfen, die einen niedrigen Regelsatz bei bestimmten Bedarfen ergänzen konnten, allerdings schon um den Preis eines hohen Verwaltungsaufwands und vieler Einzelkonflikte und Willkür. Aber man hat sich wenigstens noch bemüht [4], wobei es Hinweise gibt, dass das auch der Systemkonkurrenz zum Ostblock geschuldet war.
2) Was hat sich dann seinerzeit mit Rot-Grün geändert?
Seit sich die rot-grüne Regierung und damit der Bund der Regelsätze angenommen hat, kam es zu einer neuen Dynamik. Erstmals in der Geschichte wurden im Jahr 2004 die Regelsätze überhaupt nicht angepasst und danach wurden die Sätze von den Lebenshaltungskosten abgekoppelt.
Diese sollten sich - aus Gerechtigkeitsgründen! - wie die Renten entwickeln, die man ja gerade begonnen hatte unauffällig, aber empfindlich abzusenken. Mit der Regelsatzverordnung von 2004 durch Ulla Schmidt wurde der Umgang mit den statistischen Daten immer fragwürdiger. Im Prinzip ist 2004 das Gleiche passiert wie nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 2010, aber damals hat sich kaum jemand dafür interessiert.
"Lediglich ein geglückter PR-Coup"
3) Was ist damals konkret geschehen?
2004 gelang es die Öffentlichkeit zu täuschen, weil doch scheinbar im Ergebnis mehr gezahlt wurde als vorher, und der neue Eckregelsatz von 296 € auf 345 € anstieg. Aber der damit finanzierbare Bedarf wurde deutlich gesenkt, weil die meisten einmaligen Beihilfen mit viel zu niedrigen Beträgen pauschaliert wurden. Nicht berücksichtigt wurden die völlig neue Belastung aus der Gesundheitsreform und die Bildungskosten, gekürzt wurden Ausgaben für Energie und Mobilität, für Lebensmittel und Bekleidung - trotz steigender Preise.
Und bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen ab 14 Jahren wurden zusätzlich die Regelsätze um 5 beziehungsweise 10 Prozent gesenkt, was sich ebenfalls hinter einer kleinen nominalen Erhöhung des Betrags verstecken ließ und eigentlich der größte Skandal ist. (Bei den Kindern bis 14 Jahren wurde das, um dem Bundesverfassungsgericht zuvorzukommen, freiwillig korrigiert. Bei den erwerbsfähigen Jugendlichen ist man hart geblieben, um sie für Niedriglöhne zu konditionieren).
Statt die damit umgesetzte Senkung des Existenzminimums wenigstens noch politisch zu rechtfertigen und offen auszuweisen, wurde in der Pressearbeit allen Ernstes behauptet, die Situation der betroffenen Menschen "verbessere" sich und die Leistungen für Familien würden gegenüber früher "gerechter verteilt".
Bis heute hält sich, auch in wissenschaftlichen Abhandlungen die Behauptung, die ehemaligen Sozialhilfebezieher seien die Gewinner der Hartz-Reform gewesen und nur einige Arbeitslosenhilfebezieher mit überdurchschnittlichen Bezügen hätten etwas verloren. Das war aber lediglich ein geglückter PR-Coup.
Üblicherweise raten neoliberale Berater im Rahmen der Haushaltskonsolidierung Leistungen nominal einzufrieren, um keinen Widerstand in der Bevölkerung zu erregen, von der man hofft, dass sie die schleichende Entwertung erst mit Verspätung bemerkt. Hier wurde eine Senkung erfolgreich als Erhöhung verkauft [5].
"Lächerliche Erhöhung von 5 Euro"
4) Was hat sich dann nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geändert?
Von einer Indexbindung von Sozialleistungen an die Lebenshaltungskosten schreckt die Politik zurück, weil sie dann sofort auf die Verschlechterung der Lage reagieren und die Menschen unterstützen müsste. Will man aber eine menschenwürdige Existenz sichern, kommt man um die Indexbindung nicht herum. Das bestätigte auch das Bundesverfassungsgericht.
Ursula von der Leyen hatte deshalb nicht mehr ganz so viele Gestaltungsspielräume und musste schon offener die Absenkung einzelner Bedarfsbestandteile darlegen. Die statistischen Werte und Bezugsgruppen hat sie aber, wo es ging, nach wie vor nach vor allem nach unten bemessen, indem sie eine ärmere Vergleichsgruppe wählte und eine Reihe von Verbrauchspositionen gestrichen hat. Das hat dann zu der lächerlichen Erhöhung von 5 Euro geführt, während man bei den Kindern nominal gleich blieb und dieses kleine, durch viele Hürden schwer zugängliche Bildungspaket aufsattelte. Das hat zwar Aufmerksamkeit gefunden und viele Menschen empört.
Aber die Kontrolle dieser Statistiktricks ist vielen, allen voran den einschlägigen Gerichten, Landessozialgerichten und dem Bundessozialgericht, schon viel zu kompliziert, weshalb sie dem "armen Staat" einen nicht kontrollierbaren Spielraum nach unten zugestehen wollen [6].
Und auch die Grünen haben ihre Forderung nach einer Erhöhung auf mäßige 420 Euro schon wieder zurückgestellt. Das wäre kein großes Geschenk, sondern nach meiner Schätzung heute niedriger als das Sozialhilfeniveau Ende der 1990er Jahre.
So richtig weit unten, wie manche Ökonomen das wollen (30 bis 50 Prozent niedriger), ist der Regelsatz noch nicht, aber es gibt seit 2003 eine stetige Abwärtstendenz.
Und wenn die Pläne der kommunalen Träger aufgehen, zusätzlich zu den vielen Aufrechnungsmöglichkeiten einen wachsenden Teil ihrer Unterkunftskosten davon zahlen zu lassen, dann hat man trotz kleiner, nominaler Erhöhungen eine solide Absenkung erreicht.
5) Welche Entwicklung wurde mit dieser Politik in Gang gesetzt?
Das Tückische liegt darin, dass sich speziell in Deutschland die ganze Diskussion um das Existenzminimum auf die Regelsätze von Menschen ohne Arbeit konzentriert, statt auf existenzsichernde Löhne. Armutslöhner beziehen deshalb die Auseinandersetzung nicht auf sich, sondern denken, das betreffe nur Arbeitslose oder Randgruppen und werden sogar abgeschreckt, aufstockende Leistungen zu beantragen.
Dabei würden sie bei höheren Regelsätzen durch viele Freibeträge, besonders den Steuerfreibetrag, auch profitieren, was ihnen aber nicht erklärt [2] wird.
So gibt es zu viele Möglichkeiten, die insgesamt wachsende Armutsbevölkerung politisch gegeneinander auszuspielen. Deswegen werden Protagonisten, die 5 Euro in der Stunde verdienen und beteuern, sie würden sich schämen, dem Staat auf der Tasche zu liegen, zwar doppelt ausgebeutet, aber von Politik und vielen Medien sehr geschätzt.
"Wie im Mittelalter"
6) Wie passen diese Maßnahmen mit dem Konzept der Eigenverantwortung zusammen und beißt sich dieses Prinzip mit der landesweiten Errichtung sogenannter "Tafeln" nicht in den Schwanz?
Das passt hervorragend zusammen, es kommt nur drauf an, wie man Eigenverantwortung definiert! Die Eigenverantwortung ist Teil des staatlichen Aktivierungskonzepts, "unabhängig" von der staatlichen Existenzsicherung zu werden und bedeutet nur, dass man sich sein Existenzminimum irgendwo anders in der Gesellschaft zusammensuchen soll, ob in der Familie, durch Flaschensammeln, durch Prostitution, durch prekäre Selbstständigkeit oder durch niedrigen Arbeitslohn. Das alles ist aus staatlicher Sicht - wenn es knapp wird, verbunden mit Tafelspeisungen - eigenverantwortlich.
Statt sich "passiv" durch Sozialleistungen "alimentieren" zu lassen und damit unerkannt wie jeder andere einkaufen zu gehen, muss man sich bei den Tafeln "aktiv" um seine Lebensmittel kümmern. Gleichzeitig werden Ehrenamtler und vor allem Unternehmen und Privatspender aktiviert, die das zum Imagegewinn nutzen können und denen man gern eine Spendenquittung zukommen lässt, auch wenn sie die Steuereinnahmen , aus denen die Existenzsicherung finanziert werden muss, vermindert. Und weil sich diese Sachspenden statistisch im Ausgabeverhalten niederschlagen, gewinnt man jedes Jahr eine bessere Begründung, den Regelsatzanteil für Lebensmittel niedriger zu bemessen.
Hier wird mit ganz langem Atem und tatkräftiger Unterstützung von McKinsey der Gesellschaft ein Teil der eigenverantwortlichen Versorgung der Armen zurückgegeben, die sie im Mittelalter auch schon wahrgenommen hat. Hinter der Tafelbewegung mögen gute Absichten stecken, aber die Kombination mit den zu niedrigen Regelsätzen und Löhnen macht sie für mich obszön [7].
"Besonderer Druck auf die Kinderregelsätze"
7) Aber es sollen doch vor allem niedrigere Löhne ermöglicht werden?
Ja, es gibt noch einen weiteren "Aktivierungsaspekt" und das ist der Anreiz niedrigere Löhne anzunehmen. Bisher hat in Deutschland noch kein Regelsatz, ob er niedrig oder hoch war, die Etablierung eines Niedriglohnsektors verhindert. Die staatliche Aufstockung und damit die ebenfalls teure Subventionierung von Niedriglöhnen wird auch von Ökonomen durchaus begrüßt, die ansonsten die Arbeitskraft möglichst dem freien Spiel der Weltmarktpreise überlassen wollen. Aber ein höherer Regelsatz gefährdet die Akzeptanz dieser Niedriglöhne durch den Vergleich.
Deshalb sollen die Nichtarbeitenden so wenig pauschale Geldmittel wie möglich erhalten, damit "ihre Selbsthilfekräfte stimuliert" werden und sie sich beim Lohn "konzessionsbereiter" zeigen. Wie schnell man sie dahin bekommt, wird bereits durch viele Forschungsaufträge untersucht. Wenn sie dann schon aus Zeiten der Arbeitslosigkeit den Weg zur nächsten Tafel kennen, wird das Leben mit Niedriglohn auch erträglicher und alle Beteiligten sind optimal aktiviert.
Alle, die diese "Selbsthilfe" durch niedrige Regelsätze stimulieren wollen, haben ein großes Problem, wenn sich die Regelsätze bei Familien mit Kindern addieren und damit in der Summe die Niedriglöhne erreichen und übertreffen. Das erklärt den besonderen Druck auf die Kinderregelsätze [8]. Aber so weit wie in Großbritannien, wo man bereits laut nachdenkt, ab dem dritten Kind nichts mehr zu zahlen, sind wir noch nicht.
Sanktionen: "sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen"
8) Die finanzielle Degradierung der Arbeitslosen geht mit einer dramatischen Entrechtung einher. Welche Rolle spielen dabei die Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen für Arbeit und die so genannten "Sanktionen"?
Hinter der Diskussion über das Existenzminimum wird die Debatte um die Entrechtung der Arbeitslosen, den Abbau ihrer Gestaltungsspielräumen, Mitsprachemöglichkeiten und die Demütigung durch Verwaltungsprozeduren und "Helfer", denen sie völlig ausgeliefert sind, oft vergessen. Das erscheint zunächst plausibel, denn so eine Rechtsschutzkultur wie in Deutschland und spezielle Sozialgerichte haben die wenigsten Länder. Aber auch Gerichte müssen sich an gesetzliche Regeln halten und so werden die für Arbeitslose strukturell benachteiligenden Bestimmungen in regelmäßigen Abständen verschärft.
Die Menschen werden beispielsweise durch die Zumutbarkeitsregel strukturell benachteiligt. Sie ist zwar im Wortlaut der in der Sozialhilfe sehr ähnlich, über die sich 40 Jahre lang niemand besonders beschwert hat. (Man hat nur die Berücksichtung von Pflichten der Haushaltsführung gestrichen, damit auch traditionelle Hausfrauen durch volle Arbeitsverpflichtung endlich "emanzipiert" werden können). Aber mit der Sozialhilfe wurden weniger und eher arbeitsmarktferne Bezieher versorgt, während mit den ehemaligen Arbeitslosenhilfebeziehern Menschen mit Arbeitserfahrung und Ausbildung in das neue System kamen, deren Fähigkeiten durch den Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen, völlig entwertet werden.
Auch Sanktionen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit gab es damals bereits sowohl in Form von Sperrzeiten im SGB III (in der Arbeitslosenversicherung und damit auch bei der Arbeitslosenhilfe fiel auch früher schon bei so genannten versicherungswidrigem Verhalten der Anspruch bis zu zwölf Wochen weg), als auch als Wegfall des Rechtsanspruchs in der Sozialhilfe [9].
Aber Letzteres wurden nur sehr vorsichtig und erst nach Konsultationen eingesetzt und vor allem nicht, wenn weitere Familienmitglieder von dieser Maßnahme betroffen waren, weil man sich der Brisanz der Streichung des Existenzminimums bewusst war. Damals konnte man auch während einer Sperrzeit, die ja schon immer eine befristete hundertprozentige Sanktion war, einen verminderten Sozialhilfesatz bekommen, um zu überleben. Das ist jetzt alles abgeschafft.
Heutzutage werden Sanktionen sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen und die häufigeren Behördenkontakte werden offenbar nicht vornehmlich zur Beratung und Unterstützung genutzt, sondern bewirken als sichtbarstes Ergebnis nur deutlich mehr Sanktionen. Zusätzlich hat man auch Familienmitglieder, die für sich selbst genug verdienen, aber nicht alle in der Bedarfsgemeinschaft ernähren können, gesetzestechnisch mit hilfebedürftigen Langzeitarbeitslosen gleich gestellt, um auch sie mit Pflichten und Sanktionen konfrontieren zu können.
Durch alle diese Änderungen hat sich die Anwendung und Auswirkung der Regel verschärft, was noch dadurch verstärkt wird, dass heute Firmen, die sich wegen ihrer unattraktiven Arbeitsangebote früher bei einem Jobcenter nicht gemeldet hätten, übereifrig "beliefert" werden, da diese Vermittlungserfolge produzieren.
"Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung mehr"
9) Welche Folgen hat diese Praxis für den Arbeitsmarkt?
Es kann nicht beruhigen, dass nur wenige Sanktionen wegen Verweigerung zumutbarer Arbeit ausgesprochen werden, wobei sogar schon Versuche einen höheren Lohn zu fordern als sanktionswürdig eingestuft werden. Denn schlimmer sind die Auswirkungen da, wo Stellen nur wegen dieses Sanktionsdrucks angenommen werden. Dort unterbindet der Staat einseitig das Aushandeln der Arbeitsbedingungen und verzerrt damit den gesamten Arbeitsmarkt.
Wenn wir heute das Anwachsen von Hungerlöhnen, Befristungen, tarifloser Beschäftigung beklagen, dann ist das nicht der Globalisierung geschuldet ist, sondern dem staatlichen Druck, der dazu geführt hat, dass solche Stellen auch mit qualifizierten Kräften besetzt werden konnten.
Die in Deutschland traditionell unbeliebte Leiharbeit ist so nicht nur ausgebaut, sondern auch von staatlicher Seite davor geschützt worden, attraktivere Arbeitsbedingungen auch nur andenken zu müssen. Gestaltungsfreiheit und Mitsprachemöglichkeiten werden den Menschen allerdings auch auf anderen Ebenen genommen [10]. Denn alle Fördermaßnahmen, mit denen doch eigentlich geholfen werden soll, stehen unter Sanktionsdrohung.
So werden Maßnahmen, wie die immer gleichen Ein-Euro-Jobs, wiederholte Bewerbungstrainings und von bestimmten Firmen systematisch ausgenutzte unbezahlte Praktika, die viele nicht freiwillig wählen würden, den Hartz-4-Beziehern in vorgedruckten so genannten "Eingliederungsvereinbarungen" vom Jobcenter aufgenötigt. Weiterbildung und regulär bezahlte geförderte Arbeit sind praktisch aus dem Förderkatalog verschwunden. Statt Zugang zu seriöser Berufsberatung zu erhalten wird man fragwürdigen Profiling-Techniken unterworfen, die nach beruflichen und persönlichen Defiziten fahnden.
Beschäftigungsträger dürfen sich anmaßen, das Existenzminimum zu kürzen und beliebig Arbeit zuzuweisen oder auch weiterzuverleihen. Vorher klar umschriebene Leistungen zur Unterstützung der Bewerbung sind in einem Vermittlungsbudget verschwunden, das - gesetzlich nach Ermessen, praktisch unter Sparvorgaben und nach Gutdünken - vom Sachbearbeiter verteilt wird. Anders als im übrigen Rechtsverkehr haben Widersprüche keine aufschiebende Wirkung und den Arbeitslosen sind empfindliche Beweislasten aufgebürdet worden.
"Ständige Ohnmachts- und Abwertungserfahrung"
10) Wie haben sich im Zuge dieser Entwicklung die Funktionen der Sachbearbeiter verändert?
Untersuchungen zeigen, dass Behördenmitarbeiter offenbar nicht mehr darauf ausgerichtet werden zu beraten und zu betreuen (was zwar durchaus noch praktiziert, aber als veraltete Fürsorge- oder Sozialarbeitermentalität abgetan wird), oder gar Arbeit zu vermitteln - was nun der "Kunde" selber oder ein von Prämien abhängiger Dienstleister machen soll -, sondern dass sie sich auf die Kontrolle und Veränderung der Haltung ihrer "Kunden" konzentrieren sollen, nach dem Motto: "Arbeit ist genug da. Wenn Sie noch keine gefunden haben liegt es daran, dass Sie sich nicht flexibel und mobil genug auf die Anforderungen der Arbeitgeber eingestellt haben."
Oder, wie in einem Fall in NRW, wo sich ein "Ü-50er" über das 3. Bewerbungstraining in einem Interview beschwert hat und der Leiter des Jobcenters kühl reagiert hat, er haben ja immer noch keine Arbeit gefunden, das zeige doch wie wichtig die Wiederholung der Maßnahme sei.
Das alles führt zusammen mit Ignoranz und häufig stur weiterlaufenden Verstößen gegen bereits anderslautende Rechtsprechung zu einer ständigen Ohnmachts- und Abwertungserfahrung und nimmt selbst qualifizierten, motivierten und kreativen Arbeitslosen jede Gestaltungsmöglichkeit.
"Akzeptierendere Grundhaltung ist gefragt"
11) Am 26.9.2011 wurde eine junge Sachbearbeiterin in einem Job-Center bei Neuss umgebracht [11]. Welchen Hintergrund hatte Ihrer Einschätzung nach diese Tat und wie kann in Zukunft dergleichen verhindert werden?
Der Vorfall ist erschreckend und tragisch, wie im übrigen viele andere körperliche Angriffe und Bedrohungen gegenüber Jobcentermitarbeitern, durch die gerade die Engagierten zermürbt werden. Über den Hintergrund kann ich nur spekulieren und leider werden solche Vorfälle meist nicht zufriedenstellend aufgeklärt, weil dabei auch die Vorgeschichte des Umgangs mit dem Betroffenen offengelegt werden müsste.
Aber an den Aktivitäten, wie man dergleichen in Zukunft verhindern will, kann man erkennen, von was diese spektakulären Fälle ablenken sollen. Statt Großraumbüros, Hausverboten und mehr Sicherheitskräften benötigen die Mitarbeiter seit Anfang der Reform mehr Zeit und es ist vor allem eine andere, eine akzeptierendere Grundhaltung in Jobcentern gefragt, die unter der gegenwärtigen Herrschaft der Controller und Leistungsvereinbarungen nicht möglich ist [12].
Sinnvoll erscheint mir der Vorschlag eines ehemaligen Mitarbeiters, im Jobcenter Unabhängigen Beratungsstellen Räume zur Verfügung zu stellen, Anlaufstellen, bei denen Frust und Resignation genauso ernst genommen werden wie fachliches Wissen und mehr Begleitung bei den Terminen zuzulassen. Das wäre ein guter Anfang, so lange man bei den Mitarbeitern keine andere Arbeitshaltung gegenüber den "Kunden" fördert.
Häufig eskaliert die Situation einfach durch die Existenzangst. Das liegt daran, dass man die Leistungsabteilungen sehr schlecht besetzt hat (von der Gesetzesidee her bewusst, weil die Geldleistung als zweitrangig gilt), die mit ständigen Softwareproblemen ohnehin dauernd lahm liegt. Die oft juristisch und kommunikativ nicht erfahrenen Mitarbeiter werden in unzugänglichen "back-offices" versteckt, wo sie sogar ihre Telefonnummern unterdrücken müssen. Wenn dann die Überweisung ausbleibt oder Unterlagen verschwinden und keine Empfangsbescheinigungen erteilt werden, bricht eben Panik aus.
Statt meist inhaltsleerer Deeskalationstechniken für den einzelnen Mitarbeiter zu schulen, ist eine Deeskalation durch den Gesetzgeber angebracht: Sanktionen reduzieren (und zur Vorbereitung dazu ein Sanktionsmoratorium voranbringen), Zumutbarkeitskriterien ändern, den Datenschutz garantieren (gerade sehr persönliche Daten aus Untersuchungen und Beratung sind nicht verlässlich geschützt), Freiwilligkeit bei Fördermaßnahmen einführen, verlässliche Geldüberweisungen und Auszahlungen in Notfällen.
Verhindern kann man einen Angriff nie, aber es sollte zu denken geben, dass solche Vorfälle weder aus der Arbeitslosenhilfe noch aus der Sozialhilfe - wo die Verwaltung auch viel kritisiert wurde - bekannt sind.
1) Helga Spindler, Der Regelsatz, das Recht, die Statistik und die Löhne, in: verdikt 2.10 , Mitteilungen der Fachgruppe Richterinnen und Richter in ver.di , November 2010, S.6-9
Artikel URL: heise.de/tp/artikel/37/37827/1.html 2) M. Feil/J. Wiemers, Teure Vorschläge mit erheblichen Nebenwirkungen, IN: IAB Kurzbericht 11/2008
[1] welt.de/newsticker/news2/article109876013/Zahl-der-Hartz-IV-Sanktionen-steuert-auf-Millionengrenze-zu.html [2] heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html [3] uni-due.de/edit/spindler/
[4] uni-due.de/edit/spindler/Geschichte_Sozhilfe_Spindler_2007.pdf [5] nachdenkseiten.de/?p=228 [6] uni-due.de/edit/spindler/Diakonie_Spindler_2009.pdf
[7] uni-due.de/edit/spindler/Sozialarbeit_und_Armut_Spindler_2007.pdf [8] nachdenkseiten.de/?p=1668 [9] nachdenkseiten.de/?p=10250 [10] uni-due.de/edit/spindler/entrechtung_2009.pdf
[11] heise.de/tp/artikel/37/37735/1.html [12] ak-sozialpolitik.de/doku/01_aktuell/ticker/2007/2007_08_07_spindler.pdf [13] heise.de/tp/ebook/ebook_2.html
"Eine Erpressungsmaschine" Interview Teil 2 mit Helga Spindler und Jellen 24.10.2012
Erschöpfungserscheinungen des Rechtsstaates bei der Umsetzung der Hartz IV-Gesetzgebung und die Dämonisierung von Arbeitslosigkeit.
Mit Hartz IV wurde eine ökonomisch äußerst prekäre Situation für Langzeitarbeitslose geschaffen, die durch die permanente Rechtsunsicherheit der Bezieher ergänzt wurde.
Auch wenn der Rechtsstaat in der Auseinandersetzung mit den Jobcentern bisweilen noch funktioniert, wird weiter durch die Überforderung der Gerichte an einer Justierung des juristischen Status von Arbeitslosen in Richtung von Heloten und Metöken* gearbeitet. (d-2012: Unterdrückte Klassen im alten Sparta.)
Damit folgt die Politik unter anderem den Vorgaben der Bertelsmann-Stiftung. Telepolis sprach mit der Professorin für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, Helga Spindler darüber, ob und wie der Rechtsstaat bei Hartz IV funktioniert und was für einen sozialen Rechtsstaat wichtig wäre.
12) Frau Spindler, die Hartz IV-Regelungen enthalten widersprüchliche und vor allem viel zu ungenaue Bestimmungen, die aber alle zum Nachteil der Bezieher ausgelegt werden und immer wieder zu Rechtstreitigkeiten führen. Ist dies der Unfähigkeit des Gesetzgebers geschuldet oder können Sie dahinter eine intendierte Systematik erkennen?
Die Gesetzgebung hat viele grundsätzliche Probleme aufgeworfen, von der ungeklärten Organisation über die Abgrenzung zu bestehenden Systemen. Statt "Leistungen aus einer Hand" oder vorher aus zwei Händen mit klarer Zuständigkeit - dem Arbeitsamt und dem Sozialamt - hat man plötzlich Leistungen aus drei Händen: Arbeitsagentur, Sozialamt und Jobcentern, die nach unterschiedlichen Prinzipien zusammengewürfelt wurden.
Die Abgrenzung wurde noch dadurch erschwert, dass man - in Europa wohl einmalig - alle, die in absehbarer Zeit nur gerade einmal drei Stunden pro Tag irgendwie zu einer Erwerbstätigkeit fähig sind, einbeziehen wollte. Dazu kam die Neuformulierung der Bedarfsgemeinschaft, der Charakter der Eingliederungsvereinbarung, die Pauschalierung, die erste Fassung des Freibetrags für Erwerbstätige; das und einiges mehr war handwerklich sehr schlecht und überstürzt gemacht.
Weiter waren und sind die permanenten Gesetzesänderungen eine Zumutungen für Verwaltung, Bürger, Berater und Gerichte. Viele Regeln wurden aber auch aus vorherigen Gesetzen übernommen. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, oder zusätzliche Arbeit, standen nicht nur vorher im Sozialhilferecht, auch die Rechtsprechung dazu war ziemlich gefestigt.
Wenn Kommunen heute so tun, als hätten sie seit 20 Jahren keinen Überblick über die Entwicklung der Mietkosten oder die Angebote des sozialen Wohnungsbaus, dann ist das unverständlich. Und wenn sie mit allen möglichen Tricks versuchen, diese Kosten zu unterlaufen, dann ist das nicht zu rechtfertigen. Sie wollten die Hartz-Reform und haben keine Anstalten gemacht, die Arbeitslosenhilfe und das Wohngeld, die sie entlastet hätten, zu erhalten.
Dass aber alles zum Nachteil der Bezieher ausgelegt wird, kann ich aus juristischer Sicht nicht bestätigen. Zwar hat die Ideologie des aktivierenden Sozialstaats nicht unbedingt die Menschenwürde oder auch die Persönlichkeitsrechte des Bürgers im Auge, aber es sind eine Reihe subjektiver Rechtsansprüche geblieben, die Bürger oft erfolgreich in Prozessen durchsetzen.
"Der Rechtsstaat funktioniert noch"
13) Inwiefern?
Es kristallisiert sich hier heraus, dass die Gerichte viel Wert auf ein transparentes Verfahren legen, besonders auf die individuelle Belehrung, Anhörungen und eine genauere Begründung von Leistungen und Maßnahmen, Existenzsicherung durch Gutscheine etc. Sie begleiten mit einer rechtsstaatlichen Orientierung auf Kontrolle großer Verwaltungseinheiten die neue Gesetzgebung sehr intensiv. Aber der Schutz, der daraus erwächst, verlangt einen hohen Arbeitaufwand bei der Geltendmachung - meist noch im stressigen Eilverfahren - und ändert an der gesetzlich intendierten Drucksituation letztlich nichts. Wir haben eine Zunahme von Verfahren, die jedes normale Maß weit übersteigen.
Das alles lässt sich durchaus positiv einschätzen: Der Rechtsstaat funktioniert noch. Es gibt kein unkontrolliertes Handeln der Behörden. Man muss aber von dieser Entwicklung aber auch die andere Seite sehen: Die Auseinandersetzung mit den Grundprinzipien der Aktivierung, der immer weiter vorangetriebenen Umwandlung des Systems, findet nicht statt und löst sich an kleinen, gelegentlich sehr exotischen juristischen Fronten auf.[2].
Das Problem ist also, dass den Gerichten mit weiteren Gesetzesänderungen die Hände gebunden sind. Die arbeitsmarktstrategisch oder wirtschaftspolitisch wichtigen Fragen sind dort nicht zu klären: Selbst mit der Höhe des Existenzminimums oder Bestimmung der Grenzen zumutbarer Arbeit sind viele (vor allem Obergerichte) schon überfordert.
Und es zeigen sich Erschöpfungserscheinungen. Die Verfahren dauern zu lang und die Richter werden zermürbt, weil sie teilweise Ermittlungs- und Beratungsaufgaben der Verwaltung übernehmen müssen.
Die Gerichtsbarkeit regt zu ihrer Entlastung Rechtsänderungen an, die weniger individuelles Recht geben und in den Ländern bastelt man an Gerichtsgebühren oder gleich an der Abschaffung der Sozialgerichte.
Die Beratungs- und Prozesskostenhilfe wird immer wieder in Frage gestellt und zu restriktiv bewilligt.
"Vor allem Individualrechte gelten als bürokratisch"
14) Was ist das Kalkül dahinter?
Man kann die Dinge so deuten: Die anschwellende Rechtsprechung ist nur Symptom einer Zermürbungstaktik, mit der schrittweise eine Systemänderung hin zu einem Zustand erfolgen soll, in dem die Behörde und von ihr beauftragte Dienstleister nicht mehr die rechtlich kontrollierte Steuerung der Arbeitslosen übernehmen.
Viele Kritiker übersehen, dass das Chaos auch eine verborgene Systematik in sich trägt, die zu einem völlig neuen System führen kann.
Die Vordenker des aktivierenden Staat setzen nämlich langfristig auf andere Steuerung als durch das Recht und finden dafür Vorbilder auch in Europa (Großbritannien, Niederlande und Dänemark).
Vor allem Individualrechte gelten als bürokratisch, verkrustet; unflexibel, ineffizient; die Gerichte werden als Vetospieler angesehen.
Wer ein neues System mit weniger Rechten in Deutschland einführen will, für den ist jede schlecht funktionierende und unbeliebte Rechtsordnung ein willkommener Zwischenschritt hin zur Abschaffung.
Statt Arbeitsförderung gibt es dann als Gegenleistung für das Existenzminimum <Workfare> - einen öffentlichen Arbeitsdienst ohne Arbeitsrecht. In den genannten Ländern gibt es bereits kaum gerichtliche oder sonstige Kontrolle; für den Bürger kein individuelles, kalkulierbares und im Ergebnis beeinflussbares Verfahren und Ergebnis mehr.
Er hat nur noch "Chancen", aber keine subjektiven Rechte. Deshalb hören wir aus diesen Ländern auch nicht, wie mit den Arbeitslosen umgesprungen wird, sondern werden darüber mit PR-Berichten abgespeist, die sich mit Eigenlob überschlagen.
"Stete Unsicherheit"
15) Von wem wurde dieser Prozess in Deutschland initiiert?
Die Bertelsmann Stiftung, aber auch die Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit, haben diese Ideen bereits im Vorfeld der Hartz-Reform ausgearbeitet und gezielt ihnen genehme Vorbilder in Europa herausgepickt [3] Selbst die Arbeitslosenversicherung sollte Schritt für Schritt in Richtung mehr Freiheiten für die Behörde, erschwerter Zugang, ein einfach zu handhabendes Sanktionssystem und weniger Mitwirkungsrechte der Arbeitslosen entsprechend umgestaltet werden - und das wird übrigens auch schrittweise und etwas im Windschatten der spektakuläreren Konflikte um das SGB II weiter vorangetrieben.
Ein wenig fühle ich mich hier an Hannah Arendts Untersuchung über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erinnert. Alles irgendwie durch Regeln Gebundene, Kontrollierbare und darum Statische (sprich rechtliche) muss verdampfen vor dem dynamischen Prinzip der Bewegung (sprich Kontraktmanagement und Anreizmodelle ). Das Element steter Unsicherheit soll Menschen zuverlässig von abschließender Urteilsbildung abhalten.
Das plötzliche Auf und Ab der Berufskarrieren verhindert jedes Sich-Einarbeiten, jede Entwicklung zuverlässiger Berufserfahrung. Um das gerade in Krisenzeiten zu verhindern, bin ich für den Erhalt der deutschen Tradition eines sozialen Rechtsstaat und für einen Ausbau der individuellen Rechtspositionen auch in Europa, die man - da will ich nicht falsch verstanden werden - durchaus ändern und auch mit Pflichten verbinden oder reduzieren kann, aber die Gründe müssen stimmen.
"Dämonisierung von Arbeitslosigkeit"
16) Können Sie uns erklären, warum Hartz 4 innerhalb der SPD und Grünen, bei den Gewerkschaften und Sozialverbänden, aber auch bei den Beziehern selber und in der Bevölkerung keinen nennenswerten Widerstand hervorruft?
Da bin ich, die ich schon sehr lange gegen diese Entwicklungen argumentiere, eigentlich die falsche Ansprechpartnerin. Unter den Erwerbslosen gibt es ja Widerstand, sie haben nur zu wenig Möglichkeiten, gehört zu werden und ihre Erfahrungen aufzuarbeiten. Sie brauchen einfach bessere, auch finanzielle Rahmenbedingungen und wenigstens die Anerkennung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Viele, die unter den Verhältnissen leiden, sind auch schlicht froh, wenn sie wieder arbeiten und sich nicht mehr daran erinnern müssen.
Viel hat auch mit der Dämonisierung von Arbeitslosigkeit zu tun. Der Wegfall einer bezahlten Arbeit wird doch erst schlimm, wenn man danach kein Geld und keine Perspektiven mehr hat. Daran, wie sich Manager, Politiker und EU-Funktionäre für die Zeit danach absichern, kann man lernen, wie komfortabel man solche Zeiten ausgestalten kann. Wenn aber Mitarbeiterinnen solch umstrittener Unternehmen wie Schlecker oder Nokia weinen, weil sie ihre Arbeitsplätze verlieren und alles tun, um nicht in die Betreuung der Behörde zu kommen, die für solche Fälle eigentlich da sein sollte, dann beweist das doch, dass sie ahnen, dass es jetzt noch viel schlimmer wird, und dass sie keine Hoffnung auf einen Neuanfang haben, dass also der Übergang, von dem Hartz-Kommissionsmitglied Günther Schmid so schwärmt, nur als das wahrgenommen wird, was er heute ist: eine Erpressungsmaschine.
Die prekär Beschäftigten haben genug mit ihrem täglichen Überlebenskampf zu tun. Wer in der Mittelschicht nicht gut abgesichert ist, hat einfach Angst vor dem Abstieg und versucht ihn mit allen Mitteln zu vermeiden, was viel Energie bindet. So wird die ganze Gesellschaft beeinflusst und paralysiert. Man sieht keine Alternative, weil die Entwicklung ja durch eine große politische und mediale Koalition getragen wird und sich nicht jeder nur deshalb der Linken anschließen möchte. Weil die Formulierung von Alternativen so unterdrückt wird, reagieren manche schon panisch auf die Forderung "Hartz IV muss weg" und denken, diese Forderung komme von der FDP und es solle ihnen auch noch die letzte Absicherung genommen werden.
In den Sozialverbänden und Gewerkschaften gibt es viele kritische Geister, aber insgesamt bleibt ihre Lage widersprüchlich:
Weil sie sich gleichzeitig mit ihren sozialen Angeboten einer rüden Kontrolle und einem Anpassungswettbewerb unterworfen haben, der sozialarbeiterisches Handeln verunmöglicht[4] und Gewerkschaften auch Mitarbeiter in Behörden, bei Beschäftigungs- und Bildungsträgern vertreten, die ums finanzielle Überleben kämpfen, beteiligen sie sich dann doch an Sanktionsaufgaben, akzeptieren Zwangszuweisungen und Übergriffe ins Persönlichkeitsrecht.
Nicht alle fordern - während sie selbst Tafeln und Armenkaufläden betreiben - so konsequent eine Regelsatzerhöhung wie der Paritätische Verband oder verdi. Und dann kommen SPD und Grüne, die uns im Moment helfen wollen, die Probleme zu lösen, die wir ohne sie gar nicht hätten. Sie hatten es 1998 schwer und waren verunsichert, weil sie vorher die Arbeitslosigkeit der Regierung Kohl in die Schuhe geschoben hatten. In den neuen Bundesländern wurden nach der Wende durch Strukturentscheidungen Millionen dauerhaft arbeitslos oder wanderten in den Westen, wo in den Jahren vorher auch schon Millionen aus dem Ausland zugewandert waren.
Aber im Westen veränderte sich das bezahlte Arbeitsvolumen nicht. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, mit denen Sozialdemokraten gerne hantieren, waren schon unter Kohl ausgereizt worden. Auf eine arbeitsrechtlich solide organisierte Dienstleistungsoffensive genauso wie einen Mindestlohn, den man unter Kohl aus verschiedenen Gründen noch nicht benötigte, kamen sie weder selbst noch einer ihrer bevorzugten Berater wie Streeck, Schmid oder Heinze. Kohl war nun weg, aber die Arbeitslosigkeit stieg weiter.
17) Dazu kam der internationale Trend...
Die von ökonomischen Anreiztheorien geprägten Arbeitsmarktkonzepte solcher Politiker wie Blair und Clinton mit klarer Workfare-Tendenz galten als schick und technokratische Arbeitsverwaltung wie in den Niederlanden als effizient. Die Bertelsmann-Stiftung, die zeitweise die halbstaatliche Forschungskoordinierung übernommen hatte, organisierte Bildungsausflüge in diese Länder, bei denen sich die Bürokratie selbst lobte und Hintergrundinformationen unterdrückt wurden[5].
Zudem begann man, konfrontiert mit der neuen Idee des New Public Management, Behörden aller Art als Blaupause eine Unternehmensstruktur überzustülpen und sich konsequent als Unternehmer zu sehen. Man fand in Unternehmensberatungen plötzlich Parteigenossen, traf bei Bertelsmann, VW und in der Versicherungswirtschaft auf befreundete Manager, die den Zugang in eine neue faszinierende Welt eröffneten, die vorher durch provinziellen Sozialstaatsmief verschlossen schien.
Von denen lernte man dann, dass Arbeitslosen keine hilflosen Opfer sind, sondern ganz ausgebuffte Versicherungsfüchse, die ihre Absicherung dazu verführt, ihre Freizeitpräferenzen zu genießen. Und dass man mit einem bisschen existenzieller Angst, Bevormundung und fürsorglicher Belagerung den Arbeitnehmer viel flexibler machen kann als mit guter Bildung und verlässlichen Rahmenbedingungen [1]. Zudem lernte man plötzlich ganz neue Unternehmen kennen, die man vorher in die Schmuddelecke gestellt hatte, und die sich durch den Slogan, schlechte Arbeit sei besser als keine Arbeit, rehabilitiert fühlten und ein Fülle von Arbeitsgelegenheiten kreierten oder virtuell vermehrten, ohne dass sich am realen Volumen etwas änderte.
"Rot-Grün hatten damit einiges aus dem Lambsdorff-Papier umgesetzt"
18) Was waren die Folgen?
Die kritiklose und naive Übernahme, die durch keinerlei rechtsstaatliche, ethische Bildung und Bindung korrigiert wurde, führte zu mehreren gravierenden Veränderungen: nicht nur zur Anerkennung, nein geradezu zur Verehrung von Leiharbeit, prekärer Selbständigkeit und Minijobs.
Die juristische, demokratische und menschenrechtliche Ebene wurde völlig ausgeblendet. Sie wurde sogar ersetzt durch eine neue Ethik, nach der es gegen die Menschenwürde verstoße, wenn jemand Geld ohne eine entsprechende Gegenleistung bekommt, was man aber aparterweise nur auf Arme und Erwerbslose beschränkte.
Vor lauter Begeisterung merkten Rot-Grün offenkundig gar nicht, dass sie damit einiges aus dem Lambsdorff Papier von 1982 umgesetzt hatten. Und heutzutage können sie sich entspannt zurücklehnen, denn in Europa sind noch schlimmere Kräfte am Werk: In Griechenland soll ja nicht die Grundsicherung gekürzt werden, die es noch nie gab, da soll der Lohn der wenigen noch voll arbeitenden Menschen auf etwa 600 Euro heruntergedrückt werden.
Dagegen wirkt Hartz-4 komfortabel und Sozialdemokraten und Grüne schweigen höflich, freuen sich über jedes Lob von Neoliberalen, die sich ihrerseits freuen, sie in der nächsten Krise zu weiteren Taten anspornen zu können, um Europa sozialpolitisch ganz weit unten zu einigen.
So lange sie aus dieser Denkrichtung nicht herauskommen, helfen ihnen auch verspätete Mindestlohnforderung oder Rentenpflaster nicht, Fehler zu korrigieren und vertrauenswürdige Gegenkonzepte zu entwickeln.
Ende
1) Helga Spindler, "Der sozialpolitische Konsens wird aufgekündigt". Die Steuerungstechniken des aktivierenden Sozialstaats und die Durchsetzung sozialer Rechte. In: Soziale Psychiatrie, Heft 3, Juli 2008
[1] heise.de/tp/artikel/37/37827/1.html [2] uni-due.de/edit/spindler/entrechtung_2009.pdf [3] nachdenkseiten.de/?p=4212
[4] uni-due.de/edit/spindler/Magdeburg.pdf [5] nachdenkseiten.de/?p=4212 [6] heise.de/tp/ebook/ebook_2.html Artikel URL: http://www.heise.de/tp/artikel/37/37828/1.html