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Das Bündnis

 

 

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Die ältesten Voraussetzungen für den totalen Sieg der christlich orientierten Menschheit, der gleichzeitig die totale planetarische Krise ist, reichen in die Vorzeit des Alten Bundes zurück — und diese ältesten Voraus­setzungen sind die wirksamsten geblieben. 

Für unsere Suche bietet sich also der historische Weg an. Er beginnt mit dem Fundament, das bereits in den ersten Kapiteln (I bis IX) des Buches Genesis, des ersten Buchs der Bibel, gelegt wurde. Hier finden sich die Bündnisse und Garantien, auf denen heute das Selbstverständnis der ganzen Menschheit ruht, soweit sie historisch aktiviert worden ist. Ohne dieses Selbstverständnis wäre der Weg in die heutige Welt nicht erklärbar. 

Man mag, wie Professor Jacques Monod das tut, alle bisherigen Welterklärungen und die daraus resultierenden Werte für Tun und Lassen unter dem Begriff des Animismus zusammenfassen: Tatsache bleibt dennoch — und wir werden versuchen es zu zeigen —, daß sich der jüdisch-mosaische Ansatz von allen anderen vorzeitlichen Ansätzen des menschlichen Selbstverständnisses grundsätzlich und qualitativ unterscheidet.

Ausdrücklich sei darauf verwiesen, daß hier keine wesentlich neuen Weisheiten angeboten werden: Es handelt sich fast durchweg um Arbeitsresultate der zeitgenössischen Theologie und Geschichtsforschung.

Die Prämissen des biblischen Schöpfungsberichts und der ihm folgenden Erzählungen lassen sich etwa so zusammenfassen:

Erstens — Der Mensch wird am letzten Tag der Schöpfung gebildet, und zwar nach Gottes Bild und Gleichnis. Wie groß immer der Abstand zwischen höheren Wirbeltieren und Insekten, zwischen Primaten und anderen Säugetieren sein mag, wie geringfügig sich die physiologischen Unterschiede innerhalb der Primatenarten im Vergleich dazu ausnehmen mögen: Dem Menschen allein ist Gotteseben­bildlichkeit zugeschrieben. Keinem anderen Lebewesen, keiner anderen Kreatur, auch nicht der gesamten Harmonie des Kosmos wird dieses Privileg eingeräumt. 

Aus der Tatsache, daß ihm die Kommunikation zu anderen Arten des Lebens wie auch zu den riesigen, gleichgültigen Dingen des Kosmos verschlossen ist, wird gefolgert, daß ein tiefer Graben zwischen dem Menschen und dem Rest der Schöpfung angelegt ist; ein Graben, der nicht als Unglück empfunden, sondern als Ausweis der grundsätzlichen Höherwertigkeit betrachtet wird.

Dies gilt bis heute. Es gilt auch für den eingefleischten Materialisten, der ganz physiologisch über die Entstehung unserer Art denkt. Er so wenig wie der Gläubige haben sich der Überzeugung entledigt, daß der Mensch in Theorie und Praxis der Kulminationspunkt ist: er ist telos, Ende und Ziel des Weltgeschehens.

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Zweitens — Jedem möglichen Zweifel über diese absolute und totale Überlegenheit steht Gottes Auftrag entgegen. Es ist der ausdrückliche Auftrag der totalen Herrschaft. Der Mensch wird gerufen, diese Erde zu erfüllen, sie sich Untertan zu machen. Magische Auflagen sind nicht damit verbunden, das heißt, es ist ihm völlig freigestellt, wie er diesen Auftrag vollzieht. Sonne und Mond sind Beleuchtungskörper, sonst nichts; Rohstoffe, Flora, Fauna sind ein Arsenal, über das er frei verfügt, sind Jagdterrain und Ernteacker.

Drittens — Diese Zuordnung ist ursprünglich als völlige Harmonie angelegt, als Paradies. Die sehr realistischen Autoren des Alten Testaments sahen natürlich klar, daß wir in keinem Paradies leben. Sie kannten gründlicher als wir den Hunger, die Krankheit, die Mühsal und Plackerei unseres Daseins. Aber dieser, der Spezies unerträgliche Zustand wird als Ergebnis einer Fehlentscheidung gedeutet — als Verfehlung des Daseinsziels. >Ein Ziel verfehlen< heißt griechisch hamartanein; das Verbum wird in christlicher Sprache allgemein mit >sündigen< übersetzt, und die erste, in der Genesis beschriebene Zielverfehlung nennen wir Erbsünde.

Sie ist ein Ärgernis, ein Skandal, der als solcher charakterisiert wird. Sie ist nicht, wie die biologische und ökologische Evidenz es nahelegen würde, eine zwingende Folge der Schöpfungsordnung selbst, ihrer Lebensketten von Aufstieg und Untergang, von Bewährung und mangelnder Anpassung, von Fressen und Gefressenwerden. Sie ist vielmehr ein Webfehler, der vom Menschen in den Teppich des göttlichen Wohlwollens eingeschmuggelt wurde — und es wird etwas dagegen unternommen werden: der Schlange wird dereinst der Kopf zertreten. Das heißt aber: Heilsgeschichte wird verheißen.

Viertens — Schöpfungsauftrag, und das heißt auch Schöpfungsgarantie, werden in den Kapiteln VIII und IX der Genesis nochmals präzisiert. Diese Stelle, hochbedeutsam wie sie für unser gesamtes Gefühls- und Geistesleben, aber auch für unsere wirtschaftliche und soziale Praxis ist, hat wesentlich weniger Beachtung gefunden als der Schöpfungsbericht; sie sei daher kurz rekapituliert.

Nach der Sintflut verlassen Noah und die Seinen die Arche. In einem feierlichen Opfer wird Versöhnung gefeiert, der Pakt zwischen Gott und Mensch wird erneuert, und der Regenbogen erstrahlt als Bundeszeichen. 

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Und nun offenbart Gott einen Entschluß, der lautet: »Nicht aufhören werden Saat und Ernte mehr, Furcht und Zittern« (das heißt Furcht und Zittern vor dem Menschen) »wird die Tiere nicht mehr verlassen.« Die Begründung, die Gott selbst für diese Garantie gibt, zeugt vom hohen Reflexionsgrad der alten Autoren. Gott erklärt nämlich, daß es zwar Grund zu hundert und tausend neuen Sintfluten geben werde, ebensoviel Grund wie für die erste und eine, weil der Mensch »böse sei von Jugend auf« — mit anderen Worten, Gott selbst hat einen Lernprozeß durchgemacht, er hat gelernt, daß Strafe, auch kosmische, die Grundbefindlichkeit des Menschen nicht verändert. Von nun an steht er sozusagen bedingungslos zu seinem Erbarmen. Die Stabilität der Erde, die Hinordnung der gesamten planetarischen Biosphäre auf den Menschen wird erneut bestätigt und detailliert — ungeachtet aller Verbrechen, die er gegen sich selbst und gegen die Biosphäre begehen kann und begehen wird. Er, der Mensch, ist ausdrücklich aus dem ökologischen Zusammenhang herausgenommen, dessen logische Risiken nicht für ihn gelten, was immer andere Arten überkommen mag. Seine, des Menschen, kollektive Unsterblichkeit ist durch göttliches Edikt gesichert.

 

— Soweit das Bündnis und seine Garantien. Wir alle, auch die, welche keinerlei religiöse Instruktion mehr genossen, kennen sie — und halten sie, ob wir das reflektieren oder nicht, für selbstverständlich. Wir machen uns nicht klar, wie entschieden sie alle unsere Ansichten über die Welt und den Menschen bestimmt, wie sehr sie vor allem unsere Praxis programmiert haben. 

Es ist deshalb notwendig zu zeigen, vor welchem Menschheitshintergrund sie erstmals formuliert wurden, und welche Negationen, welche Zurückweisungen sonstiger Welt- und Schöpfungsbilder sie enthalten.

Erstens — Der Mensch ist ein Geschöpf ganz eigener Art. Er steht für sich; und dieses Für-sich-selbst-Stehen impliziert, daß Tiere, Pflanzen, Himmelskörper zu seinem Dienst bestimmt sind. Mit dieser These setzt sich das jüdische Denken radikal vom primitiven Denken, aber auch von der religiösen Grundstimmung aller Mittelmeerkulturen ab. Für den Primitiven ist die Dichte, die Verschlossenheit der Schöpfung, der Sterne, der Tiere, der Bäume, keineswegs ein Kriterium für ihre absolute Dienstbarkeit, sondern eher für ihre überragende Mächtigkeit.

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Im Kreisen von Sonne, Mond und Planeten; im Rauschen der Haine; in den gelben, gleichgültigen Augen des Löwen sieht er, fühlt er das Numinose am Werk, das es zu beschwichtigen oder (mit den vorwissenschaftlichen Mitteln der Magie) zu bändigen gilt. Trennung von >Heiligem< und Profanem wäre ihm widersinnig. Und die mediterranen Hochkulturen, die Israel umgaben, hatten aus dieser ursprünglichen Verschlingung eine politische Virtuosität gemacht.

Der Exodus aus Ägypten ist, folgerichtig, nichts als die Konsequenz eines radikalen inneren Auszuges: der Verbannung aller dieser kosmischen, animalischen, tausendfach verschlungenen Götter- und Weltpotenzen ins Nichts, der Entschluß zu einem unsichtbaren Gott ohne Namen. 

Die Stämme, die ausziehen, negieren damit nicht nur Ägypten. Sie wandern in ein Gelobtes Land, das von orgiastischen Kulten erfüllt ist. Der Kampf um die Reinheit der Lehre (das heißt auch: Reinheit der Negation) wird zur historischen Existenz Israels schlechthin. Wie es — anfänglich — die Dämonen und Idole der Philister und Amalekiter zurückdrängt, die doch immer wieder durch unbewußte Pforten zurückkehren, so verschließt sich Israel der chaldäischen Sterndeuterei, wird es sich später (mit wechselndem Erfolg, aber im ganzen unter Wahrung seiner Identität) gegen die Spekulationen der griechisch-hellenistischen Umwelt zur Wehr setzen.

Die kosmisch-polytheistische Grundstimmung der Antike, welche einige der schönsten Werke der menschlichen Kunst hervorgebracht hat, bleibt ihm völlig fremd. Es nimmt nicht wunder, daß Denker aus dem griechisch-römischen Raum dies als Ärgernis, zumindest als Mangel an differenziertem religiösen Denken empfinden. Tacitus faßt das in einem Satz zusammen, der gegen die Juden gerichtet ist: profanum Ulis omnia quae apud nos sacra — alles ist ihnen profan, was uns geheiligt ist. (Sacrum wird hier selbstverständlich vorchristlich gebraucht: Moral oder Ethik steckt gar keine in dem Wort, es beschreibt das Numinose, das gleichzeitig oder wechselweise »gut« und »böse« sein kann.) Die Anklage der alten Welt gegen das Juden- und später das Christentum wurde wegen des Tatbestands der asebeia, der impietas erhoben; also der Negation aller ziemlichen Verehrung für das der Welt innewohnende Heilige, Numinose.

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Der Tatbestand war sicher vorhanden. Weder die alten Apologeten, die in den Christenverfolgern nur Werkzeuge eines finstern Wahns bzw. Satans sahen, noch die undifferenzierten Tiraden der alten und marxistischen Aufklärung, die einfach alles >Religiöse< in den großen Opiumschrank schmeißen, sind dieser radikalen Andersartigkeit der jüdischen Tradition ansichtig geworden — und wurden infolgedessen auch niemals ihrer eigenen, fragwürdigen Prämissen gewahr. (Seit Bloch hat sich dies glücklicherweise geändert; davon später mehr.)

Wie Gollwitzer und andere nachgewiesen haben, verläuft die entscheidende Grenze nicht einmal zwischen Polytheismus und Monotheismus, sondern zwischen jeder Art von >Theismus< und dem neuen Gottesverständnis der judäischen Überlieferung. Die Bilder der Genesis-Kosmogonie machen dies hinreichend klar.

 

Zweitens Eine der für die Gegenwart wichtigsten Negationen steckt in der altbiblischen Erbsünde-Erzählung. 

Es ist fast irreführend, den Ausdruck auf den Genesis-Bericht von der Paradiesvertreibung anzuwenden; und zwar deshalb, weil der Begriff der Erbsünde in späteren Jahrhunderten, vor allem durch Augustinus, sehr fragwürdig verinnerlicht wurde. Fast alle Interpreten sind sich heute einig, daß diese Verinnerlichung manichäisch-dualistisch bedingt war: sündige Verderbtheit als Gefangenschaft in den Trieben des Leibes. 

Nun kannte aber die alte biblische Tradition diesen Dualismus nicht. (Hier ist nicht der Ort, eine Exegese der Stelle zu versuchen: »Sie erkannten, daß sie nackt waren.« Es sei nur daraufhingewiesen, daß Leszek Kolakowski eine sehr geistreiche Interpretation unternommen hat.) Der Fluch Gottes, den die Genesis enthält, handelt keineswegs vom inneren Menschen und seiner Verderbtheit. Hier geht es, ganz handfest, um das Ende des Paradieses, das heißt aber: um die Ausdehnung der Gesetze biologischer Kreatürlichkeit auf den Menschen. Er stirbt nun, er leidet Schmerzen, er kämpft gegen Unkraut und Unwetter, rackert sich um das tägliche Brot. Das sind keine seelischen Unzulänglichkeiten oder Perversionen, das ist einfach Schicksal des Lebens überhaupt. Und gerade dieses Schicksal wird negiert. Es wird nicht als unvermeidliches Daseinslos des Menschen, sondern als Eingriff in Gottes wahre Absicht mit dem Menschen gedeutet.

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Damit unterscheidet sich das jüdische Grundgefühl wieder radikal von allen anderen Sinndeutungen des Lebens. Abgesehen vom Fernen Osten, der menschliches Leid als Spielregel in eine ungeheure kosmische Lotterie hineinnimmt, war hier einer der belastendsten Ideen der griechisch-römischen Antike der Kampf angesagt: der Idee der Moira.

Moira, das ist das blind waltende Schicksal, das noch über den lachenden Göttern des Olymps hängt. Sie war allgegenwärtig in der antiken Grundstimmung; dies wird meist von jenen übersehen, welche lachende Götter Griechenlands gegen Erbsünde und Christentum ausspielten und ausspielen. Jupiter und Aphrodite, so kann man dagegen nur sagen, sind selbst nach antiken Begriffen viel zu unkompetent, um gegen Jahwe ins Feld gefuhrt werden zu können. 

Die Antike war eine Zeit ungeheurer Düsternis; alle Spekulationen einer philosophischen Oberschicht änderten daran nichts. Die Lehre von den Zeitaltern, die sich vom goldenen zum eisernen verschlechtern; die schwarze Unterwelt; das Rollen des zyklischen Rades der Wiederkunft bestimmten das vorherrschende Gefühl. Gegen Ende der kreativen Epoche hat es Vergil in einem Satz zusammengefaßt: cadunt de montibus umbrae — von den Bergen fallen die Schatten. Der furchtbare Schatten war die Realität, die alles überfiel. 

Homer und die Tragiker kannten keine Hoffnung in dem Sinne, den wir heute dem Worte geben. Dem setzt der Bericht vom Sündenfall Hoffnung gegenüber. Keine individuelle Hoffnung des Noch-einmal-Davonkommens, keine Hintertür für den Adepten oder den erleuchteten Weisen, der mittels Meditation der Welt des Fressens und Gefressenwerdens entwischen will — aber auch keine dualistische Hoffnung auf Weiterleben der reinen Seele nach dem Zerfall des Leibes der Verderbnis. Vielmehr die feste Zusage einer künftigen Korrektur des unerträglichen Weltzustandes, eine kollektive Zusage für die Welt des Menschen schlechthin. Geschichte wird damit zu einer Linie mit Anfang und Ende, Versöhnung zwischen Kreatürlichkeit und Heilsplan ist ihr Ziel.

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Drittens Der Mensch ist sicher, das heißt, er ist von Gott versichert, dieses Endziel zu erreichen, und zwar durch das Bundeszeichen des Regenbogens. Er kann auch im Kreatürlich-Vorläufigen seine Herrschaft errichten, er braucht keine Furcht zu haben, daß die Ressourcen, die der Schöpfer ihm allein zur Verfügung stellt, sich erschöpfen könnten. Seiner Arbeit, das heißt der Ausbeutung der Biophäre zugunsten einer einzigen Spezies, sind lediglich die Grenzen des eigenen Vermögens gesetzt. Der Mensch, der in solchem Bund steht, braucht nicht vor der undurchsichtigen Macht anderer Geschöpfe zu zittern, er braucht sich keiner zusätzlichen magischen Potenz zu bemächtigen, er braucht sich auch nicht, wie der Jäger der Steppe, beim toten Bären oder Bison zu entschuldigen. Furcht und Zittern aller anderen Kreaturen sind nicht nur zugelassen, sondern Teil der Ordnung, die der Pakt begründet und bekräftigt. Niemals wird es an Ackerland mangeln, nie wird sich der Boden erschöpfen, irgendwo in der Biosphäre wartet die jungfräuliche Krume, Saat und Ernte werden weitergehen. (Jahrtausende später, anno 1492, wird diese Garantie ihre folgenschwere Bestätigung finden.)

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Damit ist das jüdische >Programm< umschrieben, soweit es den weltlichen Zustand der heutigen Welt betrifft. Wie wirksam es bis in unsere Tage geblieben ist, und zwar nicht nur für Juden und Christen, sei hier an einem einzigen Beispiel dokumentiert (in späteren Kapiteln wird darüber im Zusammenhang zu handeln sein).

Jedermann kennt die elfte These Marxens zu Feuerbach: »Bisher hat die Philosophie die Welt interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.« Was heißt hier >Welt<? Sicher ist zunächst an die >Natur< gedacht, die Biosphäre, die unser kleines Heim im Kosmos ist. Aber warum gilt es sie zu verändern? Weil sie dem Menschen keine Heimstatt, kein Auskommen, nicht genügend Hoffnung bietet?

Verändert werden soll sie — das ist bei Marx evident — durch die Veränderung nicht der natürlichen, sondern der menschlichen Verhältnisse. Stillschweigend vorausgesetzt wird, daß die Potenzen des Menschen durch die gesellschaftlichen Mächte gefesselt sind und daß ihre Freisetzung auch die Welt der Natur verändern wird.

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In welcher Richtung aber wird sie diese Welt verändern? Sie wird den Menschen instandsetzen, seinem Auftrag nachzukommen — dem Auftrag der wirklichen, der totalen Weltbeherrschung, der Ausbeutung des profanen Arsenals Schöpfung. Im Zuge dieser >Welt<-Veränderung wird nicht nur der Staat absterben (denn was ist der Staat, wenn nicht die Zwangseinrichtung einer ungenügend produktiven Menschheit?), sondern auch die Bedingungen der Kreatürlichkeit — mit der einen möglichen Ausnahme des individuellen Todes.

Veränderung der Welt im Sinne der marxistischen These setzt also judäisch-christliches Erbe voraus — und zwar gerade die Überzeugungen des Erbes, die höchst >unrealistische< Elemente einschließen.

Seien wir ehrlich: läßt sich die Stellung des Menschen in der Welt nicht viel zwangloser deuten, wenn man seinen kreatürlichen Schmerz als Grundausrüstung der Art auffaßt? Wenn man das Gefühl der Unerträglichkeit, das ihn beseelt, einfach als Waffe gelten läßt, ähnlich den Reißzähnen des Tigers — die einzige Waffe, die es diesem schlecht ausgestatteten Wesen ermöglicht, sich durchzusetzen und zu überleben, dann zu siegen in einer feindseligen Welt? Wenn man die Tatsache seiner (biologischen) >Frühgeburt<, die ganze Insuffizienz seiner animalischen Wirklichkeit als Grundlage für seinen Hunger nach Realitätsveränderung betrachtet?

Nun, solche Betrachtungsweise setzt wissenschaftliche Erkenntnisse voraus; sie setzt, mit anderen Worten, Aufklärung voraus; und zwar die Aufklärung in ihrer zweiten, nüchternen Phase. Die erste Phase jeder Aufklärung ist die des Optimismus, des humanistischen Engagements; sie tritt gegen alte Herrschaften und Geistesmächte aus dem Vollgefühl der Kraft an, ihre analytischen, zersetzenden Waffen richten sich nicht gegen die >Natur-< oder Schöpfungsordnung, sondern gegen die Unzulänglichkeit und Unwilligkeit der alten Mächte, das Menschheitsprogramm des alten Bündnisses der Verheißung zu verwirklichen. Alle neuzeitlichen Aufklärungsbewegungen einschließlich des Marxismus wurden aus solchem Pathos geboren: die Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises war immer mit einem neuen, >ketzerischen< Ja zur Verheißung verbunden, einem Ja zu der Schlußzeile des Triumphgesangs aus der >Zauberflöte<: »Wird der Mensch den Göttern gleich.«

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Aber als Kronzeugin für diesen Optimismus bemühte und bemüht man die Wissenschaft — und damit enthält die erste Aufklärungsphase zwangsläufig den Keim zur zweiten: der pessimistischen Phase. Oft bleibt der Übergang den Zeitgenossen selbst verborgen — oder sie begreifen seine Bedeutung nicht. Voltaires Abwendung von der besten aller Welten ist bekannt — sie fand unter dem Eindruck des Erdbebens von Lissabon statt. Dieses Erdbeben wirkte auf die Geister des 18. Jahrhunderts etwa so, wie Nazismus und Zweiter Weltkrieg auf die europäische Intelligenz unseres Jahrhunderts wirkten: als Erschütterung der naiv-aufklärerischen >Der-Mensch-ist-gut<-Position. Die Natur, vielberufene Alliierte im Kampf gegen finstere gesellschaftliche Unterdrückung, enthüllte plötzlich ihr wahres Antlitz: jenes Antlitz, das Bertrand Russell, ein späterer Aufklärer, die »schweigende Gleichgültigkeit der wahrhaft großen Dinge« nennt. Und Voltaire, der Desillusionierte, zieht sich zurück, um seinen kleinen Garten zu bebauen.

Da die Bedeutung dieses Umschwungs den Zeitgenossen meist verborgen bleibt, ist es ihnen möglich, den alten Angriff auf die >Kirche< munter fortzusetzen — ohne daß sie sofort begreifen, daß er nun aus einer gänzlich anderen Richtung erfolgt. Nicht mehr der Unterdrückungs-Mechanismus, die Jenseits-Angst, die Fortschrittsfeindlichkeit werden attackiert, sondern die naive, vorwissenschaftliche Identifizierung von Schöpfung und Verheißung, die lächerlich unaufgeklärte Annahme, daß Gott für den Menschen >da sei<.

In der Praxis wird dieses Umschwenken der Aufklärung klarer als im Bewußtsein. So hat etwa die politische Praxis der Französischen Revolution beide Phasen reproduziert. Dem Fest der Freiheit folgt der Terreur, und den Terreur vergleicht und rechtfertigt Saint-Just vor dem Konvent mit der erhabenen Arbeitsweise der Natur, mit Erdbeben und Vulkanen. Theoretisch weniger ehrlich ist die Terrorphase des Marxismus: Niemals hat er sich in der Theorie vom Guten Menschen, von der Heilsgeschichte abgewandt, hat immer am zwangsläufigen Nahen der Verheißung festgehalten. Aber in der Praxis hat der

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Priesterschüler und Terrorist Dschugaschwili (der wohl, mehreren Quellen zufolge, eine Zeitlang auch für die Ochrana gearbeitet hat) eine ganz andere Anthropologie anerkannt. Er demonstrierte sehr handfest seine Überzeugung, daß nicht die freie Assoziation der Produzierenden, nicht das Absterben des Ungeheuers Staat auf dem Programm der Menschheit steht, sondern der Marsch durch die Wüste und das Land der Ungläubigen, wobei es ohne Schädelhaufen am Wegrand nicht abgeht; er handelte nach der axiomatischen Überzeugung, daß der Satan Klassenfeind umgeht wie ein brüllender Löwe. Wer dieser >Deformation< tapfer das sozialistische Schild mit dem menschlichen Antlitz entgegenreckt, der hat nie begriffen, in welches Medusenhaupt Josef Stalin geblickt hat.

Freilich, Stalin ist ohne anderthalb Jahrtausende Kirchengeschichte nicht vorstellbar; darüber wird noch zu handeln sein. Erwähnt werden muß schon hier sein Satan; denn er ist, wenn auch unter anderem Namen, der altböse Feind des jüdischchristlichen Erbes. In unserer Paradieserzählung wird er nicht mit Namen genannt; der Versucher ist die >Schlange<; merkwürdigerweise ein Zeichen, das während des Exodus von Moses in der Wüste als Heilszeichen errichtet wird. Freilich, fast jeder Exeget hat die Schlange mit Satan gleichgesetzt.

Aber wer oder was ist Satan? Der antike Polytheismus benötigte ihn nicht; das Dämonische war irgendeinem göttlichen Kraftfeld zugeordnet, und der kreatürliche Schmerz war Folge der Moira, des waltenden Schicksals. Auch dualistische Systeme kennen den >Satan< letzten Endes nicht, denn sie stellen Gut und Böse als gleichwertige Kräfte gegenüber, nehmen den Menschen für die Herrschaft des Lichtes in Pflicht. (Aus dem Persischen ist dieser Dualismus weit ins Spätjudentum und ins Christentum vorgedrungen, zuletzt und am entschiedensten in der Form des Manichäismus. Manichäische Bogumilen gab es in Kroatien und Dalmatien noch bis ins 9. Jahrhundert.)

Dualismus ist nicht biblisch, kann es nicht sein. Unter einem Schöpfer, der gleichzeitig der Herr der Verheißung ist, kann es kein gleichrangiges Prinzip des Bösen geben. Satan und die Seinen sind minderen Ranges, sind abgefallene Engel. Aber ist damit irgendeine logische Schwierigkeit behoben? 

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Wird sie nicht philosophisch noch kompliziert, wenn Thomas von Aquin, dem Aristoteles folgend, das Böse als die Abwesenheit des Guten< definiert? Satan ist doch eine Individualität und was für einen Platz hat solche Individualität im Nichts? Der Theologe H. Gollwitzer formuliert das ewige jüdisch-christliche Problem ganz ehrlich: »Alles Wirkliche stammt von Gott. Das Böse ist wirklich, aber es stammt nicht von Gott.« 

Satan ist und bleibt die Quadratur des jüdisch-christlichen Circulus vitiosus. Immer wieder besiegt und totgesagt, bleibt er mächtig; ja, in Heilszeiten mächtiger denn je. Schon geschlagen, umheult das Böse die ewigen Pforten und zwingt zu ewiger Wachsamkeit: Keine Täuschung ist dem Nichts verwehrt, so kann es alles werden — kein Opfer kann es versöhnen, und so fordert es Hekatomben von Opfern. Es kann in Hexen, in Häretikern, inmitten der Gemeinde, unter den ältesten und bewährtesten Genossen auftauchen. Christliche Wachsamkeit erkennt es zwar in jeder Verkleidung, aber Scharen von Getreuen fallen seinem finstern Raunen anheim, müssen aus dem gesunden Volk der Erwählten eliminiert werden. So ist Satan, ein Nichts, zum wirksamsten Partner unserer Geschichte geworden.

Beenden wir hier unseren notwendigen Vorgriff. 

Für das kleine Volk, das sich auf die ersten Verheißungen stützte, war das Böse zunächst konkret genug: Es waren die Feinde, die es rings umgaben. Die Israeliten erlebten ihren Gott nicht als den Erschaffer von Sternen und Walfischen, sondern als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sie herausführte aus Ägypten, der sie umwirbt wie der Bräutigam die Braut, der zürnt, wenn sie abfallen, und verzeiht immer wieder, wenn sie versprechen, zu ihm zurückzukehren. Ringsum herrschen Götzen und Bilder über orgiastische Hochkulturen, die den zwölf Nomadenstämmen zivilisatorisch überlegen sind. Das Eisen bekommt man von den Philistern, und die politische Geschichte der Juden verläuft denkbar elend, ihre geographische Lage zwischen den Großmächten des Nordens, des Ostens und des Südwestens bringt sie in permanente Lebensgefahr. Wer >politisch< denkt, ist Synkretist, das heißt, er arrangiert sich mit den Nachbarn und ihren Mächten. Gideon, der erste Richter, mußte aus dem väterlichen Haus die Idole der Kanaaniter entfernen, ehe er zum Kampf gereinigt und bereit war.

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Die Männer, welche die nationale Identität retteten, waren nicht die Politiker, sondern die Propheten. Der Typus ist nicht nur von der Geschichte Israels her bekannt; aber in keiner anderen Kultur erlangt er die überragende Geschichtsbedeutung. Die Ethnologie stößt auf den Propheten immer dort, wo eine primitive Sozialverfassung unter den Druck übermächtiger auswärtiger Einflüsse gerät; auch bei Mohammed war dies der Fall, und die Indianer Nordamerikas, von den Irokesen bis zu den Geistertänzern, folgten den Geschichten derer, die ihnen wunderbare Rettung vor den überlegenen weißen Mördern durch neue, revolutionäre religiöse Ansätze verhießen.

Die Kette der jüdischen Propheten aber ist anderen Sehern dadurch überlegen, daß sie vor dem Hintergrund der ständigen Todesdrohung die Aneignung und Reflexion der Verheißungen in einen ständigen Lernprozeß verwandelte. Während das jüdische Königtum nach wenigen Generationen unterging, während die letzten gekrönten Häupter im babylonischen Exil ihre dürftige Apanage verzehrten, kämpften die Propheten um die nationale und religiöse Identität, aber auch gegen den Ritualismus der gesellschaftlich Mächtigen, nahmen Partei für die Armen und Unterdrückten, entwarfen das unerhörte Bild eines toten Volkes, dem der Atem des Herrn immer neues Leben einhaucht. 

Auch sie gaben der Welt, unserer Welt, ein Erbe weiter: das Erbe einer Erwählung, die gerade den Niedrigsten und Verachtetsten zuteil wird. Indem sie solche Erwählung nicht mehr als ein stammesgeschichtliches Privileg, sondern als eine Verantwortung aus höherer Erkenntnis deuteten, und indem sie unabhängige Münder Gottes gegenüber dem Volk wie gegenüber den Mächtigen blieben, haben sie einen Typus des Engagements geschaffen, der in der übrigen Antike unbekannt war. Er ist bis in unsere Tage für unsere gemeinsame Tradition verbindlich geblieben. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Israeliten >falsche Propheten< kannten; also solche, die den Herrschern, den Mächtigen oder dem trägen Volk nach dem Munde redeten, nicht nach dem Munde Gottes.

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Während die Geschichte Gottes mit seinem Volk als politische und Sozialgeschichte erlebt und gedeutet wurde, geht in den Psalmen, in den Weisheits­büchern, im Buch Hiob eine andere Auseinandersetzung vor sich: die Auseinandersetzung um die Identität des Gottes der Schöpfung mit dem Gott der Verheißung. 

Der Gegensatz zwischen unerträglichen Zuständen und der großen Verheißung ist ihr zentrales Thema, und das Leid des Gerechten ist ihr Grundmotiv — ein Skandal, den sie ständig vor das Antlitz des Höchsten hält. Dem Gott des Bundes wird — wenn das kühne Bild erlaubt ist — kein Ausweg gestattet; weder in die Theodizee, das heißt in die Annahme, daß Leid noch allemal Strafe für Sünde oder Un Vollkommenheit ist, noch in den Dualismus, der das Leid auf ein irgendwie geartetes, Gott nicht unterstehendes Widerprinzip zurückführt. Gott wird verantwortlich gemacht; am klarsten wird dies im Buch Hiob, wo er — auf Grund einer Wette sozusagen — dem Satan freie Hand gegen den Frommen gibt. Der Fromme ist kein Fatalist oder Duckmäuser; aus seinen Schwären, seiner Trauer, seiner Einsamkeit klagt er an, ruft Gott wider Gott an — er weist allen Zuspruch der Freunde zurück, die so oder so auf Theodizee oder Harmonisierung hinauswollen. Er fragt Gott nach dem Zustand seiner Welt, das heißt der Menschenwelt.

Gott antwortet nicht auf diese Anfrage — jedenfalls geht er nicht auf das Thema ein. Er antwortet als der Schöpfer, antwortet ironisch: »Wo warst du, als ich die Grenzen der Erde setzte?« Es ist verständlich, daß Ernst Bloch bei seiner Analyse des Buches Hiob diesen Schöpfer einen >finster-weisen Natur-Baal< nennt, dem nichts anderes einfallt als der Hinweis auf seine Morgenröte, seinen Walfisch und seinen Elefanten. In der Tat: jüdischchristliche Gottesvorstellung hat wenig mit dem Anstaunen von Weltformeln und fast alles mit dem Trocknen von Tränen zu tun. Aber wenn Bloch daraus für unsere Stelle auf zwei >Götter< folgert, nämlich den Bluträcher, den Hiob in eigener Sache anruft (und aus dem später folgerichtig der Nicht-Gott des humanistischen Atheismus werden wird) und den Natur-Baal, gegen den Hiobs Prozeß läuft, so verfällt er selbst einem manichäischen Schema: eben dem Schema eines humanistischen Atheismus gegen einen unmenschlichen Theismus. 

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Solche Einteilung ist dem Buch Hiob fremd. Der Fromme bescheidet sich; nicht, weil ihm Elefanten und Morgenröte so besonders imponieren (er spricht über sie), sondern weil er überhaupt Antwort erhalten hat. Daß Gott antwortet, beweist, daß er zu uns spricht, daß er also verheißen kann und verheißen hat; daß er auf den Kosmos, nicht auf den Menschen verweist, zeigt, daß er nicht nur der Stammesgott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, sondern auch der Gott, dem alle Frommen der Welt ihre Furcht schulden.

So erreicht das Buch Hiob jenen höchsten Punkt der Frömmigkeit, der innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition vorstellbar ist. (Hoffentlich ist klargeworden, daß der Ausdruck >Frömmigkeit< hier nichts Negatives besagt.) In kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden wird dieser Gipfel immer wieder von anderen Frommen, anderen Genies der Hingabe erklommen werden. Aber nicht diese Kühnheit der wenigen hat unsere weltliche Geschichte bestimmt, sondern der Weg der Botschaft durch die Reiche der Welt, durch die Vorstellungen von Sklaven, Fischern, Generalen, Kaisern, Feudalherren, Mönchen, Bürgern und Intellektuellen. Der Kern der Botschaft aber (dies sei hier wiederholt) war die Auserwähltheit des Menschen vor aller Schöpfung, war der totale Herrschaftsauftrag, war die Zusicherung einer Heilsgeschichte, welche dereinst alles kreatürliche Leid überwinden wird, und die Zusicherung eines Gleichgewichts der planetarischen Biosphäre zugunsten des Menschen. Solange diese Botschaft in das Gesetz eines kleinen Volkes am Ostrand des Mittermeers eingebunden blieb, konnte sie ihre Wirksamkeit nicht entfalten; es bedurfte der Internationalisierung der hebräischen Strukturen — es bedurfte des Menschensohns von Nazareth.

 

  Das Fest  

 

Rom lastete auf der Welt; und auf Palästina lastete es besonders schwer. Für die Herrscherin war diese kleine Weltecke zwar unbedeutend, aber doch ärgerlich. Die Armut war groß, selbst für spätantike Verhältnisse; Tribute einzutreiben, war mühsam, aber eine starke Garnison war nötig, um das Volk, das in den Augen der Römer ebenso verlumpt wie arrogant und starrköpfig war, im Zaum zu halten.

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Vor allem war die religiöse Intoleranz der Juden ein negatives Politikum erster Ordnung: Überall sonst im Reich waren die Symbole des Caesar als Integrations­faktoren verwendbar sei es im östlichen Kult, der dem Kaiser schon göttliche Ehren erwies, sei es in den alten, halb politischen halb numinosen Kategorien der westlichen Reichsteile, in denen man noch mit den Formeln der republikanischen Tradition arbeitete. 

Hier aber, in Palästina und vor allem in Jerusalem, waren laufende Zusammenstöße mit den Hebräern, welche die pietas, die ziemliche Verehrung des Heiligen, grundsätzlich verweigerten, so gut wie unvermeidlich. Der Prokurator Pilatus hatte, wie wir aus profanen Quellen wissen, für brutale Konfrontationen ein besonderes Talent; aber die spätere Geschichte Judäas und sein Untergang sind Beweis genug, daß die Integration dieses geschlossenen jüdischen Gebiets ins Reichsganze ein hoffnungsloses Unternehmen war.

 

Wer war er? Was wollte er wirklich? Was hat er uns hinterlassen? — Mitten in einer säkularisierten Welt sind plötzlich wieder Millionen an der Frage interessiert; es scheint fast, als habe die gesellschaftliche Schwächung der Kirchen Energien für solche >Suche nach Jesus< freigesetzt. Man interpretiert, stilisiert und manipuliert ihn auf die verschiedenste Weise: als Bandenchef und antiken Che Guevara, als Mann in schlechter Gesellschaft, als den >vierdimensionalen< Menschen; man bringt ihn bald mit dieser, bald mit jener Tradition in Verbindung: mit Zeloten, Pharisäern, Essenern. 

Es ist aber fraglich, ob mit alldem neue Erkenntnisse über das gewonnen werden können, was uns besonders angeht: über sein Fortwirken in der christlichen Geschichte. Unsere Methode erlaubt es, die Frage ohne Hantierung wichtiger und schwieriger historischer und exegetischer Probleme anzugehen: Wichtig ist, wie er gewirkt hat — als lebendige Kraft in seinem Volke und später als Mittelpunkt eines Glaubens und vieler Kirchen.

Die Exegese beschreibt ihn typologisch als charismatischen <Außenseiter>; und die Tatsache seiner Verfolgung sowie die Umstände seines Todes legen nahe, daß es zumindest in der letzten Phase jeder Rückendeckung durch die bestehenden politischen und religiösen Gruppierungen verlustig gegangen war. Der >Che< der linken Jugend war er sicher nicht; ebensowenig wie das kraftlose Kitschbild der kommerziellen Jesuswelle.

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Wenn er >Revolutionär< war, dann in jenem alten Wortsinn, den Hannah Arendt für uns herausgearbeitet hat: Er hat überlieferte und längst entfremdete Wahrheiten so wörtlich genommen, daß sie völlig neu und umwälzend wirkten.

Dies gilt insbesondere für die alten Garantien und Verheißungen: eine >Theologie< (wenn der Ausdruck überhaupt erlaubt ist) vollendet die prophetische Entwicklung zum Erlebnis eines geliebten und liebenden Gottes. Er nennt ihn den Vater, vor allen anderen Titeln (die er eigentlich nur in Kontroversen verwendet). Er nennt das Reich der Himmel gegenwärtig; verhüllt noch, aber real und in ihm selbst vorhanden. Verheißung und Schöpfung, die Parallelen, die nie zusammenkommen wollten, sind dabei, sich zu finden.

Diese Einigung, diese heilige Hochzeit offenbart sich in den Wunderheilungen und in der Predigt. Seine Botschaft ist Aktion — und diese Aktion selbst ist schon das Reich, wenigstens sein entscheidender Beginn. Die Schrift subsumiert dies in seiner Antwort an die Jünger des Johannes, die im Namen des gefangenen Meisters anfragen: »Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?« Diese Antwort ist nur scheinbar ausweichend: »Blinde sehen, Lahme gehen, den Armen wird das frohe Wort verkündet.« Die Form ist hier so wichtig wie der Inhalt der Aussage: Jesus weigert sich, sein >Wesen< im historischen oder theologischen oder anthropologischen Sinn zu definieren, er geht einen Schritt nach vorn in die Praxis, spricht über den Prozeß, die Praxis der Enthüllung des Reiches — und stellt damit anheim, daß dieser Prozeß selbst das >Reich< ist.

Wir haben enorme Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Denn keiner von uns, ganz gleich, ob er durch eine christliche Erziehung gegangen ist oder nicht, liest die Evangelien als Bericht einer zusammenhängenden Aktion; schon deshalb nicht, weil sie gar nicht als solcher entstanden sind. Es sind zusammengefaßte Logien und Bestandteile der mündlichen Tradition (wobei wieder nicht wichtig ist, wann die jeweiligen Redaktionen stattfanden, jedenfalls nicht für unsere Zwecke).

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Sie sind, dem Bedürfnis der späteren Gemeinden folgend, in einem gemessen-hieratischen Tonfall geschrieben. Sie stilisieren und verlangsamen. Dazu hat die Gottesdienstpraxis die Evangelien in viele Einzelgegenstände der Betrachtung zerlegt, die feierlich vorgetragen und je nach dem Frömmigkeitsstil der aufeinanderfolgenden Jahrhunderte interpretiert wurden.

Versuchen wir, um ein modernes Bild zu gebrauchen, die Evangelienberichte als Film zu begreifen. Wenn wir die Kindheitsepisoden beiseite lassen — auch die Frage, ob sie nun Midrasch-Charakter haben oder nicht —, ist die Zeitspanne dieser Berichte kurz, beängstigend kurz. Etwa anderthalb Jahre dauert dieses Wirken, das durch eine blitzartige Katastrophe abgeschlossen wird. Kein Führer von Menschen würde es heute wagen, ein so gewaltiges Programm in eine so kurze Zeitspanne zu pressen.

 

Aber schon das Wort >Programm< ist in Jesu Nachbarschaft nicht vorstellbar — höchstens, wenn man seine Methode von vornherein als Gegen-Programm auffaßt. Jede Kasuistik, jede Vorsorge ist ihm zutiefst verdächtig. Daß gerade der Schatzmeister der kleinen Jüngerschar an ihm zum Verräter wurde, ist wohl bezeichnend: ein Geist, der zur finanziellen Vorsorge neigt, konnte in der Nähe Jesu nicht gedeihen. 

Man hat später — etwa aus seinen Antworten auf Steuer-, Ehe- und Rechtsfragen — imponierende und stabilisierende Systeme konstruiert; ein Verfahren, das nur aus der Vereinzelung des jeweiligen Vorgangs entstehen konnte. Jesu Reaktion auf die jeweiligen Anfragen ist nämlich viel einheitlicher als der Inhalt seiner Stellungnahmen. Kasuisten, wohl nicht nur >Schriftgelehrte<, sondern Angehörige eines Volkes, das seit Jahrhunderten sein Gesetz und seine Bücher liebte und denen es geistiges Vergnügen bereitete, den Scharfsinn eines Rabbi zu testen, stellen hier Fragen, die beileibe nicht nur Fangfragen, sondern durchaus legitime Formulierungen von Problemen der gesellschaftlichen, politischen, privaten Praxis sind. Und Jesus fertigt sie alle ab — teilweise mit brüsken Bonmots. Solche Fragen sind für ihn tot; und die Toten sollen ihre eigenen Toten begraben. Sie enthüllen Glaubensschwäche des Fragers; eine Tendenz, sich diesseits des Reiches der Himmel einzurichten, eine Begriffsstutzigkeit, die das Grundsätzliche des Umschlags nicht erkennt oder nicht wahrhaben will. Wenn hier überhaupt Methode am Werke ist, dann eine solche der radikalen Verunsicherung.

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Wie organisiert er die Verbreitung seines frohen Worts? Wieder kann man höchstens von einer Anti-Organisation sprechen. Er sendet Jünger in kleinen Gruppen aus, ohnejede Ausrüstung, barfuß. Er gibt ihnen den ausdrücklichen Befehl, sich nicht auszurüsten: Ihr ganzes Auftreten soll fieberhafte Eile vermitteln, die Eile von Kurieren, die vor einem gewaltigen Herrscher oder einer gewaltigen Armee durchs Land jagen. Der Glaube, den er verkörpert und verkündet, scheint jeder Zurüstung auf Dauer zu widersprechen, ja sie nicht zu ertragen.

Eine einzige Vorbereitung läßt er gelten: die Vorbereitung auf das Große Fest. Immer wieder spricht er von Festen, nimmt an Festen teil. Bankette, große Hochzeiten sind die Bilder, mit denen er das Reich der Himmel schildert. Das Fest ist anberaumt, die Einladungen ergehen. Die Jungfrauen warten, brennende Lampen in der Hand, nur die Törichten legen sich schlafen. Was hält das Fest noch auf? Seine Gleichnisse sagen es: die privaten und öffentlichen Arrangements, die eigene Heirat, das Kaufen von Ochsen, also das Erwerben von Produktionsmitteln, die Vorsorge für die Zukunft von Familie und Clan: Wer vorsorgt, zweifelt.

Gesetz des Festes: Das ist die aufgehobene Zeit, die Verschwendung und die ständige, selbstverständliche Auffindung von neuen Gaben. Das Fest: wunderbare Brotvermehrung, Verwandeln von Wasser in Wein (die Gäste, so steht geschrieben, waren schon betrunken — Jesus macht es nichts aus, ihnen neuen Wein zu geben). Das Fest: Ausschütten teurer Parfüms über die Füße des geliebten Gastes; Tischgemeinschaft von Armen und Reichen, von ernsten Männern und Eckenstehern und Lumpen, denen nur eine Sünde aufgerechnet wird: die mangelnde Festbereitschaft, das fehlende Gewand der Freude.

Und er liebt Leute, die Feste lieben; das sind selten die produktiven Typen. Gegner hängen ihm dafür den Ruf eines Prassers an, sicherlich respektable Leute. Ihm sind Steuerspekulanten und Sünder lieber — Leute also, mit denen die gute Gesellschaft nicht viel anfangen kann. 

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Die Klasse, die er am intensivsten anspricht, ist nicht das mehrwertschaffende Proletariat (wenn das auch mancher wackere Sozialist so gesehen hat und sieht), sondern die der Amhaarez, der Leute, die >ohne Gesetz<, das heißt ohne die peinlichen Vorschriften der Thora leben; Leute, die sich am Rande der Gesellschaft herumdrücken, abgeschrieben von den Pharisäern, den Glaubenssicheren und Gesetzestreuen. (Entgegen dem Eindruck, den die Evangelien erwecken, waren die Pharisäer keine Herrenschicht, sondern eine fundamentalistische Volksbewegung der Mittelklasse. Ihre Mentalität dürfte viel eher der entsprochen haben, die später das Gros der puritanischen Gemeinden und der christlichen Arbeiterbewegung erfüllt hat.)

Die Hinrichtung Jesu birgt Unklarheiten; aber wenn die Römer einen Präventivschlag gegen ihn führten — und die Umstände der Leidensgeschichte scheint darauf hinzudeuten —, dann mit der Absicht, ihn daran zu hindern, zum Kristallisationspunkt einer großen Masse von Deklassierten zu werden. Mußte er ihnen nicht verdächtig erscheinen, dieser Menschensohn, der durch heiße, graugelbe Dörfer zieht, der in Häusern predigt, von denen man das Dach reißt, auf Höhen, von Tausenden umlagert, umringt von Schreien und Staubwolken?

Aber wie hätte Jesus — wenn er dies vorgehabt hätte — eine erfolgreiche Revolte ohne Kommandostruktur anzetteln können? In seinem angebrochenen Reich gibt es ja keine Hierarchie. Hart fährt er die Jünger an, die über Rangstufen streiten und spekulieren — er verweist ihnen dies als satanisches Gerede. Niemand soll herrschen, niemand beherrscht werden. Mit seiner Botschaft war weder eine Rechtslehre noch eine Organisation, weder eine Kirche (in unserem Sinne) noch eine Politik zu machen.

Es gibt ein (außerhalb der Evangelien überliefertes) Herrenwort, das man heute als echt betrachtet: »Ich bin eine Brücke, auf eine Brücke baut man nicht.« Dies heißt: Jesus vermittelt nicht nur ein Provisorium, sondern ein bewußtes und totales Provisorium — die Ablehnung jeder ich- und wir-bezogenen Verfestigung und Kontinuität.

Hier muß betont werden, daß mit dieser Zusammenfassung keine neue Ketzerei beabsichtigt ist — sie stützt sich großenteils auf allgemein anerkannte exegetische Ergebnisse.

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Selbstverständlich liegt es nahe, den Gegensatz zwischen Jesu Lehre und Antlitz und einer späteren Christenheit zu formulieren — ein Gemeinplatz aller Kirchenkritik von den ersten Ketzern an. Und es gibt sicher keinen ernstzunehmenden Mann der Kirche, der diesen Gegensatz nicht selbst fühlt, ihn ständig empfindet und auf seine Weise darunter leidet. (Er leidet sicherlich mehr als manche forschen Kritiker, die den Gemeinplatz mit routinierter Sicherheit hantieren.)

Lassen wir also den Gemeinplatz beiseite. Es geht doch um die Folgen des Christentums, nicht um die moralische Beurteilung einer mehr oder weniger geglückten Rezeption der eigenwilligen Botschaft Jesu. Wir haben angekündigt, daß weder Altäre besetzt noch irgendwelche Schurken ausgemacht werden sollen. Die Frage, um die es geht, ist die Frage nach den Kräften, die den evidenten Erfolg des Christentums in den letzten zwei Jahrtausenden verursachten, und nurindiesenZusammenhang ist auch das Faktum eines — größeren oder geringeren — Abfalls der Christenheit von der Frohen Botschaft zu stellen. Sie läßt sich dann — auf der einfachsten kausalen Ebene — so formulieren: Wenn die Christenheit Jesus verraten hat — warum hat sie ihn dann verraten? Welche Kräfte hielten sie davon ab, ihm bedingungslos zu folgen?

 

Es gibt eine monumentale literarische Fixierung dieser Frage: die Erzählung vom Großinquisitor in den »Brüdern Karamasow«. Absichtlich wählt Dostojevskij (oder, wenn man will, sein Iwan) diese Figur, die von unzähligen Anklägern als die anstößigste der Kirchengeschichte immer wieder attackiert und kommentiert worden ist. Er ist sozusagen die Quintessenz dessen, was mit dem Christentum >schiefging< oder überhaupt schiefgehen kann. Der Vertreter des kirchlichen Immobilismus läßt den wiedergekehrten Herrn selbst verhaften, er erkennt ihn richtigals Anstifter von Unruhe und Umsturz. Nachts besucht er ihn dann in seiner Zelle, und er rechnet Jesus vor, was er alles falsch gemacht habe: Er habe die äußerste Freiheit verkündet, die erfahrungsgemäß eine Illusion, und zwar eine gefährliche Illusion sei. Die Menschen wünschten keine Freiheit, sie wünschten Führung, Vorsorge, Kontinuität — und vor allem Entlastung von der Verantwortung. Jesus antwortete mit keiner Silbe. Schließlich bittet der alte Seelenherrscher den Herrn, wegzugehen und nie wiederzukommen.

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Und was tut Jesus? Er tritt auf den Machthaber zu, er küßt ihn und geht dann in die Nacht hinaus; vermutlich wird er nie wiederkehren. Mit anderen Worten: die beiden verstehen sich. Sie erkennen das jeweils andere Dilemma des anderen — und sie erkennen es an. Jesus und der Großinquisitor sind die beiden Pole, zwischen denen sich kirchliche Wirklichkeit und christliche Entwicklung seit Jahrtausenden bewegen. (Es ist bezeichnend, daß der fromme Aljoscha auf die letzte große Pointe der Erzählung, den Kuß Jesu, sein Verstehen des Großinquisitors, gar nicht eingeht: Fromme haben für solche Pointen selten ein Gespür.)

Übersehen wir dabei eines nicht: 

Dostojevskijs Großinquisitor geht von einer in den Evangelien überlieferten Erzählung aus — den drei Versuchungen Jesu in der Wüste. Ohne die Tradition der Kirche, welcher der Großinquisitor auf seine Weise dienen zu müssen glaubt, wären diese Versuchungen dem 19. Jahrhundert längst unbekannt gewesen. Wenn etwas die Kirche ehrt, der man ständig Verrat am Evangelium vorwirft, dann müßte es doch die unbegreifliche Hartnäckigkeit sein, mit der sie eine Botschaft weitergibt, die sie selbst richtet. In dieser Botschaft stecken nicht nur sämtliche Anlässe späterer Kirchen- und Christentumskritik, sondern auch die ersten, archetypischen Berichte über den Abfall selbst: In den entscheidenden Tagen, da der Herr von ihnen geht, sind die Jünger völlig außerstande zu begreifen, was vorgeht, bis zuletzt sprechen sie über Kommandoketten und Schwerter, sie schlafen ein, sie verleugnen den Meister, sie laufen davon. 

Es gibt kein sonstiges Beispiel einer Religionsgründung, die in ihre heiligen Bücher, den Grundstein ihres Selbstverständnisses, so viele negative Beschreibungen der eigenen Inkompetenz eingelassen hat, soviel blutiges und schändliches Desaster. 

Das Fest ist vorüber, der Herr ihres Lebens wurde getötet. Die Seinen bleiben aber zurück, ohne Statut, ohne weltlich brauchbares Recht, ja ohne eine weltlich brauchbare Ethik mit einem gebrochenen Verhältnis zu ihrer jüdischen Umwelt. Anweisungen über Rangordnung, Gemeindeaufbau, Verhältnis zu existierenden sozialen und politischen Mächten liegen nicht vor.

 Was die Gemeinde zunächst verbindet, ist ein Antlitz: das Antlitz und Andenken des Meisters. Es bleibt ihnen Mahlgemeinschaft, Oster- und Pfingsterlebnis — und die Hoffnung auf den Tröster, der sie schon lehren wird, was sie in dieser komplizierten Welt verstehen und lernen müssen.

Mit solcher Ausstattung macht sich die kleine Gruppe von Unterprivilegierten auf den Weg in die Welt. Die Welt: Das ist der Riese Rom, das ist die akademische Welt hellenistischer Spekulation, welche nicht nur den Dieu des Philosophes, den Einen Gott des Wahren, Guten und Schönen, erarbeitet, sondern auch eine stoische Dienst-Ethik von hohen Graden geschaffen hatte, welche die aufgeklärte hohe Beamtenschaft zum selbstlosen Wahrnehmen ihrer Aufgaben anhält. Die Welt ist ferner die der vorderasiatischen Kulte, der Mysterien, die zunehmende Bedeutung gewinnen, der geheimnisvollen geistig-seelischen Zwischenwelt der Gnosis.

Die ganze Welt wird durch das Christentum höchst eindrucksvoll verändert; das liegt klar auf der Hand. Was nun eingehender besprochen werden muß, ist der Mechanismus der Veränderung, zu dem unweigerlich die Veränderung der Gemeinde selbst gehört; also die Verwandlung der Urgemeinde in das, was wir unter Kirche verstehen. In dieser Veränderung entstanden die dialektischen Positionen, die noch heute das geistige, politische und wirtschaftliche Geschick des Planeten bestimmen — entstand vor allem eine Praxis, in der sich die Resultate der Auseinandersetzungen immer weiter von den Absichten der ringenden Gegner ablösten und verselbständigten.

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