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Er kam nicht wieder

 

 

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Abfall: sprechen wir das Stichwort noch einmal aus. Es klingt dumpf, nach dem Eiskreis von Dantes Hölle, nach unwiderruflicher Verworfenheit. Aber die Schrecken, die es in unseren Nerven auslöst, sind schon Teil unseres Erbes. 

Die Propheten sprachen vom Abfall als Hurerei und Unzucht; keine geschlechtliche Ausschweifung meinten sie, sondern die Hingabe an fremde Götzen und ihre Riten.

Die christliche Botschaft hat uns Petrus unter dem krähenden Hahn überliefert: ein neues archetypisches Bildnis des existenziellen Verrats. »Der Herr blickte ihn an«, heißt es in der Leidensgeschichte: Unter dem Blick des Herrn wird der Abfall der Seinen unerträglich.

Christliche Geschichte ist eine Geschichte des Abfalls geblieben; in allen ihren Darstellungen bleibt er ein wichtiges Kompositionsprinzip; nur die Figuren werden jeweils anders eingesetzt, wechseln von der linken auf die rechte Seite des Bildes und umgekehrt. Es war immer der jeweils andere, den man in Zeiten selbstsicherer Frömmigkeit auf die Seite der Abtrünnigen verbannte; dem man — mehr oder weniger scharfsinnig und leidenschaftlich — den gran rifiuto, die Große Verweigerung von Christi Angebot nachwies. 

Während die institutionalisierten Kirchen darauf Wert legten und legen mußten, in direkter und ungebrochener Nachfolge auf den Gründer selbst zurückzugehen, und ihre Apologeten dazu anhielten, dies zu beweisen, waren alle Ketzer — und nach ihnen ihre ungläubigen Erben — sich wenigstens in der einen Methode einig: den Abfall eben dieser Kirchen von ihrer eigenen Botschaft zu erhärten. Die Unfruchtbarkeit solcher Polemik beruht darauf, daß man sich — je nach Bedarf — ein Bild und Gleichnis von der >ursprünglichen< Botschaft machte, das den Absichten der Kämpfer entsprach und ihrer Beweisführung entgegenkam. Auch mit Beschwörungen des altbösen Feindes, der da jeweils beim Gegner am Werk war, wurde nicht gespart.

Einen Schritt weiter geht die progressive (auch die innere) Kritik der Gegenwart: Sie stellt Jesus selbst jedem Kirchenwesen gegenüber, das sie an sich und in sich schon als Abfall postuliert. Wir werden dies im einzelnen noch zu besprechen haben.

Kehren wir zum Gang unseres Arguments zurück und fragen wir uns: Wie konnte, nachdem Jesus die Seinen auf sich selbst und den Paraklet, den Tröster, gestellt hatte, sein Erbe weitergegeben werden? Welche Erwartungen, welche Persönlichkeiten, welche organisatorischen Grundvoraussetzungen standen dafür zur Verfügung?

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Er hatte es ihnen ja nicht leichtgemacht. Er hatte Gottes Verheißung als präsent verkündet, er unterließ jede Anweisung, jede Methodik des Über- und Weiterlebens in einer unvollkommenen, von ungeheuren Lasten bedrückten Welt. Sünde, Zielverfehlung war ihm lediglich die Verweigerung des Glaubens gewesen — und dieser Glaube versetzt Berge, macht Methode, Politik, Wirtschaft nicht nur überflüssig, sondern entlarvt sie als Evidenz des Unglaubens: »Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet.« Dies war Jesu zentraler Angriff auf das Gesetz gewesen — auf jedes Gesetz, das er überwand, indem er es erfüllte. Und wegen dieses Angriffs mußte er, vom Standpunkt jeglicher Politik aus zu Recht, sterben.

Zu Recht; denn solche Botschaft war das genaue Gegenteil dessen, was man damals unter Recht, Kontinuität, Ethik und Philosophie verstand — und was man bald wieder darunter verstehen sollte. So war die Urgemeinde, trotz des Geistes der Brüderlichkeit und der Erinnerung an den Herrn, die sie erfüllten, von Anfang an mit der Paradoxie beschäftigt, welche die Christenheit nie mehr verlassen sollte: mit der Paradoxie nämlich des Überlebens in einer Welt, die >an sich< mit der Gegenwart Jesu schon gerichtet und überwunden war.

Trotz der Spärlichkeit der außerchristlichen Dokumente und der redaktionellen Tendenzen der Akten, Briefe und Evangelien wissen wir heute ziemlich viel über diese ersten Jahre der Gemeinde. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß der petrinischen Lösung des Leitungsproblems eine kurze Epoche dessen vorausging, was man ein Kalifat nennen könnte: eine Verwaltung der Tradition durch die Verwandten Jesu unter Führung von Jakob dem Älteren. 

Lassen wir aber Fragen beiseite, die zur Parteilichkeit herausfordern; stellen wir die eine, allgemein anerkannte Tatsache fest, daß sich schon in den ersten Jahren in der Urgemeinde eine Überzeugung durchsetzte, die Überzeugung nämlich von der baldigen Wiederkunft des Menschensohnes. Diese Überzeugung (alle Dokumente belegen es) beseelte das gesamte Selbstverständnis der Gruppe und wurde auch von dem großen Paulus geteilt. 

Maranatha — komm, Herr! war der stereotype Gebetsruf dieser ersten Generation.Wiederkunft als klar erkennbares, jede Geschichte beendendes Ereignis — war sie, so müssen wir fragen, unabdingbarer Bestandteil der Lehre Jesu selbst?

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Die Evangelien führen eine Reihe seiner Aussprüche auf, die daraufschließen lassen. Albert Schweitzer hat sich zu der Ansicht bekannt, daß die eigene Überzeugung Jesu von seiner chiliastischen Wiederkunft notwendig sei, um seine Gestalt und sein Wirken zu erklären. Allerdings: >Ihr kennt nicht den Tag und die Stunde<, lautet ein wichtiger Satz zu diesem Thema; und selbst wenn der Satz der Arbeit eines späteren Redakteurs zu verdanken wäre: Er läßt die Möglichkeit offen, daß Jesus selbst davor warnte, Wiederkunft zum Angelpunkt seiner Botschaft zu machen.

Logischer ist es, anzunehmen, daß die sehnsüchtige Beschwörung der Rückkehr des geliebten Meisters zunächst und vor allem ein gemeindebildender Faktor war, genauer: ein Faktor, der die Gemeinde daran hindern sollte und sie wirklich lange daran hinderte, zu einer kontinuierlichen >Organisation< zu werden, an dieser Kontinuität interessiert zu sein, Wurzeln in einer fremden und die Botschaft mißverstehenden Kultur zu schlagen. Wiederkunftsglaube wäre dann der erste Lösungsversuch des Dilemmas, von dem wir sprachen: des Dilemmas der Existenz in einer Welt, die schon gerichtet war. Indem man auf die endgültige Offenbarung dieses schon angebrochenen Gerichts wartete, kam man nicht in die Gefahr, die Saat der Botschaft unter die wuchernden Dornen des Aion, der fortdauernden Zeitlichkeit, zu säen.

Wer ganz unerbittlich ist, kann schon in der Wiederkunftserwartung Abfall und Verrat wittern. Er kann argumentieren, daß Jesus jeden einzelnen dazu herausfordert, Jesus >zu werden<; daß er in jedem, der ihm nachfolgt, die alles überwindende Glaubens- und Liebespotenz freisetzen wollte, die jede heteronome, das heißt von außen hereinbrechende >Endlösung< in Form eines künftigen Heilsereignisses überflüssig machen würde. Schon die Übertragung der Erlösung auf ein solches Ereignis von außen, eine verordnete Zukunft, käme dann dem Offenbarungseid — und damit dem Abfall der Gemeinde gleich: Maranatha als Alibi.

Nun, wer so argumentiert, muß eine sehr hohe Meinung von seinem eigenen Jesu-Verständnis und eine mittelmäßige Meinung von den Jüngern und Freunden Jesu haben; eine Meinung, die letzten Endes auf Jesus selbst reflektiert. 

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Daß ihn die Seinen nicht verstanden, dokumentieren die Evangelien ständig (auch ein Beweis für die hartnäckige Ehrlichkeit der späteren Kirche). Ein Mann wie Jesus, den heute auch der Agnostiker als religiöses Genie anerkennt, hätte dann als >Pädagoge< wie als >Stifter< versagt, weil er sein Erbe höchst unzuverlässigen Verwaltern anvertraut hätte. Nein, bleiben wir auch in diesem Zusammenhang unserer eigenen Methode treu, stellen wir ganz einfach fest, daß es weder einen jakobitischen noch einen petrinischen, noch einen paulinischen >Abfall< gab, sondern daß sich bereits die Urgemeinde mit dem Problem befassen mußte, das dem Christentum verblieb und das unsere Welt bis in die Gegenwart geformt hat: nämlich dem Gegensatz zwischen der Erinnerung an den Herrn und der Notwendigkeit, ohne ihn in der Welt als Gemeinde leben zu müssen.

Sieht man das Problem in dieser unparteiischen Sicht, so erweist sich — wie schon gesagt — die Sehnsucht nach der Wiederkunft des Herrn als eine erste, logische Modifikation der >Anti-Methode< Jesu selbst. Diese Sehnsucht, die den noch Abwesenden ins Zentrum jeder Ecclesia, jeder sich bildenden Gemeinde stellte, war zunächst die sicherste Abwehr gegen jede organisatorische, juristische, theologische und kasuistische Verfestigung. Sie war die Konsequenz aus der Lehre, welche die Jünger empfangen hatten: nämlich aus der harten Verwahrung Jesu selbst gegen jede Spekulation über Rangordnung und Hierarchie. Die Seinen hatten in ihm den Blitz gesehen, der leuchtet vom Aufgang bis zum Niedergang — und warteten nun auf den Donner. Der Donner kam nicht: Jesus kam nicht wieder. Wenn es ein historisch gesichertes Faktum in der Kirchengeschichte gibt, dann ist es dieses. Ob man Jesu Wiederkunft für möglich hält oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wichtig ist lediglich das Faktum selbst. Daß es ein negatives Faktum ist — das Nichteintreten eines erwarteten Ereignisses —, nimmt ihm nichts von seiner Bedeutung — im Gegenteil. 

Mit der Stunde oder mit der Dekade, in der die Wiederkunft als unmittelbares organisatorisches (oder antiorganisatorisches) Moment aufgegeben werden mußte, beginnt die eigentliche Kirchengeschichte; beginnt die Geschichte einer

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Weltkirche, die ihre raison d'etre aus einer Negation aufbaute: aus der ausbleibenden Wiederkunft — und aus der Negation einer Negation: aus der Weigerung, aus solchem Ausbleiben die Konsequenz der Selbstauflösung zu ziehen.

Die Dialektik der Negation bestimmt von da an bis in unsere Tage den Weg der christlich beeinflußten Menschheit.

Die Kirche — von nun an können wir den Ausdruck verwenden — mußte sich also auf Dauer einrichten. Auf eine provisorische Dauer gewissermaßen; aber eine Dauer, deren historische Erstreckung niemand kannte außer dem Vater. Damit war die Entscheidung für eine — wie immer geartete — Orthodoxie gefallen: die Kategorie der Vorsorge, die in Jesu Logien und Gleichnissen eine so negative Rolle spielt, wird zurKategorie der Kirche. Was ihr verblieb, um vorzusorgen, waren einige wenige Blankovollmachten: die Vollmacht des Bindens und Lösens, die Verheißung an Petrus den Felsen, die Aussicht auf den Paraklet, den Tröstergeist, der alles lehren würde, was bislang noch verborgen war. (Hier geht es nicht um exegetische >Echtheits<-Fragen, sondern um das Selbstverständnis der Kirche, wie es sich unter den neuen Verhältnissen kristallisierte.)

Wer in der Geschichte der nächsten kirchlichen Jahrtausende einen spirituellen Machiavellismus ohnegleichen am Werke sieht, hat (meistens) recht. Er bedenkt jedoch nicht, welche Voraussetzungen vorlagen. Der Vorwurf, die Kirche habe alle oder fast alle Karten des Spiels gezinkt, ist unrichtig, weil zu schüchtern: Sie mußte die Karten nämlich nicht nur zinken, sondern selber zeichnen. Der Stifter hatte ihr für das Spiel, in das sie nun eintrat — eintreten mußte — einfach keine Karten hinterlassen. Sie mußte anfangen, Rom und Hellas zu taufen.

Wieder ist es interessant zu beobachten, was der Wechsel der geistigen Perspektiven aus dieser Epoche der Kirchengeschichte gemacht hat. Zur Zeit unserer Großväter hat man das, was man (höchst fragwürdig) die Taufe von Hellas und Rom nannte, als die hervorragendste Leistung des Christentums gepriesen. Heute geht die progressistische Geschichtsschreibung (und vor allem die christliche) umgekehrt vor: Die Rezeption zunächst der hellenistischen, dann der römischen Kategorien wird dem Christentum als seine historische Ursünde angekreidet. 

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Bleiben wir auch hier auf dem Teppich unserer Methode; wiederholen wir: In dem Augenblick, wo sich die Gemeinde nach dem Ausbleiben der Wiederkunft zum Weiterleben entschloß, war die Entscheidung für eine wie immer geartete Orthodoxie gefallen. Und in diesem Augenblick mußte sie feststellen, daß sie in weiten und wichtigen Gebieten — Ethik, Recht, Verhältnis zur heidnischen Umwelt — keine doxa, keine Lehre besaß, ja gar nicht besitzen konnte. Vomjüdischen Gesetz (einem Gesetz der Kontinuität, wie immer die ursprünglichen Verheißungen interpretiert werden können) war sie losgerissen; also ging es darum, Leerräume aufzufüllen. Und sie wurden aufgefüllt.

Erste Evidenz findet sich bereits in den kanonischen Schriften des Neuen Testaments, vor allem für die Ethik. Der Alltagsgebrauch formulierte die sogenannten >Haustafeln<; wenig differenzierte Dokumente einer Moralität von kleinen Leuten. Heute werden sie von linken >kritischen< Christen häufig als Beweis für die gesellschaftliche Unwirksamkeit des historischen Christentums angeführt, für seine ursprüngliche Disposition zur >Untertanenmoral<. Und sicher sind diese Haustafeln, in denen Dienstboten zur Fügsamkeit, Herrschaften zur Milde ermahnt werden, keine Vorschriften zum Umsturz. Aber es heißt den ganzen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu vernachlässigen, wenn man nicht sieht, daß sie noch im Schatten der Gewißheit der Wiederkunft entstanden. Wiederkunftsgewißheit kann ihrerseits als Evidenz der Manipulation, der Niederhaltung von Sklavenzorn mißverstanden werden; wir hoffen jedoch, gezeigt zu haben, daß hier andere Kräfte am Werke waren.

Mit den zentralen Strömungen der damaligen Welt hatten diese Haustafeln ohnehin wenig zu tun. Justin der Märtyrer und Clemens von Alexandrien vermitteln die Auseinandersetzung — besser gesagt: die Integration — mit den Werten der hellenistischen Ethik. Die griechische Spekulation hatte längst den Dieu des Philosophes, also die Rahmenvorstellung eines Gottes des Wahren, des Guten und Schönen angelegt; die Christen übernahmen diese Vorstellung, wie der katholische Theologe Ratzinger offen formuliert. 

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Jesus wird in diesem Zusammenhang (z.B. bei Clemens von Alexandrien) zum Lehrer der Hagia Sophia, der Heiligen Weisheit (nach der später die Hauptkirche von Konstantinopel benannt werden sollte); die Kontinuität der Kirche war so durch die Annahme griechischer Spekulationsweisheit gesichert — und ging in die Kontinuität der hellenistischen Tradition ein.

Folgenschwer war die Auseinandersetzung mit Rom. Schon das Johannes-Evangelium mit seiner Entlastung des Pilatus (der in Wirklichkeit der eigentliche Schurke im Karfreitagsdrama war) legt den Gedanken nahe, daß es den christlichen Gemeinden nach der Zerstörung von Jerusalem darum ging, sich auf Kosten der historischen Wahrheit von den Juden abzugrenzen, um nicht von den Folgen der jüdischen Rebellion betroffen zu werden. Es verbleibt aber die Tatsache der Christenverfolgungen, es verbleibt die unsägliche Leidensgeschichte mehrerer Jahrhunderte, es verbleibt die grundsätzliche und unbestreitbare Unvereinbarkeit christlichen Selbstverständnisses mit dem Selbstverständnis des römischen Imperiums — bis Konstantin.

Rom lebte — das muß festgehalten werden — im Gegensatz zur östlichen Reichshälfte in der religiösen Steinzeit. Wer die Vorgeschichtlichkeit solcher Religiosität begreifen will, muß sie etwa mit der Welt der Navajo-Indianer vergleichen. Erlösungslehren, ob sie jüdisch oder persisch oder ethisch-philosophisch waren, sprachen das römische Denken und Fühlen nicht an. Dies kreiste um zwei Grundthesen: pacta sunt servanda, das heißt: Verträge müssen respektiert und praktiziert werden, und do ut des, also: Das Numinose wird rituell befriedigt und liefert den entsprechenden Gegenwert. Alles ist Präzedenz, das heißt jeglicher Kult-Akt in seiner Effektivität durch die peinliche Anlehnung an die mos majorum, die Sitte der Väter, bestimmt. Wieherte ein Pferd in die Opferhandlung hinein, mußte der Akt von Anfang an wiederholt werden: Die Götter(besser gesagt, die ambivalenten Mächte, die besänftigt oder manipuliert werden müssen) kann man vielleicht formell überlisten, aber sie kennen ihr Protokoll genau und bestehen darauf.

Unser humanistisches Curriculum verheimlicht eher diese Primitivität Roms, als daß es sie enthüllt. Die notdürftige Übersetzung griechischer Götter auf lateinisch hat einen synthetischen, römisch-griechischen Olymp erschaffen, der ebenso willkürlich zum Fixpunkt erklärt wurde wie das ciceronianische Latein.

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Gerade weil Rom religiös so primitiv war, konnte es zur Herrscherin der Welt werden; die Formel Vergils: parcere subiecüs et debellare superbos — die Unterworfenen schonen und die Hochmütigen niederzwingen, war nur deshalb so praktikabel und erfolgreich, weil der römische Imperalismus eine brutale Okkupationspolitik mit abergläubischer Scheu vor den Errungenschaften fremder Nationen vereinte. Die letzteren mußten — wenn die Formel do utdes, die Formel der rituellen Befriedigung möglicher numinoser Feinde, stichhaltig sein sollte — durch Übernahme in den Pantheon zu Alliierten der römischen Herrschaft gemacht werden. Sie blieben für die religiöse Innenpolitik ihrer Regionen zuständig; und zweifellos hätte es Rom nichts ausgemacht, auch Jahwe eine entsprechende Verbeugung zu konzedieren. (Pompejus hat, nach jüdischen Berichten, die Unterdrückungspolitik der Seleukiden gegenüber der mosaischen Religion sehr dezidiert beendet.) Leider wurde dies durch den Ausschließlichkeitsanspruch dieser >Gottheit< und durch das jüdische Bilderverbot unmöglich gemacht.

Die neue (zunächst wohl als jüdische Gruppe empfundene) Sekte der Christiani verschärfte das Problem. Man warf ihr odium humani generis, also einen Haß auf das ganze Menschengeschlecht vor; ein überraschender Vorwurf, denn die außerordentliche Liebesbestätigkeit und Solidarität der Gemeinden mußte bekannt sein. Der Vorwurf kann sich nur auf die Verweigerung der pietas beziehen — also die Verweigerung der ziemlichen Verehrung und der Kulte, die von alters her den Zustand der politisch-kosmischen Stabilität garantieren. Ihren Gipfel fand diese kosmische Sabotage der Christen in der Verweigerung des Kaiserkults, der nicht dazu erfunden war, um die Untertanen zu schikanieren, sondern um ihnen die Sicherheit einer numinosen Klammer der Religionsvielfalt zu gewährleisten. Hier wurde ius divinum, göttliches Recht, dauernd und in gefährlichster Form verletzt.

Plötzlich jedoch, nach den grimmigsten Verfolgungswellen der römischen Geschichte, bricht dieser Kampf gegen das Christentum ab, stellt Konstantin die gesamte Politik um, erläßt zunächst ein Toleranz-Edikt und bereitet dann eine christliche Staatsreligion vor.

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Wie war das möglich? (Merken wir gleich an, daß dies eine gute Politik war, die nicht nur das Leben des Westreichs um einige Generationen verlängerte, sondern die Voraussetzungen für die Jahrtausendrolle von Byzanz schuf.)

Wie konnte eine Religion, die dem Imperium bisher stets und zu Recht als Zersetzungsfaktor erschienen war, zum zentralen Element der Stabilisierung werden? Diese Frage ist schon deshalb wichtig, weil sie einen Großteil aller künftigen Fragen nach dem Erfolg und den Folgen des Christentums vorwegnimmt.

Rudolf Hernegger, einer der prominentesten katholischen Verfechter der Abfall-Theorie, analysiert in seinem Buch »Macht ohne Auftrag« den Weg der Kirche zur konstantinischen Wende, die sie in die europäisch-vorderasiatische >Volkskirche< verwandelt. Seine Analyse ist in den Einzelheiten sehr gründlich, aber nicht frei von der manichäischen Geschichtsbetrachtung, die hinter allen Theorien vom Abfall oder vom Schiefgehen steckt. 

Immerhin hat Herneggers Sicht einen Vorteil: Sie befreit Konstantin vom Odium der besonderen Verschlagenheit, die viele Gegner des Christentums (und viele progressive Christen) ihm zuschreiben. Konstantin war ein großer Mann, und er handelte in der Tradition jener illyrischen Generale, die vor ihm Kaiser und als solche Christenverfolger gewesen waren. Ihn trieb die gleiche Sorge um das Reich, das die vitalen Provinzler dem aufgeriebenen Italien abnahmen. Er war genausowenig ein Agent des bösen Feindes, wie er der Heilige war, den später die östliche Hagiographie aus ihm machte. 

Er sah die anscheinend unbesiegliche Kraft einer Minorität, die sich die beste Selbstverwaltung des Reiches aufgebaut hatte und der längst zahlreiche Mitglieder der staatstragenden Schichten angehörten. Er fühlte in sich den historischen Auftrag, das Reich zu retten. Er empfand — als römischer Kaiser, der er war — die Unzulänglichkeit der Verfolgungspolitik, schloß aus dem Vordringen des Christentums, daß sich die kosmisch-politische Balance geändert hatte und daß die numinose Klammer des Kaiserkults in seiner traditionell-römischen Form nicht mehr funktionierte.

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Er zog den weiteren Schluß, daß die Reichsreligion verändert werden mußte, wenn die Huld der ewigen Mächte, die so sichtbar die Christen begünstigte, nicht gänzlich vom Reich abgezogen werden sollte. Und er handelte dieser Einsicht entsprechend.

Hernegger folgert daraus völlig richtig, daß der Schurke des Dramas nicht Konstantin sein kann. Worin er irrt, ist die Annahme, daß die Rolle des Schurken besetzt werden muß, daß sie unentbehrlich ist. Der Schurke ist deshalb für ihn die >abfallende< Kirche, ist ihre Wahl der schlechteren Möglichkeiten seit Jahrhunderten, ist, praktisch, ihr Mißverstehen der Botschaft Jesu oder doch zumindest ihre Abwendung vom Idealtypus ihrer selbst, eine Abwendung, die sie hilflos und sogar freudig zustimmend der konstantinischen Umarmung auslieferte.

Wie schon öfter erwähnt, gehen wir auf diese Methode grundsätzlich nicht ein. Gemeinde oder Urgemeinde wurde Kirche, weil sie Kirche werden mußte, das ist alles. Sie mußte Ethik rezipieren, die dem Geist der Botschaft widersprach, weil der Herr nicht wiederkam. Sie mußte die feierliche Präsenz Christi als Kultmysterium begehen, weil er nicht wiederkam, und weil es darum ging, sein Gedächtnis möglichst lebendig zu erhalten. Sie mußte Vorsteher wählen, mußte sich mit römischem Recht befassen, mußte Gnosis, Doketismus, eine Fülle von Korruptionen aus der wuchernden Umwelt der Mittelmeerkulte abwehren — sie brachte also eine Verfassung. Und da in allen diesen Fragen die Botschaft keine Antwort gab (jedenfalls keine Antwort, die praktikabel war), wurden die Leerräume mit dem Material aufgefüllt, das der damalige Zustand der Geisteswelt lieferte. All dies ist bereits in der paulinischen Bereitschaft angelegt, >allen alles< zu sein, den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Heiden ein Heide.

Wenn es einer weltlichen Begründung für den Erfolg des Frühchristentums bedarf, dann war es diese Flexibilität, diese elastische Ausgangsposition, die sich wohl nie geändert hat. Der Machiavellismus, den man vor allem der römischen Kirche zur Last legt, leitet sich nicht aus einer moralischen Verworfenheit oder geistigen Unzulänglichkeit der Kirchenfürsten ab, sondern aus dem nie verlorengehenden Bewußtsein der >Uneigentlichkeit< des Betrieblichen:

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<Eigentlich> war und ist das Geschäft der Kirche kein anderes als die Tradierung einer Botschaft, die mit dem Betrieb kaum einen Zusammenhang aufweist. Und die Kirche ist, trotz aller Willfährigkeit, die sie später den diversen Mächten der Welt entgegenbrachte, immer eine verräterische Partnerin geblieben. Oberstes Gesetz war für sie stets die Erhaltung der eigenen Kontinuität; sah sie diese Kontinuität durch die Beibehaltung eines Bündnisses gefährdet, kündigte sie es ohne jeden Skrupel auf.

Oberstes Gebot der weltlichen Herrscher mußte es also sein, der Kirche keinen eigenen Apparat mehr zu gestatten; eben jenen Apparat, der in der Zeit der großen Verfolgungen entstanden war und allen Ausrottungsversuchen getrotzt hatte. Das erkannte schon Konstantin, der sicher die Folgerungen aus den Schicksalsvorgängen zog. Und sein Schachzug war genial: Wenigstens im östlichen Reichsteil sicherte er eine cäsaro-papistische Verfassung. Die späteren westlichen Kaiser, bis zu Napoleon und Franz Joseph, sollten weniger Glück haben.

Trotzdem war Konstantins Versöhnungs- und Umarmungsstrategie auch im Westen folgenschwer. Er stellte, ein umgekehrter Marx, die Botschaft von den Füßen auf den Kopf, indem er ihren personalen, psychischen, gesellschaftlichen Unterbau durch den einer spätantiken abergläubischen Majorität ersetzte. Die Folgen sind in der sogenannten Volksfrömmigkeit zu spüren, von der noch öfter die Rede sein muß. (Die germanischen Völker werden ihr weitere, höchst merk- und fragwürdige Beiträge liefern.)

Diese Volksfrömmigkeit entstand jedoch nicht nur durch Öffnung der Kirche für die kaum belehrten Massen, sondern als Folge einer weiteren Konsequenz aus dem Ausbleiben der Wiederkunft Christi: aus dem Reich der Toten.

Seit dem Jahre 33 bis in unsere Tage wächst dieses Reich ständig an. Die toten Christen sollen teilhaben am endzeitlichen, verheißenen Heil: Die Kirche wird dadurch ein dreistöckiges Haus, in dem zwei von drei Stockwerken — die leidende und die triumphierende Kirche — von Toten bewohnt sind. Für Jesus und die Seinen stand das Los der Toten nicht im Vordergrund

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des Interesses; auch die Auskunft des Paulus, auf welche die Überzeugungen der Christenheit bis in unsere Tage zurückgehen, wird gleichsam nebenbei erteilt — als eine pastorale Antwort unter anderen, vermutlich auf eine konkrete Anfrage der besorgten Gemeinde.

Doch je zahlreicher die Toten werden, je länger die Wiederkunft auf sich warten läßt, desto stärker rückt das individuelle Heil nach dem Tode in die Mitte des gläubigen Bewußtseins: Die Heilsverwaltung beginnt.

Es ist unendlich wichtig, diese Bedeutung der Toten für den Weg der Kirche, der Christenheit und der Menschheit zu sehen. Ohne sie wäre nie die Funktion der Heilsverwaltung entstanden, die Marx als >Opium des Volkes< beschrieben hat. Sinn der Heilsverwaltung ist es zunächst, Unsicherheit über das Jenseits in Sicherheit zu verwandeln. Das gelingt natürlich nie ganz; der Sinn der Botschaft spricht dagegen.

Moral, Ethik wird wieder wichtig, und der rechte Glaube nicht der festeste; Kriterien werden gewünscht — nicht von oben, sondern von unten, von der Basis her. Wer wird verworfen, wer wird gerettet? Es bleibt die Angst, trotz aller Kriterien. Die ursprüngliche Auskunft, als Barmherzigkeit gegenüber den armen Angehörigen gedacht und empfunden, wird wirksam als Terrorinstrument: als Angst vor dem Jüngsten Gericht, das heißt vor der Wiederkunft — eben jener Wiederkunft, welche die Urgemeinde mit so brennender Ungeduld erwartet hatte. 

Es gibt keinen klareren Beweis für die völlige Verkehrung des ursprünglichen christlichen Lebensgefühls als den Vergleich zwischen dem Ruf der Urgemeinde: Komm, Herr Jesu! und den Strophen des Dies Irae, jener Sequenz der Totenmesse, die den Tag des Zornes und der Rache schildert. Zwar betont die gleiche Sequenz die Retterrolle Christi; aber da er selbst auch der Richter des Zornes ist, werden andere Fürsprecher gesucht, mächtige Patrone, welche die Klienten vor den Schranken des römischen Rechts vertreten. Eine Schar von Heiligen übernimmt das schwere Amt. Allen voran steht die milde Gottesmutter, in deren Gestalt nun die Magna Mater des Mittelmeerraumes, die Erdmutter der germanischen Religiosität, uralte stabilisierende, ja kosmogonische Funktionen übernimmt. Die endgültige kulturelle Prägung nicht nur des Katholizismus, sondern auch der griechischen Orthodoxie hat begonnen.

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Was das katholische Lebensgefühl von dem der Orthodoxie zusätzlich unterscheidet, ist die juristische Durchbildung der Gnadenbuchführung. Diese spielt nicht nur in der sogenannten Volksfrömmigkeit eine Rolle. Die Verwalter des Heils sind keine großen Propheten, keine Künder mehr; sie dürfen es gar nicht sein, denn der Typus des Propheten würde nicht nur den Apparat, sondern auch die Erwartungen der Menge verunsichern. Gewünscht sind solide Charaktere, Leute, die etwas von Buchführung verstehen. 

Dies ist schon deshalb wichtig, weil die Buchführung zwangsläufig eine doppelte wird: Die kleinen Leute verstehen etwas anderes darunter als die Experten. Bestes Beispiel wird die Ablaßpraxis. Hat man einmal den Grundsatz ausgesprochen, daß der Apparat von sich aus über den Thesaurus Ecclesiae, d. h. über den Gesamtkredit aller Verdienste Jesu und der Heiligen verfügt, ist der logische Weg bis zum Inkasso durch die Beamten des Bankhauses Fugger beschritten. 

Für das kleine Volk entstand das Ärgernis — und das Ärgernis war berechtigt; nicht, weil das Volk die ganzen Feinheiten der Buchführung verstanden hätte, sondern weil es der Kirche nicht gelingen konnte, die Subtilitäten der Ablaßtheorie begreiflich zu machen. (Noch in meiner Jugend war es z. B. unmöglich, einem Katholiken aus einfachen Verhältnissen klarzumachen, daß ein vollkommener Ablaß< nicht die Ablösung sämtlicher Fegefeuerstrafen für den Empfänger bedeutete. Die historische Verbindung mit der frühchristlichen Bußpraxis, auf der die Terminangaben der Ablässe beruhen, war dem kollektiven Bewußtsein völlig verlorengegangen, so daß die Buchführung der Volksfrömmigkeit tatsächlich und naiv mit erlassenen Fegefeuerterminen operierte.)

All dies ist für unser Thema nur deshalb wichtig, weil der Apparat der Heilsverwaltung zur wichtigsten inneren Kontrolle für alle nur denkbaren Herrschaftssysteme werden konnte. Halten sich solche Systeme an ein Minimum von Gesetzlichkeit, sichern sie dem Apparat das Monopol der Heilsverwaltung zu, indem sie die Kirche respektieren und anerkennen, so werden sie selbst durch die Ethik gesichert, deren endgültige Sanktionen und Belohnungen total, da ewig und jenseitig sind.

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Nur so ist der praktische Umschwung der das Lebensgefüge einer antik-frommen Gesellschaft bedrohenden Christlichkeit in die Macht- und Stabilitätskirche des nachkonstantinischen Systems zu erklären. Für unser Thema gilt es also folgende Fakten festzuhalten:

  1. Die Gemeinde wird zur Kontinuität gezwungen, sie organisiert sich, wünscht nun selbst Kontinuität, wird zur Kirche.

  2. Die erstrebte oder erreichte Kontinuität ändert das Verhältnis zur Endzeit: Die Wiederkunft des Herrn wird nicht mehr ersehnt, sondern gefürchtet.

  3. Durch die Jahrhunderte immer stärker wächst das Reich der Toten, die leidende und triumphierende Kirche. Den Zugang zu diesem übermächtigen Teil aber kontrolliert die Kirche selbst; sie verwaltet das Heil, das nun das individuelle Heil im Jenseits geworden ist.

  4. Dadurch lösen sich die Kriterien des Heils von der Welt; Welt wird, trotz ihrer enormen Wichtigkeit als Stätte der Bewährung, zur Welt des einzelnen, wird als solche unwichtig, neutral, wenn nicht verächtlich.

 

Dennoch muß an dieser Stelle festgehalten werden, daß der Weg der Kirche zum Heilsapparat und zur Stütze der Herrschaft nicht einfach eine Regression war. Das Christentum hatte Bewußtsein und damit auch die Verhältnisse unwiderruflich verändert. Hier seien nur einige dieser Veränderungen angeführt:

1. Pan war tot; d. h. die alte archaische Naturreligiosität war endgültig zerstört. Gewiß, der volkstümliche Glaube hat mit Brauchtum und Gebetsgewohnheiten, mit schlauen Substitutionen von Heiligen für die alten Feld-, Wald- und Wiesengötter einen konstanten und sehr erfolgreichen Druck auf die Lehre ausgeübt, aber die Lehre selbst reichte das judäische Grundprinzip weiter: Alles ist nun profan, was den Heiden heilig war.

2. Das Ende der ethnischen Mythen ist auch das Ende der ethnischen Priesterschaften geworden: Das Heil ist grundsätzlich international. Sicher haben Herrscher und Mächte versucht, die Uhr zurückzudrehen; aber nicht einmal im Osten ist dies ganz gelungen, geschweige denn im römischen Westen. Die Kirche als mehr oder weniger selbständiger Vertragspartner der Kaiser und Könige war den Griechen und Römern unvorstellbar; in der neuen Situation war und blieb das Erbe der großen alttestamentarischen Propheten wenigstens in einem Punkte lebendig. 

3. Die wichtigste Veränderung aber, welche in kommenden Jahrhunderten unter ungeheuren Schmerzen den modernen kritischen Geist aus dem Mutterschoß der mittelalterlichen Menschheit lösen half, war der Widerspruch, der von nun an zwangsläufig die europäische Geschichte begleitet und formt: der Widerspruch zwischen Botschaft und Kontinuität, zwischen Evangelium und der Praxis des Apparates.

 

Von diesem Widerspruch wird in den folgenden Kapiteln die Rede sein. Halten wir jedoch fest, daß er wie die anderen Resultate der beginnenden christlichen Geschichte eine Negation ist. Pan wurde getötet, die alte Einheit von Politik und Religion wurde durch einen Dualismus abgelöst, der zwar (wie im deutschen Frühmittelalter) durch das kaiserliche Selbstverständnis verdeckt, aber nie ganz aufgehoben werden konnte, und der schon zur Zeit Barbarossas in offene, fast grundsätzliche Feindschaft mündete. 

Was bleibt, ist Kampf: der Kampf zwischen den Verwaltern des Erbes und dem Propheten, dessen zornrotes Auge in den Himmel, nach den Zeichen der Endzeit sucht.

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