Auf zum letzten Gefecht
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Marx war im allgemeinen recht sparsam mit konkreten utopischen Entwürfen; doch gibt es eine bekannte Stelle in der <Deutschen Ideologie>, die gelegentlich als solcher zitiert wird. Sie lautet:
»In der kommunistischen Gesellschaft, in der jeder sich in jeder beliebigen Branche entwickeln kann und keinen exklusiven Tätigkeitsbereich mehr hat, regelt die Gesellschaft die allgemeine Produktion und macht es mir gerade dadurch möglich, heute dies, morgen jenes zu tun, am Morgen zu jagen, am Mittag zu fischen und am Abend Viehzucht zu betreiben oder auch das Essen zu kritisieren, ohne jemals Jäger oder Fischer, Hirte oder Kritikus zu werden, gerade wie ich Lust habe.«
Es ist heute schwer, eine solche Stelle ernst zu nehmen. Wenn diese Utopie Wirklichkeit werden könnte, dann würde sie folgendes voraussetzen:
1. eine Bevölkerungsdichte von etwa zehn Menschen auf den Quadratkilometer;
2. eine technische Ausrüstung, die nur in Bevölkerungszentren mit wesentlich höherer Verdichtung hergestellt werden kann;
3. eine Landschaft von hoher Ursprünglichkeit in klimatisch angenehmen Breiten.Tatsächlich gab es das alles zur Zeit der <Deutschen Ideologie>; und das Leben, das Marx hier als sozialistische Utopie schildert, ist ihm von einem Bekannten beschrieben worden, der es tatsächlich lebte — im Kalifornien von 1848. Älteste konkrete Bedürfnisse der Menschheit konnten da erfüllt werden: Forellenwasser, Jagdrevier, Weideland, Freizügigkeit. Und sie werden erfüllt ohne die Handicaps des Wilden: Mangel an Technik, unzureichende gesellschaftliche Organisation, magisch-mantische Ängste.
Zur Zeit der <Deutschen Ideologie> gab es allerdings Wilde, die auch so üppig und freizügig lebten (wenigstens die Männer, die Frauen hatten einen Arbeitstag von 18 Stunden): die Plains-Indianer, die großen Helden der europäischen Schulbuben.
Ihre Kulturen waren äußerst kurzlebig; wir wissen, woran sie zugrunde gingen, aber man macht sich meistens nicht klar, wie sie überhaupt entstehen konnten: Vor 1800 waren sie nämlich unmöglich, da es in Amerika keine einheimischen Pferde gab.
Die gestohlenen oder entlaufenen Pferde der Spanier (Mustangs, von mesteno, verwildert) waren die neuen Produktionsmittel, die sofort in eine neue Wirtschaftsform mit neuen Stämmen, neuen gesellschaftlichen Gewohnheiten und neuen kulturellen Versuchen umgesetzt wurden.
Doch nicht diese Plains-Indianer wurden für die Theorie des Sozialismus wichtig, sondern ein älteres indianisches Sozialmodell: das der Irokesen. Über dieses politisch geniale Volk, das im 17. Jahrhundert eine Liga gegründet hatte, veröffentlichte 1851 der Rechtsanwalt Henry Lewis Morgan eine Studie unter dem Titel: <League of the Ho-De-No-Sau-Nee or Iroquois>. Sie wurde zu einem Grundpfeiler von Friedrich Engels' berühmter Arbeit <Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates> von 1884.
Engels war von den Irokesen begeistert; begeisterter jedenfalls, als es die strenge Theorie seines Meisters erlaubt hätte. Die Irokesen hatten nach seiner Ansicht eine ideale Verfassung — da gab es keine Soldaten, keine Polizei, keine Gerichtsverhandlungen. Alle waren gleich und frei — der gemeinschaftliche Haushalt und die Verwandtschaft wußten um ihre Verantwortung für alle, für Alte, Kranke und Invalide.
Wir sind gescheiter geworden, wie man so sagt, und wir wissen heute mehr über die Iroquois. Sie waren die blutrünstigsten und ausdauerndsten Folterer unter allen Indianerstämmen, eine Pest für rote und weiße Nachbarn (die Huronen wurden von ihnen praktisch ausgerottet) und hatten ein kompliziert verschränktes System aus Mutterrecht und einem nie ganz integrierbaren Kriegsorden. Aber das ist hier nicht von Belang.
Engels' Rekurs zu den Primitiven und Marxens Utopie sind Evidenz für das innerste und wichtigste Pathos des Marxismus, für das Pathos der Erreichbarkeit des Milleniums, des irdischen Reiches der Erfüllung. Das Irokesen-Modell evoziert die ursprünglichen paradiesischen Möglichkeiten der Menschennatur; Marxens Vision, geborgt aus der Erfahrung eines Emigranten, ist Vorwegnahme des kommenden Reichs, des Endes der Entfremdung.
Ohne dieses doppelte Pathos ist die erregende Geschichte der Arbeiterbewegung unverständlich.
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Daß sich der Marxismus entschieden wissenschaftlich und gottlos gibt, ändert nichts daran, daß er logisch eine Prämisse bedingt, die ein Glaubensakt ist: nämlich den Glauben an die Erlösbarkeit des Menschen.
Man kennt die Hoffnungen, die heute gerade wieder von christlicher Seite an diesen fideistischen Aspekt des Marxismus gewendet werden. Oft genug wird dabei behauptet, der Atheismus sei im Marxismus kein logisch notwendiger Bestandteil, sondern Resultat der unglücklichen Rolle der Kirchen in der Geschichte, besonders im 19. Jahrhundert. Marx habe mit dem Satz, Religion sei »Opium des Volkes«, eigentlich nur eine ziemlich genaue Zustandsbeschreibung der sozialen Lage seiner Zeit geliefert, die man heute auch in den Kirchen gefaßt anerkennt.
Dennoch wäre es falsch, den Atheismus im Marxismus so nebensächlich zu sehen. Er hatte und hat mindestens zwei unabdingbare Funktionen im System:
entspricht er in der historischen Situation ziemlich genau der Wirkweise jener aseheia oder impietas, also jener Kultusverweigerung, welche Juden und Frühchristen gegenüber der heidnischen Umwelt auszeichnete. Solche Frömmigkeitsverweigerung war und ist Absage an die Stabilisierungstendenz unterdrückerischer Herrschaft; und da in Europa an die Stelle des Kaiserkults von 100 n. Chr. der christlich designierte Monotheismus getreten ist, muß man den militant atheistischen Kampfgeist des alten Marx im gleichen funktionellen Zusammenhang sehen.Erstens
Zweitens wird im Bilde Gottes jede Form von <Idealismus> angegriffen; das heißt jede philosophische Verfestigung, die zur Lähmung der revolutionären Praxis führen könnte. Der Marxismus gewinnt dadurch jene <Freiheit von Gesetz> wieder, die als roter Faden die Argumente des Paulus durchzieht.
Paradoxerweise ist also die Gottlosigkeit des Marxismus geradezu ein Kriterium für seine Wiederaufnahme ursprünglicher jüdischer bzw. christlicher Herausforderungen an die unterdrückte und unterdrückende Umwelt.
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Wie wenig >wissenschaftlich< solcher Atheismus ist, erhellt schon daraus, daß die wirklich wissenschaftlichen Atheisten (zuletzt etwa Professor Jacques Monod) vom zünftigen Marxismus prompt als >Idealisten< denunziert werden.
Um solche rabies theologorum, solche vom Mittelalter her vertraute theologische Kampfwut aufs Verständliche zu reduzieren: Dem wissenschaftlichen Atheismus Schopenhauerscher Provenienz wird >eigentlich< nur vorgeworfen, was schon die hellenistische Tradition von der jüdischen trennte: das Auseinanderhalten von Erkenntnis und Leben, die Annahme, daß es eine positive oder negative Werteinsicht ohne gelebte und ständig überprüfte Praxis geben könne.
Am Grunde eines solchen >Materialismus<, der auf der Einheit von Theorie und Praxis besteht, ruht aber die jüdischchristliche Überzeugung, daß Weg und Wahrheit eins seien; und solche Einheit ist wiederum unmöglich ohne >Hoffnung<, das heißt ohne die Annahme der Zielgerichtetheit menschlicher Entwicklung — jüdisch-christlich gesprochen: von Schöpfung und Verheißung.
Aber verlassen wir die dürren Weiden der Abstraktion und kehren wir zu unserer eigenen Methode zurück; das heißt, halten wir uns an das Jesuswort »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!« (Marxistisch heißt das, daß es nicht auf Interpretation, sondern auf Veränderung ankommt.)
Der Marxismus ist also in seinen Auswirkungen auf die Betroffenen zu untersuchen, an den gesellschaftlichen und politischen Resultaten seiner Praxis. Und hier ist nur festzustellen: Er hat es in verblüffend kurzer Zeit geschafft, sämtliche Bedenklichkeiten der christlich-abendländischen Geschichte in seiner Praxis zu reproduzieren. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die große Liste von Gemeinsamkeiten überfliegt, die Christentum und marxistischer Sozialismus von ihren Ansätzen, ihrer Aufgabenstellung, ihrer Problematik her haben und haben müssen.
Einige dieser Gemeinsamkeiten haben wir in anderen Zusammenhängen schon kurz gestreift; der Deutlichkeit halber seien sie nun Punkt für Punkt diskutiert:
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Erstens — Der ursprüngliche Kern der Botschaft ist die Verkündigung eines schon angebrochenen, zumindest nahen Endzustandes, der den Zusammenfall von Schöpfung und Verheißung beziehungsweise Erfüllung und Bedürfnis bringen wird. Zwar setzt dieses nahe Endreich noch einmal Kampf voraus (»Das Reich des Himmels leidet Gewalt, und nur die Gewalttätigen reißen es an sich« — »Auf zum letzten Gefecht«): Aber der Sieg ist schon deshalb sichergestellt, weil er einer inneren, durch Haß und Unterdrückung verborgenen und verschütteten Realität entspricht, die durch den fideistischen Akt lediglich freigelegt werden muß, um ihre unendliche Überlegenheit über diesen Aion zu manifestieren. Die >Welt<, die Welt der Unterdrückung und der Klassenherrschaft, ist schon gerichtet, d.h. ihre inhärenten Widersprüche werden sie letzten Endes selbst zu Falle bringen.
Zweitens — >Letzten Endes<: das letzte Ende, der Jüngste Tag der glorreichen Offenbarung, steht um die Ecke. In Marxens Freundeskreis wird ebenso ernsthaft über die Frage diskutiert, ob man dieses Endreich noch erleben werde, wie dies unter den Jüngern Jesu und in der Urgemeinde geschah.
Noch der alte Bebel ist fideistisch vom nahen großen <Kladderaddatsch> überzeugt, und Trotzki meint etwas später, die Annahme des Ausbleibens der Weltrevolution sei eine ungeheuerliche These.
Drittens — Das vorläufige Ausbleiben dieses Endzustands nötigt zur Organisation einer Kontinuität, in der die politische Sicherung der Verkündigung in den Vordergrund tritt. Damit beginnt zwangsläufig die doktrinäre Auseinandersetzung innerhalb der gemeinsamen Grundüberzeugung.
Viertens — Da die Zerfleischung der Gemeinsamkeit durch Sekten und Richtungen für die Bewegung lebensgefährlich wird, gilt es, die Unverletzlichkeit der Lehre sicherzustellen. Zu diesem Zweck wird ein Büro geschaffen, das die einheitliche Auslegung der Grundschriften überwachen soll. Zunächst ist die Diskussion der Lehre noch Sache von Konzilen; später schiebt sich die Unfehlbarkeit des Heiligen Büros in den Vordergrund und bestimmt die Praxis.
(d-2014:) Bebel bei Detopia Trotzki bei Detopia
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Fünftens — Da die Stifter die >Gerechtigkeit< dieser Welt als hohl, die Befolgung ihrer Gesetze als Glaubensschwäche bzw. als Instrument der Klassenherrschaft entlarvten, ist irdische Aktion keinem Kodex, keinem Sittengesetz unterworfen, das in sich selbst wertvoll wäre: Alle Aktion ist nur in ihrer größeren oder geringeren Wirksamkeit für den Enderfolg der Botschaft zu werten. Weder im Christentum noch im Marxismus haben Diskussionen über >Gewaltlosigkeit< oder andere humane Grundfragen einen bindenden Wert, weil sie zu keinerlei Festlegungen führen können: Die nächste historische Kurve kann schon wieder ganz neue Perspektiven eröffnen.
Sechstens — Diese humane Unverbindlichkeit des Systems wird noch verstärkt durch die Methode bzw. Anti-Methode der Stifter, konkrete Fragen menschlichen Zusammenlebens und alle Kategorien irdischer Vorsorge en bagatellezu behandeln. So entstanden Leerräume wirtschaftlicher, ethischer, politischer Art, die aus den Prämissen der ursprünglichen Erkenntnisse und Methoden dann von außen geborgt und eingebaut werden; es entstehen wieder moralische Haustafeln, platonische und aristotelische Lehrstühle, Formeln wie »Antike und Christentum«, »Marxismus plus Elektrizität«, »Kommunismus plus Amerikanismus«.
Siebtens — Da sich aber das Heilige Büro (durchaus in Wahrnehmung seines ursprünglichen Auftrags) der Vorläufigkeit aller solcher Bindestrich-Formeln bewußt bleibt, entwickelt es einen nahezu unbegrenzten Machiavellismus. Da es letzten Endes nur um die Sicherung der Botschaft in einer grundsätzlich feindseligen Welt geht, um >Kirche<, um >Sowjetmacht<, unterliegen alle Regelungen, alle Absprachen und Bündnisse den Erfordernissen der jeweiligen Linie.
Achtens — Machtergreifung, Expansion erfolgt in einer Weise, die mit den ursprünglichen Ansätzen nichts oder wenig zu tun hat. Jesu Botschaft war zunächst und vor allem an Israel gerichtet; Marxens Analysen und Agitation bezogen sich auf die hochindustrialisierten Länder und Gesellschaften des Westens. In beiden Fällen wurde die Botschaft vom ursprünglichen Adressaten >verworfen<, später aber zum Agens des rapiden und siegreichen Aufbaus unterentwickelter Regionen: des keltischgermanischen Raums im Mittelalter, Rußlands und vieler Länder der Dritten Welt in unseren Tagen.
(Selbst in den Anomalien der Expansion stecken Parallelen. Die durch den Zweiten Weltkrieg, also durch Hitlers Aggression
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in die russische Einflußsphäre geratenen Länder Osteuropas lassen sich durchaus mit jenen Kreuzfahrerstaaten vergleichen, in denen die Zivilisationsstufe der Unterworfenen weit über der ihrer Herrscher lag. Die levantinischen Christen jener Reiche, meist gebildete Leute, standen der Mentalität ihrer westlichen Glaubensgenossen ungefähr so gegenüber wie heute polnische, tschechische, ungarische Sozialisten der ihrer östlichen Freunde.)
Neuntens — Die Machtergreifung, die immer nur eine teilweise sein kann, schafft ein zusätzliches ideologisches Problem: das Ausbleiben des Millenniums. Das Leben bleibt ärgerlicherweise immer noch unerträglich, Bedürfnis und Erfüllung klaffen nach wie vor weit auseinander, das Endreich ist, wenn überhaupt, nur um Zentimeter nähergerückt. Hier ist offenbar ein altböser Feind am Werk, der die Herzen der Gläubigen verwirrt oder die Klassengegensätze verschärft. Die Tatsache, daß er schon gerichtet, schon geschlagen, schon überwunden ist, macht ihn keineswegs ungefährlicher, im Gegenteil. Unbehaust in irgendeiner Heimstatt der Realität, kann er die groteskesten und unwahrscheinlichsten Verkleidungen annehmen, kann in knusprige Hexen oder in alte Bolschewiken fahren und sie zu absurden Dingen bewegen, wie sie in den Protokollen der Hexenjäger bzw. der Moskauer Schauprozesse enthalten sind: dem Feiern von Schwarzen Messen mit Oskulation des teuflischen Hinterteils — oder endlosen Treffs mit trotzkistischen Teufeln in Hotels, die um die fragliche Zeit längst abgerissen oder noch gar nicht erbaut waren.
Zehntens — Trotzdem hat die Angst des Heiligen Büros einen realen Hintergrund, der ernsthaft genug ist. Der Widerspruch zwischen dem dynamischen, egalitären Kern der Botschaft und der statischen Herrschaft des Büros, des Garanten der Kontinuität, führt zur Dialektik Orthodoxie-Ketzerei. Für die Ketzer hat das Heilige Büro die Botschaft verraten, deformiert; aber für das Büro bestätigt die Existenz der Ketzerei zusätzlich das Wirken des altbösen Feindes und macht seine Zurüstungen zu dessen Unterdrückung vor aller Welt glaubwürdig.
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Elftens — Der Erfolg beider Systeme war und ist dennoch ungeheuer — und zwar ist er ein Ausfallprodukt der Auseinandersetzung, die zur Zerstörung alter, scheinbar unwiderlegbarer Positionen geführt hat. Vor allem wurden und werden die durch die Botschaft aufgerufenen Energien gerade der Intelligenz auf das Feld verwiesen, das quantifizierten Fortschritt verspricht und gewährt: das Feld der Naturbeherrschung. Die in Technik und Wissenschaft Tätigen genießen weitgehend Immunität von den Schrecken des oder der heiligen Büros (das marxistische kann ihnen gefährlicher werden, weil es angeblich selbst nach wissenschaftlichem Gesichtspunkten urteilt, also noch in seiner >galileischen< Phase steckt; aber das ist in der Regel vorübergehend und scheitert meist an der Notwendigkeit, quantifizierten Fortschritt als Evidenz für die Überlegenheit des Systems vorweisen zu können). Dadurch ziehen Naturwissenschaft und Technik gerade jene aktiven Geister an, denen das Klima der ideologischen bzw. theologischen Auseinandersetzung zu fruchtlos bzw. zu gefährlich erscheint. Die Tatsache, daß heute im Westen der Zustrom zu den naturwissenschaftlich-technischen Fächern stagniert, während sie im Osten nach wie vor höchsten Status besitzen, hängt logisch damit zusammen, daß es im Westen keine tödlichen und gefährlichen ideologischen Irrtümer mehr gibt.
Zwölftens — Da Heilige Büros in der Regel keine schöpferischen Persönlichkeiten anziehen, war und ist es eine Notwendigkeit, für den theologischen bzw. ideologischen Hausgebrauch eine eigene Terminologie und Technik zu entwickeln, die es dem Unbedarften erlaubt, mittels ihrer Handhabung nach außen den Anschein ungeheurer Kompetenz zu erwecken.
Dies war früher der hohe Reiz der Theologie; heute ist er auf die marxistische Scholastik übergegangen. Auch mäßige Intelligenzen können sich überdurchschnittlich gewachsen oder überlegen fühlen, wenn sie, sagen wir, die indische Eröffnung und die Botwinnik-Variante des Schachspiels kennen und so den Anfänger in neun Zügen Matt auf c4 setzen können. Dies ist um so leichter möglich, wenn fast keine Realitätskontrolle mehr vorliegt, sondern die Auseinandersetzung ausschließlich innerhalb des Regelwerks, des Schachbretts oder der scholastischen Spielfläche erfolgt.
Praxisferne Menschen mit reduzierter Sinnlichkeit fühlen sich in solchen Welten besonders wohl; damit dürfte es zusammenhängen, daß den Scholasten der berühmte Kontakt mit der>Arbeiterklasse< — als solchen Menschen, die ihr Selbstverständnis noch unmittelbar aus der Vitalsphäre und der körperlichen Geschicklichkeit beziehen — so ungeheuer schwerfällt.
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Das ist eine kurze Liste der gemeinsamen Probleme und Resultate von Marxismus und Christentum. Hinzuzufügen in aller Fairness ist die Gemeinsamkeit, daß sie beide auf ihre Weise trotz allem die Welt ein wenig humanisiert haben; davon wird aber noch ausführlicher zu sprechen sein.
Es muß ferner deutlich gesagt werden, daß es dem Marxismus gelungen ist, die einfachsten Überzeugungen der christlich-jüdischen Tradition in Weltgegenden zu tragen, die von einer imperialistisch pervertierten Christenheit nie erreicht wurden und nicht erreicht werden konnten. Und auch hierzulande bewahrt der marxistische Sozialismus noch Zehntausende von Menschen, die <reinen Herzens> sind, vor dem Sturz in die Verzweiflung — vor dem sie die christlichen Kirchen in ihrem jetzigen Zustand nicht ohne weiteres bewahren könnten.
Das Erschrecken der Kirche vor dem Marxismus ist also nicht zuletzt durch die — selten bewußte — Einsicht bewirkt, daß hier Kräfte am Werk sind, die ursprüngliche Elemente der Botschaft besser der heutigen Menschheit vermitteln können, als sie dies selber vermöchte.
Die Gründe hierfür werden im nächsten Kapitel zu erörtern sein. Doch da unser Thema nicht gute Absichten, sondern ablesbare Resultate christlicher Geschichte betrifft, läßt sich an dieser Stelle eine vorläufige — Bilanz ziehen; eine hypothetische Antwort auf die Frage:
Wie erfolgreich war das Christentum?
Es hat, jedenfalls bisher, keinen Erfolg in seinen zentralen und proklamierten Intentionen aufzuweisen; es hat nicht vermocht, die Welt in das zu verwandeln, was die alte Präfation des Christkönigsfestes als eine Welt der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens beschreibt. Das läßt sich mit einem Blick in die Tageszeitung feststellen. Auch seine häretischen Kinder und Erben haben das nicht vermocht. Das Christentum und seine Erben waren jedoch außerordentlich erfolgreich in der Weckung von Energien, die sich um den ältesten Auftrag der jüdisch-christlichen Tradition bemühten: um den totalen Herrschaftsauftrag über den Rest der Schöpfung.
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Er war erfolgreich in der Übermittlung selbstverständlichen Vertrauens in die Garantien der Genesis: qualitative Einzigartigkeit des Menschen, totale Profanität der Natur, ihre Verfügbarkeit als Ausbeutungsobjekt und ihr unerschütterliches ökologisches Gleichgewicht. Die Selbstverständlichkeit solchen Vertrauens geht heute weit über die Grenzen von Judentum und Christentum hinaus: räumlich, aber vor allem auch im Bewußtsein der Zeitgenossen.
Das Christentum hat ferner seinen historischen Erben eine — möglicherweise tödliche — Überzeugung vermitteln können: die Überzeugung von der glanzvoll angeordneten Zukunft, von dem Neuen Jerusalem, das uns auf jeden Fall erwartet; sei es im Gang der Heilsgeschichte, sei es im ehernen Pendelschlag der historisch-materialistischen Uhr.
Die glanzvoll angeordnete Zukunft aber rechtfertigt sich aus der Annahme, daß alles Unvollkommene, alles Leidvolle, aller Todesschmerz unserer Existenz ein Ärgernis ist, keine Existenzbedingung: daß es sich hierum Webfehler im Menschheitsmuster handelt, die — entweder durch göttlich-eschatologisches Eingreifen oder durch die Logik des gesellschaftlichen Prozesses — korrigiert werden müssen und tatsächlich korrigiert werden.
Auf dieser Basis hat sich in letzter Zeit auch eine theoretische Wiederannäherung von Marxismus und Christentum vollzogen, die in vielen Teilen der Welt bereits ein neues progressistisches Aktionsklima geschaffen hat.
Das progressistische Klima
Zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert löste sich die alte Dialektik von Orthodoxie und Ketzerei aus ihrem christlichen Rahmenwerk; zwar proklamierten die Ketzer noch immer den Verrat der Botschaft Jesu durch die Kirchen, aber sie beriefen sich zur Begründung ihrer neuen Position nicht mehr auf die Schrift als höchste und letzte Autorität, sondern zogen andere Quellen heran.
Wie wir gesehen haben, änderte dies an den praktischen Resultaten solchen Widerspiels fast gar nichts; aber da das in den Kirchen verfaßte Christentum seit eineinhalb Jahrtausenden sich selbst als Hort eines Glaubensbesitzes und den Begriff >Glauben< als Festhalten an bestimmten dogmatischen Wahrheiten definiert hatte, konnte der neue kritische Geist nicht mehr als Schisma oder Ketzerei verarbeitet werden, sondern war ein Angriff auf das Christentum selbst.
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Verschärft wurde diese Situation durch das, was im Kampf der Konfessionen untereinander an innerkirchlichem Klima (und zwar auf beiden Seiten) entstanden war. Die vermeintliche Notwendigkeit, die Unterscheidung vom Gegner über alle anderen Gesichtspunkte zu stellen, hatte zur Heraufkunft einer engbrüstigen Mittelmäßigkeit geführt, die über das jeweils >Abweichlerische< zu Gericht saß; und welcher kreative Geist ist nicht abweichlerisch? Nicht mehr der kraftvollste, sondern der >genaueste< Glaube zählte; nicht mehr die Liebe oder die Solidarität, sondern der Stallgeruch; nicht mehr die Hoffnung, sondern das ängstliche Festhalten an den festgelegten Kriterien.
So sah man sich — eigentlich ziemlich plötzlich — den Geistern gegenüber, die man aus den Kirchen hinausgeekelt hatte, und man sah sich ihnen in unzulänglicher Rüstung und mit reichlich ärmlicher Mannschaft gegenüber. Verwunderlich ist nicht der Sieg der neuen, kritischen Geister über die alten Dunkelmänner: Verwunderlich ist, daß den Kirchen überhaupt noch große Seelen und Hirne verblieben.
Die Lage der verfaßten Christenheit war und ist also keineswegs beneidenswert. Hätte sie auf die rasch hintereinanderfolgenden Herausforderungen der säkularen Welt seit 1648 anders reagieren können, als sie reagiert hat? Hätte sie rechtzeitig die Ideale von 1789 umarmen, den christlichen Sozialismus propagieren sollen? Zweifellos wäre dies möglich gewesen, wenn Kirchen- und Weltgeschichte die Geschichte reiner Intentionen und reiner Erkenntnisse wären; aber Geschichte wird eben stark vom Unterbau bestimmt, und der Unterbau der Kirchen, aller Kirchen mit Ausnahme einiger Freikirchen, war vom 19. Jahrhundert an für das Handeln nach reinen Erkenntnissen und Intentionen nicht geeignet. Was die Kirchen noch an volkstümlicher Macht besaßen, verdankten sie entweder ihrer Kontrollfunktion an den Pforten des Jenseits — eine sehr verdächtige Macht — oder dem Mißtrauen der Massen gegenüber allem Neuen.
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Das Alte aber, das es zu bewahren galt, war nicht sosehr das Christliche als das Heidnische: die kollektiven Seelengründe einer abergläubischen, im Zwielicht übernatürlichen Zornes und übernatürlicher Beschwichtigung lebenden Bauern- und Bürgerschaft.
Es ist nur logisch, daß sich die Kirchen angesichts solcher ungünstiger Ausgangspositionen in Fortschrittsfeindlichkeit ergingen. Sie stießen sibyllinische Warnungen gegen die Demokratie, die Großstadt, den Kunstdünger, die Technik, den Lippenstift aus, verherrlichten die einfachen Tugenden von gestern und vorgestern, gaben sich als Interpreten einer statischen >gottgewollten< Schöpfungsordnung — kurz, taten ziemlich genau das, was ein römischer Pontifex Maximus einstmals gegen das Christentum selbst getan hat oder hätte, wenn es mit den technischen Voraussetzungen von heute auf den Plan getreten wäre. Dabei war man sich aber von Anfang an der eigenen Sache keineswegs sicher; man wußte — bei einiger Reflexion — nur zu gut, daß die secularcity, die weltliche Stadt, die jetzt im Entstehen war, von Enkeln und Erben der Christenheit bewohnt ist, und daß man selbst am Entwerfen der Baupläne ziemlich maßgebend beteiligt war.
So war denn von Anfang der Aufklärung an ein kirchlicher Progressismus vorhanden, der sich dieser Tatsache stellen wollte. Es gab innerchristliche, ja innerkirchliche Versionen der Aufklärungsbewegung; im Protestantismus setzten sie stärker und früher ein, aber auch im rheinischen und österreichischen Katholizismus hatten sie hervorragende Vertreter.
Ihr Pech war, daß sie nicht volkstümlich waren; mit anderen Worten, daß sie keine Basis hatten. Das Volk kaute keine Theorien durch, sondern hielt sich an Klasseninteressen. Diejenigen der Bourgeoisie waren kirchenfeindlich, solange die Kirche feudal war, und wurden kirchen-konform, sobald die Bourgeoisie selbst reaktionär wurde; nicht, weil die Kirche von Haus aus und unbedingt reaktionär sein mußte, sondern weil die >progressiven< Kräfte ihr Heil außerhalb der Kirche suchten. Die Bauern waren und blieben christlich, solange es keine Hagelversicherung und keine landwirtschaftlichen Lehrstühle gab; das heißt, daß sie heidnisch-magisch blieben — mit vielen liebenswürdigen Zügen, die dieser way of life vor allem im Katholizismus bewahrt hat.
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Wirklich frei zur Selbstreflexion und zur möglichen fortschrittlichen Aktion konnten die Kirchen erst werden, als diese Basis selbst zerbröckelte. Nur so erklärt es sich, daß die Theologie aller Konfessionen heute erstaunlich optimistisch ist — optimistischer jedenfalls, als sie jemals seit Konstantin war. In ihr ist so gut wie kein Ressentiment gegen die moderne säkularisierte Welt mehr zu spüren, gegen Fortschritt oder Aufklärung; und dies trotz der Tatsache, daß fast alle Warnungen der alten Konservativen vor der Weltentwicklung recht behalten haben.
Die Freiheit der Theologie ist, zunächst, eine Freiheit, die sie eben der weltlichen Entwicklung verdankt. Am klarsten, da sich der Prozeß in unserer Gegenwart abspielt, läßt sich dies am Katholizismus erläutern. Der Entschluß des Papstes Johannes zur Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils (auf ihn kommt es mehr an als auf das Konzil selbst) muß in Beziehung gesetzt werden zu seiner offen geäußerten Ansicht, daß entscheidende Impulse des Christentums nicht innerhalb, sondern außerhalb der Kirchen sich entfaltet haben: Er zog das Bild Jesu von der Saat heran, die ein Sämann sät, und von der einiges am Wegrand aufgeht. Der Papst bejahte damit jene Dialektik, die uns in den vorigen Kapiteln beschäftigt hat: das Widerspiel von Orthodoxie und Ketzerei, aus dem soviel menschliche Emanzipation erwuchs. In dem Augenblick, wo ein Konzil einberufen wurde, mußte sich die Theologie in Bewegung setzen; mußte die Grundsatzdiskussion wieder beginnen, die sich unter der Ägis der Ketzerriecherei und der Weltfeindlichkeit scheintot gestellt hatte.
Für Westdeutschland kam der Umschwung gerade rechtzeitig. Dieses Land, zum ersten Mal in seiner Geschichte der Feudalität entronnen und dem offenen Materialismus ergeben, konnte vor dem Zweiten Vatikanum nur noch die reaktionärsten Formen des Katholizismus verleiblichen, der sich in einer immer hoffnungsloseren Abwehrhaltung gegenüber der Gesellschaft befand. (Daß sich weite Teile der Gesellschaft von ihm geistespolitisch bedienen ließen, widerspricht dem überhaupt nicht.)
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Was der deutsche Katholizismus hatte — noch und wieder hatte —, waren Theologen; Theologen, von denen einige nicht mehr schreiben durften, einige von selbst nicht mehr schrieben, um sich nicht der Verfolgung auszusetzen. Mit einem Schlag waren diese Theologen zur Visitenkarte des deutschen Katholizismus geworden — und sind es seitdem geblieben. Ja, sie sind sogar so etwas wie die Lieblinge der Gesamtgesellschaft; die zahlreichen Buchveröffentlichungen für gebildete Laien erfreuen sich steigender Auflageziffern, die nicht nur auf Gläubige zurückzuführen sind.
Die Kirchen sehen eine solche Entwicklung nicht ungern. Auf der Ebene der Akademie-Tagungen und Kongresse haben die Theologen eine gesellschaftliche Vermittlungsaufgabe übernommen, die um so wichtiger ist, je schmäler die Machtbasis der Kirchen in der Gesellschaft wird. Je kühner und freimütiger sich die Theologen dort oder am Fernsehschirm äußern, desto besser nehmen sie diese meist unbewußt akzeptierte Aufgabe wahr.
Gerade auf dieser Ebene der Tagungstheologie (der Ausdruck ist nicht abwertend gemeint) kam die interessante Koalition zustande, die eine Reihe von Jahren das geistige Feld zu beherrschen schien: die Koalition zwischen fortschrittlichen Theologen und fortschrittlichen Marxisten. In einer Reihe von Gesprächen, die von der Paulus-Gesellschaft initiiert und vor allem von den Intellektuellen der CSSR gestützt wurden, suchte man sich näherzukommen und stellte ein gemeinsames Überzeugungsklima fest, das sich etwa in folgenden Thesen zusammenfassen läßt:
Erstens — Die Intention beider Bewegungen, der christlichen wie der sozialistischen, ist auf die Zukunft gerichtet. Beider Berechtigung liegt nicht in goldenen Zeitaltern der Vergangenheit, sondern in Heilszielen, die sie sich gesetzt haben, oder die ihnen gesetzt sind.
Zweitens — Diese Heilsziele sind in beiden Fällen kollektiv; weder das Reich Gottes noch die klassenlose Gesellschaft befassen sich in erster Linie mit dem Einzelmenschen, sondern mit der Verwirklichung des Heils für alle.
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Drittens — Das Heil ist kein fertiges Gebäude, das sozusagen möbliert bezogen werden könnte, sondern entfaltet, offenbart, realisiert sich in der liebenden, beziehungsweise solidarischen Praxis, die durch Weltveränderung neue Wirklichkeiten setzt.
Viertens — Die Praxis ist immer eine kämpferische Praxis insofern, als sie gegen verhärtete Verhältnisse, Strukturen, Denkweisen anzugehen hat. Der Weg des Christentums wie des Sozialismus ist also zwangsläufig ein Weg der Aufklärung und Bewußtwerdung; beide haben Freiheit zu lehren, und zwar nicht im liberalistischen Sinn, sondern im ständigen Kampf gegen solche Verhältnisse, Strukturen, Denkweisen, die objektiv die Entfaltung von Freiheit für alle unmöglich machen.
Fünftens — Welt und Schöpfung sind nur insoweit erfahrbar und wichtig, als sie Bezug auf diesen Heilsweg haben. Die Schöpfung ist noch nicht zu Ende, die Welt ist machbar, und das Potential des Menschen, sie zu verändern, ja sie in gewissem Sinne erst zu machen, ist bisher so gut wie unausgeschöpft. In dem Maße, in dem er die Verhältnisse, die ihn bedrücken, überwindet, wird dieses Schöpfer-Potential anwachsen.
Soweit die möglichen Gemeinsamkeiten.
Es ist bezeichnend, an welcher Stelle sich die Wege trennten und trennen: Fast immer war und ist es der Begriff der Zukunft, der solche Trennung signalisiert. Die Marxisten werfen den Christen vor, ihre eschatologische Zukunftserwartung laufe letzten Endes auf eine Gabe von oben hinaus und beraube den Menschen seiner endgültigen Selbstbestimmung; die Christen andererseits finden die Marxismus-Formel von der klassischen Gesellschaft und dem Ende der Entfremdung anthropologisch zu kurzatmig; sie behaupten, daß gerade die Verweisung der >absoluten Zukunftx auf Gott die relative und reale Zukunft des Menschen für jede mögliche Verwirklichung offenhalte; kurz: Was beide Seiten einander vorwerfen, ist, daß der Partner dem Menschen seine allerbeste und allerschönste Zukunft nicht gönne, so oder so.
Das Prinzip, unter dem man sich einigte und unter dem man stritt, ist also das Prinzip Hoffnung; der Mann, der diesen Titel über sein wichtigstes Buch setzte, Ernst Bloch, ist folgerichtig so etwas wie eine Eminenz der Koalition geworden. Und in der Tat sind ihm die Christen sehr viel Dank schuldig.
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Er hat den Marxismus aus der öden Monotonie seines Geschichtsbildes befreit, in dem die jüdisch-christliche Tradition einfach unter >Religion als Opium< eingereiht war, hat den Atheisten die fundamentale Andersartigkeit dieser Tradition klargemacht und damit eine intelligente Diskussion erst ermöglicht. Bloch geht so weit, die jüdisch-christliche Erbschaft, die der Marxismus angetreten hat, zu bejahen, ja sie zu rühmen; allerdings ist für ihn der einzig logische Schritt in die endgültige, von Juden und Christen angelegte Emanzipation der Atheismus. Moses und Jesus, so meint er, haben begonnen, die Menschen den aufrechten Gang zu lehren; aber sie schrecken davor zurück, die letzte Neigung des Hauptes auch noch abzuschaffen — oder, um Bloch nicht unrecht zu tun: Er meint, daß Moses und Jesus die innerhalb ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs möglichen Fortschritte verkörpern, daß jedoch diese Fortschritte bereits auf Atheismus angelegt seien, und daß es heute eine Inkonsequenz darstelle, diesen Schritt nicht zu tun.
Wie weit er damit einer Gefühlslage auch innerhalb der Theologie entgegenkommt, zeigte vor kurzem die >Gott-ist-tot<-Theologie. Im Grunde ist diese etwas forsche Formel nur der popularisierte Ausdruck eines Dilemmas, welches das Christentum ebenfalls mit dem Sozialismus teilt: das Dilemma der Antinomie von Schöpfung und Verheißung. Man hat die heutige Theologie insgesamt >horizontal< genannt; das heißt, daß sie alle wesentlichen Heilswahrheiten in humanen, enger: in zwischen- und mitmenschlichen Kategorien zu fassen versucht. Newmans Formel >I and My Creaton, ich und mein Schöpfer, kann heute nicht auf Anhänger rechnen. Auch solche Systeme im heutigen theologischen Pluralismus, die von Altizerund den anderen Propheten der Gott-ist-tot-Theologie abrücken, befassen sich nicht oder kaum mit Fragen der Schöpfungsordnung, sondern ganz und fast ausschließlich mit humaner Wirklichkeit. Dennoch ist ihnen das Dilemma ständig präsent. Und unterderhand wird es — wie alle unterdrückten oder verdrängten Probleme — zur Frage Nummer eins. Selbst Altizer hat Gott nicht >eigentlich< für tot erklärt, sondern sieht ihn geradezu als Gegenprinzip zu den Verheißungen des Christentums, als den düsteren Zirkelschläger, den etwa William Blake als Urizen gezeichnet hat: als Unterdrücker und Erfinder der natürlichen Höllen.
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Dorothea Sölle sieht in Jesus den (>Stellvertreter< oder >Schauspieler Gottes<, der die Herrschaft des Vaters ablöst, ihn also, wenn man es genau nimmt, liquidiert hat. Über Ernst Blochs Interpretation des Gottes, der Hiob antwortet, als eines >finster-weisen Naturbaal< haben wir bereits gesprochen; hier kann ergänzt werden, daß Bloch zustimmend eine altpersische Legende zitiert, in der ein grausamer Vater (Gott) seine schöne Tochter (die Gemeinde) einsperrt und den Freier, der vor ihrer Tür singt (Christus), im Zorn erschlägt. Der Freier aber hinterläßt der Tochter seinen Ring und sein Lied und verspricht die Wiederkunft.
Die Legende ist, wie erwähnt, persisch und gehört dem großen gnostisch-manichäischen Kulturkreis der Antike an. Sie ist offen dualistisch; zwei Prinzipien stehen sich gegenüber, ein lichtes und ein dunkles — aber das dunkle Prinzip ist der Schöpfer Himmels und der Erde selbst. Ihm gegenüber befinden sich die progressiven Theologien in dergleichen Verlegenheit, in der sich ihre Väter gegenüber dem Satan befanden. Entweder wird er als Nichts behandelt, als quantite negligeable, als Abwesenheit der guten Verheißung — oder er wird, wie bei Altizer, Solle und Bloch, manichäisch aufgewertet zu einem Heerfürsten der Nacht, gegen den uns das Licht der Menschlichkeit in Pflicht nimmt. In beiden Fällen muß gegen ihn gesiegt werden; muß der Mensch seine eigene Schöpfung bauen — mit oder ohne Verheißung? Natürlich mit Verheißung — das heißt mit der Hoffnung, daß die Geschichte des Menschen auf eben diesen hominisierten Kosmos angelegt ist.
Es sei betont, daß diese Art des Geschichtsdenkens (besser: Geschichtsfühlens) sowohl den Voraussetzungen der christlichen Orthodoxie wie denen des klassischen Marxismus widerspricht. Für den aufrechten Orthodoxen gibt es keine Geschichte außerhalb von Gottes Zulassung; und für den historischen Materialisten gibt es nur den großen Pendelschwung von These, Antithese und Synthese. In beiden Systemen ist eigentlich nicht der Mensch das Thema, sondern der Gang der Heilsgeschichte. >Richtige< und >falsche< Entscheidungen sind in diesem Gang nicht aufregender als die Entscheidung eines Gasmoleküls, ob es innerhalb seiner Versuchsanordnung der allgemeinen Strömung folgen will oder nicht.
(d-2014:) D. Sölle bei Detopia
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Es ist aber das Verdienst — und gleichzeitig die Schwäche der neuen Koalition, den Menschen thematisiert, das heißt in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt zu haben. Die Koalition war sich einig darüber, daß die Zukunft des Menschen eine menschliche Zukunft zu sein hat; keiner der vielen Dialogpartner in Marienbad und anderswo hat auch nur einen Satz auf das Schicksal der nichtmenschlichen Schöpfung verschwendet. Man war sich ferner einig, daß die Gegenwart zwar diesen menschlichen Verhältnissen keineswegs entspricht, daß die Menschheit aber, wie Bloch es ausdrückte, allmählich gelernt hat, aufrecht zu gehen. Er und die meisten seiner christlichen Gesprächspartner sind der Meinung, daß dieser Lernprozeß bereits mit der Urverheißung an die Stammväter des Volkes Israel begann; und daß er durch die Propheten und durch Jesus von Nazareth fortgesetzt und beschleunigt wurde. Andere (und unter ihnen befinden sich durchaus schon junge Christen) sehen dies kritischer und lassen vor dem Beginn der wissenschaftlichen Aufklärung keine Lernprozesse gelten, die wirklich den Namen der Emanzipation verdienen. Alle aber — ob sie nun Reformisten oder Revolutionäre sind — fordern die Vollendung der Aufklärung, die weitere Befreiung des Bewußtseins zur Mündigkeit, die immer weitere Demokratisierung der Gesellschaft und betonen die Notwendigkeit systemsprengender Reformen. Ziel dieser Bewußtmachung und der ihr entsprechenden Reformen (oder Umwälzungen) ist eine freie Brüdergemeinde, dem Zwang der Herrschaft und der Repressionen entronnen, die frei die Erde beherrscht und ihre Reichtümer an alle verteilt.
Nun stand und steht die >Tagungs-Theologie<, von der wir sprachen, nicht im Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Geschehens, beileibe noch nicht. Weder die politische Praxis der Profangesellschaft noch die innere organisatorische Praxis der Kirchen hat sich so verändert, daß man auch nur von einem bedeutenden Einfluß sprechen könnte. Wir haben diesen Teil der öffentlichen Diskussion lediglich deshalb herausgegriffen, weil er einen allgemeinen Stimmungsumschwung im den-
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kenden Publikum illustriert und weil die Begriffe, mit denen hier gearbeitet (und leider Gottes auch oft manipuliert) wird, für unsere Überlegungen wichtig sind. Aber selbst dieses Verfahren wäre nicht erlaubt, wenn eine solche Illustration für die Lage der Gesamtgesellschaft gar nichts bedeuten würde. Sie bedeutet jedoch sehr viel; nämlich die Verbreitung von radikalen Überzeugungen und Ideen zur intellektuellen Subkultur, die lange vor dem realen Sturz der Herrschaftsverhältnisse die Gemüter der Multiplikatoren, das heißt der Meinungsverbreiter, beherrscht. Mindestens anderthalb Jahrhunderte vor dem Ausbruch der Reformation war die Mehrheit der denkenden abendländischen Christen von der Notwendigkeit der Reform nicht nur überzeugt, sondern faßte dies als den einzig möglichen Standpunkt auf; fahrende Scholaren verbreiteten diese Notwendigkeit in der Form von Pamphleten, Schmähgedichten, Parodien und kabarettreifen Witzen. Das ganze 18. Jahrhundert Frankreichs dachte und fühlte in den Rahmenvorstellungen der Aufklärung. Der entscheidende Test für die Wirksamkeit solcher Subkulturen ist der des Einflusses auf den Gegner. Die herrschende Schicht, die sich an Vagantenliedern delektiert, die Rousseau liest oder Peter Weiss beklatscht, ist sich dabei keineswegs ihrer Schizophrenie bewußt, sondern tauscht lediglich den einen cant, die eine Spielform der Heuchelei gegen die nächste ein. Sie ist, so merkt sie plötzlich, selbst an >Reformen< interessiert, an der Vermenschlichung oder an der Reinigung oder an der Verbesserung der bestehenden Verhältnisse; sie ist allerdings, im Kontrast zu ihren Gegnern, durchaus überzeugt davon, daß sie selbst in der Lage ist, dieses Reformwerk zu meistern.
Die letzten zehn oder fünfzehn Jahre westdeutscher Geschichte sind dafür ein gutes Beispiel. An den Verhältnissen hat sich (trotz des Regierungswechsels von 1969) so gut wie nichts geändert; aber was sich völlig geändert hat, ist das Rahmenwerk der öffentlichen Überzeugungen, in dem sich die alten Kräfte noch glauben betätigen zu können.
Ein Symptom für diese Entwicklung ist immer das Schicksal des echten Konservativen. Von der europäischen Geschichte schon seit zweihundert Jahren benachteiligt, ist der Konservatismus in Deutschland endgültig untergegangen.
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Er wird allgemein als Synonym für >Reaktion< gebraucht — ein absolut groteskes Mißverständnis. Echter Konservatismus setzt eine Welt voraus, in der menschliches Streben von übergeordneten, wenn nicht göttlichen, dann >natürlichen< Gesetzen geregelt und begrenzt wird. Der Reaktionär dagegen glaubt an die Machbarkeit der Welt und der Umwelt, genauso wie der Progressist. Er agiert nicht im Rahmenwerk von göttlichen oder natürlichen Gesetzen, er glaubt vielmehr in recht handfester Weise an die totale Herstellbarkeit der ihm genehmen Umwelt. Ein Konservativer kann letzten Endes gar kein Programm haben; das Programmieren hat ein Anderer (Gott) oder ein Anderes (die Natur) besorgt. Der Reaktionär dagegen traut es dem fortschrittlichen Feind ohne weiteres zu, daß er die Welt so gründlich verändert, daß sie nicht wiederzuerkennen ist; und er ist gewillt, seinerseits alle notwendigen Maßnahmen zu treffen — nicht um irgendwelche Prinzipien zu retten, sondern um den Gegner an der Machtergreifung zu hindern. Reaktion lebt also ideell vom Gegner, sie lebt von der Zukunft, die sie zu vereiteln wünscht, und ist damit nicht mehr als ein Manager der Verzweiflung.
Für den Konservativen ergibt sich in einer solchen Konstellation eine höchst schwierige Alternative. Bleibt er tätig, arbeitet er der Reaktion in die Hände; hält er an seinen grundsätzlichen Überzeugungen fest, bleibt ihm nur die Resignation und die Hoffnung, daß die von ihm verehrten Strukturen und Werte durch den Umbruch verändert, aber nicht zerstört werden. Jahrzehntelang hat sich das beste christliche Ingenium im Konservatismus verzehrt; in unseren Tagen scheint es sich zu entschließen, auf die Reform, ja auf die Revolution zu setzen, um die Werte, auf die es ihm ankommt, in die Zukunft hinüberzuretten.
Dabei lassen sich verdächtige Nachbarschaften nicht vermeiden. Die Verdächtigkeit der Nachbarschaft wird nicht dadurch bestimmt, was geredet wird, sondern durch die gesellschaftliche Bedeutung des Geredes. Die Reaktion hält sich — sei es aus Gründen des schlechten Gewissens, sei es aus strategischen Hinhalte-Gründen — eine hochdotierte progressistische Subkultur, die längst die Alibi-Rolle der ehemaligen Staatskirchen übernommen hat.
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Zu dieser Subkultur gehören subventionierte theologische Lehrstühle genauso wie subventionierte radikale Staats- oder Stadttheater. Die dort Agierenden — linke Theologen wie linke Regisseure — können dabei nur auf die List der Geschichte setzen, die für sie arbeitet; wenn sie sich Illusionen über ihre Rolle in der Gesellschaft machen, haben sie ihre eigene Stellung in dieser Gesellschaft nicht genügend durchdacht. Vorläufig gilt: der cant des Fortschritts, des Reformismus, ist so oder so zur Dominante unseres Kultur- und Geistesbetriebs — und, bis zu einem gewissen Grade, sogar zum politischen Kleingeld unserer Wahlkämpfe geworden. Während noch bis vor kurzem die Lenker unseres Landes durch Parolen wie >Sicher ist sicher< und >Keine Experimente< um Legitimation ersuchten, schreiten heute alle nennenswerten Prominenten mit erhobenem Blick und leuchtenden Auges dem Beschauer in die reformierte Zukunft entgegen. Wäre der vielzitierte Kleine Mann auch nur um ein weniges konservativer, als er es tatsächlich ist (er hat guten Grund, es zu sein, davon später), wäre dem Millennium Tür und Tor geöffnet. Die Nachkriegszeit mit ihren Stimmungsvarianten von blanker Verzweiflung über ängstlichen Immobilismus bis zur Philosophie und Literatur des Absurden ist endgültig vorbei; heute wird geplant, programmiert, expandiert, der Erfolg liegt wieder einmal — wie schon so oft in der menschlichen Geschichte — um die nächste Ecke.
Verehrter Leser! Wir haben bewußt diese etwas zynische und (notwendigerweise) summarische Skizze der politischen Stimmung der Diskussion der sozialistisch-theologischen Koalition angeschlossen — und zwar deshalb, weil das Gesetz, unter dem sowohl diese Koalition wie auch die Wahlkämpfer unseres Landes antreten, durch die Weltentwicklung bereits überholt ist.
Das Pathos des Reformismus sieht sich heute einem Weltzustand gegenüber, der es vor nahezu hoffnungslose Probleme stellt, und diese Probleme, die scheinbar so dringend der Meisterung gerade durch den Progressismus bedürfen, entziehen sich seinem Zugriff gerade deshalb, weil sie nichts anderes als das Resultat von Erfolgen sind — Erfolge derjenigen Methoden der Weltbewältigung nämlich, die sich aus jüdäisch-christlichen Voraussetzungen entwickelt haben und durch Energien angetrieben werden, die ohne judäisch-christlich geformtes oder wenigstens beeinflußtes Selbstverständnis der Menschheit nicht vorstellbar sind.
Nun gilt es, nicht nur ein paar Schritte zurückzutreten und auf Distanz zu gehen; es gilt vielmehr, uns alle zu einer Kehrtwendung zu nötigen und jenen Tatsachen ins Angesicht zu sehen, die wir, durch welche Verheißungen immer beflügelt, systematisch aus unserem Bewußtsein verdrängen. Was zur Debatte steht, ist der menschliche Erfolg selbst: ein Erfolg, der noch nie so greifbar nah schien wie heute — und der dennoch die tödlichste Bedrohung in sich schließt, der die Menschheit bisher gegenüberstand.
Die Frage, die gestellt werden muß, lautet:
Sind die bisherigen Methoden, die zum Erfolg geführt haben, imstande, die Zukunft zu sichern? Nicht eine bessere, schönere, größere Zukunft, sondern die Zukunft schlechthin, die schlichte Möglichkeit wenigstens für einige unserer Enkel, ihr Leben auf diesem kleinen Stern zu fristen, der trotz aller prometheischen Entwürfe ihre Heimat ist und sein wird?
Das ist die letzte Herausforderung: vielleicht wirklich das letzte Gefecht.
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