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Gefunden und verloren

 

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Es gilt, vom Preis des Erfolgs zu sprechen, eben des Erfolgs, den wir beschrieben haben. Daß er hoch ist, wissen und spüren wir alle. Was in den letzten Generationen geschrieben worden ist, jedenfalls in unseren Breiten, war eine einzige Klage über den Preis des Erfolges.

Seit etwa 1800 ist unsere große Literatur eine Schreckens-Literatur; nicht die Wonnen antiker Weltergreifung, nicht die Entdeckerfreude der drei Jahrhunderte zwischen Renaissance und Napoleon sind konstitutiv geblieben, sondern der Schrecken über das, was die erfolgreiche Zivilisation sich selbst antut.

Während das, was naivere Zeiten die Schöpfung nannten, immer machbarer und immer zugänglicherer für das Wollen des Menschen zu werden scheint, schließt sich um die Psyche der Ahnungsreichen der Dschungel des Grauens. 

Die Grenzsituation wird zur künstlerischen Normalität. Und die Wut des Schlachtschreis gegen die Ungerechtigkeit des Ganzen ist nicht einmal so eindrucksvoll wie stille Unerbittlichkeit am Rande des Wahnsinns: Hölderlin, Kafka, Beckett haben mehr über uns gesagt als Brecht oder Bloy, die doch — scheinbar — um so vieles engagierten sind. Die Seher erstarren vor den Skeletten an der Karawanenstraße; blicken in die Augenhöhlen der Schädel und lesen darin, nicht im Fortschritt der Karawane, die Wahrheit über die Zeit. (Den billigen Trick unserer genormten Kulturprogressisten, die solche Entsetzen ausschließlich dem bürgerlichen, noch besser dem >spätkapitalistischen< Bewußtsein anlasten, können wir doch wohl beiseite lassen.)

Es ist wichtig festzustellen, daß die Termini >rückschrittlich<, >konservativ< oder >progressiv< in diesem Zusammenhang von hoher Fragwürdigkeit sind. Gerade die Persönlichkeiten und Richtungen der Kunst, die sich der unerbittlichsten Revolution verschrieben haben, sind entweder formal rückschrittlich — oder sie sind formal selbständig und dadurch im strikten progressiven Sinne dekadenzverdächtig.

Dennoch ist es nützlich, zur Illustration einen Sonderfall heranzuziehen, der nicht seiner qualitativen Bedeutung, sondern seiner Signifikanz für unser Thema wegen gewählt wird: den Sonderfall der christlichen Literatur um 1900, insbesondere des Renouveau Catholique.

Heute gibt es <christliche Kunst> und christliche Literatur nicht mehr; wenn es sie je in so sauberer Zuordnung von Adjektiv und Substantiv gegeben hat. 

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Die Dialektik der Historie ist, wie wir sahen, in die Felder der säkularen Welt abgewandert, die Ereignisse der Welt und der Seele werden nicht mehr in evangelischen oder patristischen oder scholastischen Kategorien faßbar. Aber es gab, immerhin, Versuche, es gab einige große Namen und gibt einige achtbare Nachzügler. Es gab Bloy und Bernanos und Claudel und Peguy, es gab G. K. Chesterton, T. S. Eliot und Evelyn Waugh, es gibt Heinrich Böll und Graham Greene.

Diese Schriftsteller, vor allem die großen Franzosen, standen der modernen Welt in schärfster Kritik gegenüber. Komischerweise wurden sie aber als Kritiker ihrer christlichen Zeitgenossen berühmt und umkämpft. Sie waren und sind, zunächst und vor allem, nicht erbaulich; mit anderen Worten, sie bemühen sich um ein Niveau, das an sich schon beunruhigend ist. Aber sie waren und sind in der Regel erklärte Konservative, die der verachteten oder gehaßten Zeitgenossenschaft einen Spiegel vorhalten, einen Spiegel, der ihre Fratzen realistisch wiedergibt. 

Was war, wenn überhaupt, ihre Vergleichswelt? Die Werte, auf die sie sich bezogen?

Sie wählten, um sich verständlich zu machen, Typen von mittelalterlicher, jedenfalls altmodischer Reinheit. Der Mönch, der Krieger, der Gentleman, der Ritter von der Mancha, der Arme, das einfältig-fromme Mädchen: sie sind in Hülle und Fülle bei Bloy, bei Peguy, bei Bernanos, bei Chesterton, bei Waugh und zuletzt bei Heinrich Böll zu finden. Die ganze, sogenannte progressive Literatur der christlichen Erneuerung war und ist zutiefst archaisch-romantisch gestimmt. Sie konzentriert sich auf Lebensformen, die eben deshalb verschwunden sind, weil sie irgendwann einmal — im 13., im 16., im 19. Jahrhundert — von der Dialektik der christlichen Geschichte selbst hinweggefegt wurden. Sie standen der Mehrheit der Christen (oder ihrer Erben) im Wege, dem tiefsten, gräßlichsten Hunger von allen: dem Hunger nach dem Endreich. Und eben deshalb waren diese Leit- und Vorbilder, diese Archetypen christlichen Selbstverständnisses an irgendeinem Punkt von der Kirche selbst aufgegeben, verraten worden — denn die Kirche ist, wie wir sahen, der notwendig verräterische Partner irgendeiner historischen Lebensform.

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Diesen Verrat werfen die »progressiven« christlichen Literaturen der Kirche vor; und der Vorwurf besteht natürlich zu Recht. Denn es gab (und es gibt vermutlich noch heute) Inseln im Strom der Entwicklung, auf denen sich wahrhaft christliche Lebensart zu verwirklichen schien; Lebensformen, Entwürfe, die unter dem Zeichen des Trösters standen, des Paraklet, der plötzlich zu lehren schien, wie Gott und Welt zusammengehen. Ihrer gilt es zu gedenken, wenn die Meditation über die Fragwürdigkeit unserer Erfolge nicht einseitig ausfallen soll. Es gab den benediktinischen Vorschlag, es gab den franziskanischen; es gab und gibt eine Atmosphäre über alten christlichen Universitäten, in der die Dämonen der Lüfte noch heute heiter gebannt scheinen. Es gab diese Inseln, auf denen das Herz, das gefolterte Herz der weißen Menschheit zur Ruhe kam. (>Hic quiescit con ritzte ein Rokoko-Gast mit dem Diamantring ins Fensterglas eines bayerischen Klosters — ich glaube nicht, daß der Mann log.)

Auf diese Inseln konzentriert sich fast bewußtlos die Kompaßnadel von Tausenden, Zehntausenden, die durch den gegenwärtigen Dschungel irren; und es ist lächerlich, solche Suche mit dem Slogan >Heimweh nach gestern< abtun zu wollen. Gewiß, Gottfried Benns parfümierte Klage um das Verlorene Ich ist penetrant unehrlich; aber ist es unehrlich, daß die linke christliche Jugend Amerikas auf einen 1968 verstorbenen trappistischen Einsiedler, den Schriftsteller Thomas Merton, schwört? 

Ist der ganze traurige Glanz der Hippie-Kultur, die im Grunde doch franziskanisch sein will, einfach als lächerlicher Irrweg zu bezeichnen? Und noch in der Sehnsucht unserer Touristen-Millionen nach den Buchten der katholischen Mittelmeere steckt ein aufrichtiger Kern wahrer Verlorenheit: In den vierzehn Tagen, die der Sekretärin, dem Maschinenschlosser in Ibiza oder Istrien vergönnt sind, erhoffen sie einen Wink von oben, eine Hochzeit zwischen Fleisch und Geist, die an die großen Feste der evangelischen Gleichnisse wenigstens von ferne erinnert.

Sie sind nicht mehr möglich; dank unserer Erfolge. Denn diese Erfolge verlangten ihren Preis. Niemand wußte dies genauer als die Konservativen. 

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Sie — die Kaiser, die Priester, die Ritter, die Gentlemen der alten Schule — glaubten an irgendeinem historischen Punkt ihren Frieden mit der Welt gemacht zu haben. Sie glaubten zu erkennen, daß der nächste Schritt, den die Unzufriedenheit tun würde, der Schritt ins Verderben sein mußte. Sie glaubten, daß alle jene, die weitersuchten, weitertrieben, Besessene waren, denen es nur auf die Zerstörung von Werten ankam.

Denn selbstverständlich vertraten sie alle Werte. Sie hüteten Bücherschätze, sie hegten Wild. Sie pflegten Kranke und Arme. Sie hatten ein ritterliches oder feudales Tötungsritual erarbeitet und sahen voraus, daß die nächste, die revolutionäre Generation eine Generation von Vandalen sein würde. Sie hatten Signale für das Liebesspiel, Regeln für die Konversation erdacht, verstanden etwas von Kirchen und Schlössern. Sie fürchteten, daß alle diese kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften, dieses System guter Sitten, dieses Schatzhaus künstlerischer Reichtümer von der nächsten Welt töricht und brutal zerschlagen werden würde.

Und sie hatten recht. Talleyrand hatte recht mit seiner Feststellung: »Wer nicht im Anden regime gelebt hat, wird nie wissen, was die wahre Süße des Lebens ist.« Es ist sicher, daß die Welt nie mehr eine Herrenschicht wie die Englands erleben wird, in der auch größte individuelle Dummheit durch soviel echten Instinkt und echte Zivilisiertheit gebändigt und kompensiert wurde. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß sich nie mehr bürgerliche Handwerker, kleine Leute, in einer kreativen Apotheose ausdrücken werden, wie sie der bayrisch-österreichische Barock war. Ja, es dürfte sogar stimmen, daß kaum einer von uns Zeitgenossen unter sechzig je erfahren wird, wie eigentlich eine Kartoffel schmeckt, mögen wir uns auch an tiefgefrorener Reistafel delektieren.

Aber solches Bedauern, solche Sehnsucht nach der insularen Harmonie, ist uralt. Zweifellos war es schon das Bedauern der kultivierten Hellenisten und Römer, der Akademiker in ihren blumen- und brunnengeschmückten Atrien, welche die neue Welle heraufkommen sahen: die Welle der knoblauchfressenden Levantiner, die in unterirdischen Friedhöfen spukhafte Mysterien feierten. 

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Gibbon, der englische Historiker, hat in seinem Werk über den Verfall und den Untergang des Römischen Reiches aus dieser Konstellation eine Kritik des Christentums gemacht — und bedachte dabei nicht, auf welcher historischen Plattform er selber stand. Was er, der großbürgerliche englische Historiker, als verlorenes Erbe empfand, ist ihm durch den Erfolg des Christentums vermittelt worden; dieses Christentum hat nicht nur die materiellen Voraussetzungen für ein altphilologisches und historisches Studium in England geschaffen, es hat ihm auch das Wissen tradiert, das ihm überhaupt eine Kritik an der Rolle des Christentums im spätrömischen Reich erlaubte. 

Das Christentum war eben gleichzeitig Institution und Botschaft, gleichzeitig Sehnsucht nach Kontinuität und Sehnsucht nach Veränderung, gleichzeitig Stütze der Throne und Treibstoff der revolutionären Motoren. Fortschreitend von Negation zu Negation zerstörte es zuerst die kosmisch-imperiale Balance Roms und wurde dann, nach 312, zur Reichsreligion; schuf es die Basis für ein christliches mittelalterliches Imperium und zerstörte es durch den papalen Internationalismus; verbrannte Giordano Bruno und eröffnete die Welt der Naturerforschung, der exakten Wissenschaft; initiierte die Psychologie des >innengelenkten Menschen<, der Kontinente eroberte, und verlor diese Kontinente an den neuen säkularen Menschen; prostituierte sich zur Hausmedizin der Bourgeoisie und gab die Sprengsätze zu deren Zerstörung an den Marxismus weiter.

Das sind die historischen Tatsachen, in denen sich jedes Heimweh nach verlorenen Paradiesen oder Inseln zurechtzufinden hat. Alle Inseln und Paradiese wurden verwüstet oder evakuiert, weil sie zwar einer Minderheit Gelegenheit boten, betörende Möglichkeiten zu entwickeln, aber die unerträglichen Verhältnisse von Mehrheiten nicht veränderten. Diese Mehrheiten waren zwar selten willens und imstande, ihren Hunger zu artikulieren, aber er wurde erfühlt (oft auch suggeriert) von denen, die erkannten, daß die eigentlichen Verheißungen der Herrschaft über die Schöpfung noch immer in weiter Ferne lagen und von den Inhabern der Paradiese systematisch verschwiegen wurden.

Aber warum wird das Endziel nie erreicht? Warum hat uns die Suche danach in das gegenwärtige Entsetzen geführt? 

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Das ist die einzige Frage, die hier interessiert: die Frage nach der Erfolgsvorstellung der Gegenwart — und die Frage nach ihren Fragwürdigkeiten.

Die Suche nach dem Endreich, so sagten wir, ist vorläufig beim materiellen und biologischen Erfolg angelangt. Wir können eigentlich alles, was wir wollen. Aber, wie kürzlich ein geistreicher Franzose fragte, was wollen wir? Bisher war diese Frage müßig, weil sie eine selbstverständliche Antwort hatte: Wir wollen die Herrschaftsformen beseitigen, die uns am Genuß der Güter der Erde hindern. Wir wollen den Skandal beseitigen, der sich — im Laufe der Jahrtausende — als Verbrechen von Menschen an Menschen enthüllt hat: den Skandal der Unerträglichkeit der Verhältnisse.

Dieser Erfolg scheint greifbar. Und deshalb muß er radikal in Zweifel gezogen werden. Nicht in erster Linie, weil er Kulturgüter der Menschheit gefährdet; die Menschheit, und insbesondere die weiße, die sogenannte christliche Menschheit, steht auf einem riesigen Leichen türm von Kulturen, auf einer Schädelpyramide, in der bestimmt unersetzliche Werte verborgen sind.

Das 19. Jahrhundert — auch sein Zeitgenosse Karl Marx — hat diese Pyramide als Fortschrittsbasis achselzuckend zur Kenntnis genommen. Wir sind etwas empfindlicher geworden, aber ändern können wir daran nichts mehr. Wir können die Tasmanier nicht wiedererwecken, die wir — das heißt unsere christlichen Seefahrer und Kaufleute — wie die Wildschweine gejagt haben; nicht die Hereros, die wir in die Wüste trieben; nicht die Indianerstämme, die wir mit Fusel und Pocken ausrotteten; nicht die Hunderttausende von Sklaven, die wir aneinandergekettet in den Atlantik geworfen haben. Aber die Frage ist: Warum soll es unseren Erfolgsvorstellungen besser ergehen als denen der Gemeuchelten, die wir den unseren opferten? Könnte nicht die Begrenztheit unserer Elfolgsvorstellung, eines Tages auch zu unserem eigenen Schicksal werden — einem Schicksal, in das wir bei unserer erprobten Aggressivität möglichst große Teile der leidenden Welt hineinreißen werden?

Die Frage lautet also: was ist das überhaupt — kultureller Erfolg?

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Es gibt ein mögliches Kriterium, das vielleicht das objektivste von allen ist: das Kriterium des ökologischen Erfolgs, das heißt der Stabilität in der Lebensumwelt. Letzten Endes sind es nur die allerprimitivsten Kulturen, die diesem Test standhalten. Eine Kultur wie die der Australneger oder die der Sammler am oberen Amazonenstrom dürfte seit mindestens 50.000 Jahren unverändert bestehen und wäre ohne Einmischung von außen sicher noch ebenso lange fortbestanden. Aus Funden in der Nähe von Ahrensburg bei Hamburg kann geschlossen werden, daß die Rentierjägerkultur der Nacheiszeit in Europa ähnlich stabil war: Opferbräuche haben sich dort Zehntausende von Jahren unverändert erhalten.

Selbstverständlich können wir nicht zu den Erfolgskategorien dieser Urmenschheit zurückkehren — aber wir sind nüchtern genug geworden, uns zu fragen, ob die vorzeitlichen Überlebenden der jeweiligen Generation, also die, die ins Reifealter gelangten, psychisch unglücklicher waren und sind als wir.

Sicher, auch sie haben gelitten, ihre schamanischen Ängste, ihre entsetzlichen Initationsriten beweisen es. Aber wir haben keinerlei Instrumentarium mehr, uns ihre psychische Existenz auch nur vorzustellen.

Eine Definition des Erfolgs, die uns kulturell näher liegt, lautet auf englisch: the greatest possible happiness for the greatest possible number — also das größtmögliche Glücksquantum für den größtmöglichen Prozentsatz von lebenden Menschen. Sie klingt ehrbar genug; aber sie hat eine Falle eingebaut, die in dem auf sie bezüglichen englischen Witz verborgen ist: the greatest possible number ist Number One, die Nummer Eins, die idiomatisch soviel wie >ich< bedeutet. Lassen wir die trefflichen Spekulationen beiseite, die an die Komplexität des Glücksanspruchs und des Glücksempfindens geknüpft wurden (die geistreichsten haben schon die Alten, zumindest seit Epikur, veranstaltet); stellen wir historisch fest, daß die Malaise der Konservativen seit eh und je an ihre Glücksvorstellung gebunden ist.

Wenn zum Glück eine hohe Zahl von Dienstboten, ein Stall von Hunters, ein Ballsaal und eine gute Bibliothek erforderlich sein sollten, dann ist in der Tat nicht einzusehen, wie ein solcher Anspruch von einer größeren Zahl als von einigen privilegierten Familien eingelöst werden kann.

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Wer diese ihre Glückvorstellung bedroht, hat offensichtlich keine Ahnung von den Höhen, die menschliches Glücksgefühl ersteigen kann. Genauso respektabel wie diese Glücksgefühle des alten Establishments sind die unseres gegenwärtigen Philistertums: wer den >satten Sound< einer Honda oder eines GTX-Sportwagens für der Güter höchstens hält, wird schwerlich den klugen Argumenten für öffentliche Verkehrsmittel zugänglich sein.

Nun hat man — gerade von wohlmeinend progressiver Seite diesen >manipulierten< Bedürfnissen sogenannte echte oder konkrete gegenübergestellt. Darauf wird noch einzugehen sein; zu bejahen ist daran die Richtung, welche solche Kritik im allgemeinen nimmt — nämlich gegen unsere kapitalistische Konsum­wirtschaft. Denn zweifellos hat diese einen der miserabelsten Auswege entdeckt, die überhaupt entdeckt werden konnten; einen Ausweg nämlich, der gar keiner ist.

Diese Art zu wirtschaften ist darauf angewiesen, die Schere zwischen Bedürfnis und Befriedigung immer zuungunsten des Glücks, selbst des wohlverstandenen epikureischen Glücks, offenzuhalten. Nur so kann sie das garantieren, was man lachhafterweise Stabilität nennt, was aber nur ununterbrochene Expansion und damit ununterbrochener und gesteigerter Raubbau an den Voraussetzungen unserer irdischen Existenz ist. Sie liegt uns ständig in Augen und Ohren mit ihrer künstlichen Bedarfdeckung, die dem System immanent ist. 

Und selbstverständlich ist dieser >Bedarf< längst kein Vitalbedarf mehr; die nächsthöhere Automarke, das Ferienboot, die Haifischflossensuppe aus der Dose sind so abstrakt und zeichenhaft wie der Goldknopf des Mandarins dreißigsten Grades oder das Handschreiben Seiner Majestät, das die Aufnahme in den Adelsstand ankündigt. Im Gegenteil muß Vitalbedarf künstlich verknappt und eingeschränkt werden, um den Status-, das heißt den Symbolbedarf und damit die Maschinerie der Produktion in Gang zu halten. Befriedigung echten Vitalbedarfs — etwa eines stillen Hauses, eines Wassers zum Fischen, einiger Tiere, in deren Nähe man tagtäglich die ursprünglichen Beziehungsmuster menschlicher Existenz erleben könnte — wird zunehmend schwieriger und setzt in den meisten Weltgegenden sehr viel Geld oder sehr viel Macht voraus — oder beides.

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Nur reiche Leute können heutzutage wie mittelalterliche Bauern leben (einschließlich biologisch gedüngter Kartoffeln), nur mächtige wie vorzeitliche Jäger. Je gieriger die Allmacht des Hungers, der nie gesättigt werden kann, an den Wurzeln unserer planetarischen Existenz nagt, desto krasser und klarer wird dieses Privileg der Reichen und Mächtigen hervortreten.

Der Sozialismus denunziert also richtig; aber seine Antwort ist keineswegs überzeugend. 

Das famose Schlagwort von den >konkreten< Bedürfnissen ist denkbar abstrakt; es findet nämlich auch keine ursprünglichen Prägungen des Vitalbedarfs vor, die oberhalb einer gewissen Bevölkerungsdichte noch gleichmäßig zu befriedigen wären. Konkreter Bedarf ist entweder ungemein dürftig — genug Kalorien, ein Dach überm Kopf, Hüllen zur Konservierung der Körperwärme, ein sexueller Partner — oder ungemein gierig — siehe oben. Wenn man die gesamte Bevölkerung also nicht von vornherein auf das Programm des Diogenes in seiner Tonne vereidigen will (und Alexander d. Gr. fand, daß er glücklich war), dann wird irgendein Heiliges Büro mit der peinlichen Aufgabe sich befassen müssen, zu definieren, was eigentlich ein konkretes Bedürfnis sei. Und eine solche Definition würde abweichende Bedürfnishöhen tabuisieren, für illegal erklären, verunmöglichen und mit Strafe belegen müssen. (Auch dann gibt es natürlich noch Unterschiede: Die Genossen Breschnew und Broz Tito konnten an ihrem unentgeltlichen Vergnügen, Bären zu schießen, kaum allzu viele Genossen teilnehmen lassen. Bären sind notorisch selten und lassen sich nicht unbegrenzt reproduzieren.)

Gerade der >saubere< Marxismus, der Marxismus >mit menschlichem Antlitz<, bestreitet das. Von befreundeter Seite habe ich gehört, daß Ernest Mandel, der engagierte und liebenswerte trotzkistische Wirtschaftswissenschaftler, mit der Zuckerdose in öffentlichen Restaurants zu argumentieren pflegt: Niemandem, der bei Sinnen sei, fiele es ein, diese Dosen zu plündern und seine Taschen voll Zuckerstücke zu packen. Ebenso werde in einer sanierten, das heißt auf konkrete Bedürfnisse abgestellten Wirtschaft niemand auf den Gedanken kommen, sich zu viel Überschuhe, Regenmäntel, Gulaschdosen oder Motorräder aus den staatlichen oder genossenschaftlichen Verteilungsstellen zu holen.

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So verführerisch dieses Argument klingt, so anthropologisch unhaltbar ist es. Schon bei Pelzmänteln wäre wahrscheinlich Schluß: Schöne Frauen werden auch in einer sozialistischen Wirtschaft Pelzmäntel haben wollen. Gegen ihre Einstufung als >manipuliertes< Bedürfnis spricht die Tatsache, daß jahrzehntausendelang die erotische Konditionierung auf Fellen stattgefunden hat. Es müßte also, so oder so, >De-Konditionierung< erfolgen; sei es durch Einstellen der Pelzproduktion, sei es durch Manipulierung des ethischen Überbaus, mit dessen Hilfe man Pelzfrauen irgendwie verächtlich machen müßte.

Am einfachsten erfolgt solche De-Konditionierung durch >Ideale<; und genau den Weg gehen die existierenden sozialistischen Gesellschaften. Der Weg ist zwar so alt wie das Bedürfnis nach Fellen und schönen Frauen, aber seine Wirksamkeit konnte bisher nirgends ersetzt werden. Die Sowjet-Gesellschaft zum Beispiel ist ganz einfach puritanisch, sie geht den Weg der Verinnerlichung von asketischen Idealen, deren Begründung im einzelnen höchst zweifelhaft ist. Der individuelle Konsumverzicht soll auf eine geheimnisvolle Weise durch Ölbohrungen in Kasachstan, durch glorreiche Weltraum-Unternehmen, durch Identifikation mit dem Väterchen Staat oder dem Mütterchen Partei kompensiert werden.

Um allen Mißverständnissen vorzubeugen: Ich beneide das russische Volk um seinen hohen Grad an moralischer Erlebnisfähigkeit; aber ich verachte die scholastischen Purzelbäume, die nötig sind, um sie irgendwie mit <sozialistischer Moral>, mit <wissenschaftlichem Materialismus> in Verbindung zu bringen. Will man wirklich behaupten, das Bedürfnis, in den Weltraum vorzustoßen, sei ein >Vitalbedarf< des sibirischen Pioniers, des ukrainischen Bauern, des Leningrader Arbeiters? 

Sicher kann er und wird sich mit solchen Abenteuern identifizieren — aber diese Identifikation ist ein gesellschaftlicher Sublimierungsprozeß. Man kann hier einwenden, daß solche Prozesse und ihre Notwendigkeit immer noch besser sind als die Konsum-Orgien des Westens; ich gebe das unumwunden zu. Aber — und darauf kommt es hier an —: solche solidarischen Bedürfnisse drängen ebenso auf Expansion wie die Bedürfnisse individualistischer Wohlstandsbürger. 

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Wer auf dem Mond war, der muß auch auf den Mars und auf die Venus; das Prinzip der Bedürfniserweiterung ist das gleiche. Und Bedürfniserweiterung schlägt ökologisch so oder so zu Buch. Ob ein Wald sterben muß, weil dort eine Weltraum-Startrampe oder ein Fun Center errichtet wird, ist für uns und unsere Nachkommen gleich wenig belangvoll. Beides ist letzten Endes pathologisch, d.h. es stammt aus dem gleichen Pathos: dem Pathos der immer weiter ausgreifenden Weltmächtigkeit des ökonomischen Menschen. 

Oder hat der Sozialismus den homo oeconomicus des Adam Smith vielleicht abgeschafft? Keineswegs. Er hat zumindest in seiner bisherigen Geschichte — deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er die Definition des Menschen als eines weltverändernden Arbeitswesens noch heiliger halten will als der Kapitalismus

Das Pathos des Kampfes gegen die Natur zieht sich als roter Faden durch die Schriften fast aller Theoretiker. Bei den Frühsozialisten, vor allem bei Fourier, finden sich Stellen voll hoher, rührender Naivität, die die Erlösung auch der Natur durch den Sozialismus ankündigen; einen wissenschaftlich nachprüfbaren Stellenwert haben sie nicht. 

Was die Zukunft unseres Planeten betrifft, ist der Sozialismus bisher nicht über die neueste und fatalste Entdeckung hinausgekommen — die Entdeckung nämlich, DASS UNSER GEMEINSAMES FLOSS ESSBAR IST.

Fassen wir zusammen: 

Die Definition des Erfolgs als des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl von Menschen stößt auf verschiedene Schwierigkeiten. Sie übersieht die soziale, historische Wandelbarkeit des Glücksbegriffs, sie übersieht die längst durch Bevölkerungsvermehrung überholte ursprüngliche Vital-Basis des Glücksanspruchs — und sie ist, sowohl im kapitalistischen wie im sozialistischen System heutiger Wirklichkeit, auf Manipulationen des subjektiven Glücksgefühls angewiesen, um ihren Anspruch auch nur halbwegs zu erreichen — das heißt, ihn scheinbar zu erreichen. 

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Es bleibt eine Kategorie des Erfolgs zu besprechen, die, wenn überhaupt eine Fortschrittsgeschichte der Menschheit angenommen wird, wachsende Aufmerksamkeit für sich beansprucht: die Kategorie der laufend größeren Bewußtmachung, der Hineinnahme immer größerer Bestände an Realität in die rationale Überlegung, die Absorption der Weltwirklichkeit in die kollektive Verfügung des Menschen.

Eine Version dieser Überzeugung ist die Naturphilosophie von Teilhard de Chardin; da sie gerade unter Christen viele Anhänger gefunden hat, muß sie besprochen werden. (Ich spreche in seinem Fall nicht gern von Theologie; die kühnen Überbrückungen, die er vornimmt, die zu so wenig reflektierbaren Begriffen wie dem Punkt Omega führen, scheinen mir in der jüdisch-christlichen Heilslehre nicht belegbar.)

Was Teilhard de Chardin interessant macht, ist sein Renommee. Der Weltzustand und seine zunehmende Fragwürdigkeit ließen ein Bedürfnis (auch dies ein echtes Bedürfnis!) nach einem Denker entstehen, der den großen Wurf der Versöhnung wagte. Und es ist in der Tat vornehm, diesen Entwurf zu wagen; eine Lösung vorzuschlagen, die bei richtiger Anstrengung (und Teilhard setzt sie in seinem System voraus) eine mögliche Endlösung unserer Probleme sein könnte.

Meine Zweifel sind dennoch erheblich. Ich möchte hier zwei Einwände formulieren, die mir die Zustimmung zum Teilhardismus unmöglich machen.

Der erste stammt, das gebe ich unumwunden zu, aus der Leidenschaft. Wenn die Geschichte des Menschen, nein, des Kosmos, auf den Punkt Omega zustrebt, eine Art totalen Bewußtseins — dann wird man zwangsläufig den Blauwal, den bengalischen Tiger, den amerikanischen Seeadler, den Apollo-Falter, die alle dem Untergang geweiht sind, und zwar durch uns und unsere expansiven Bedürfnisse — dann wird man sie alle als notwendige Etappen solcher Entfaltung abschreiben müssen; als liebenswürdige, aber letzten Endes überschüssige Entwürfe, die wir Menschen kraft unseres Diktatur-Auftrages eben zu ignorieren oder zu vernichten haben. Die Philosophie Teilhards setzt voraus, daß wir diese allmächtige Richter- und Henker-Position für uns beanspruchen können, ja müssen; denn wo sonst ist Bewußtsein im göttlichen Auftrag tätig?

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Das gleiche gilt — darum kommt der Teilhardist nicht herum — für die Schädelpyramide der untergegangenen Völkerschaften und Kulturen. Ich weiß natürlich, daß der typische Teilhardist keinem Australneger eine Haarlocke krümmen würde; aber es ist unrealistisch, Fortschritt auf den Punkt Omega zu predigen und die Tatsache zu übersehen, daß Primitivkulturen notwendig, logisch untergehen, wenn sie mit aggressiven, expansiven Kulturen zusammenstoßen. Sie holen sich daran den Tod, wie sich der brasilianische Urwald-Indianer noch heute den Tod am gewöhnlichen weißen Schnupfen holt.

Ein wahres Beispiel aus der Geschichte: Ein französischer Jesuiten-Missionar verbrachte unter furchtbaren Opfern Jahrzehnte bei den Huronen, rettete viele Seelen — und sah den Stamm an den Irokesen und vor allem den Pocken zugrundegehen. Er hat, vermutlich, die Kausalität nie begriffen — so wenig wie sie der Teilhardist zu begreifen wünscht. Bestenfalls, wenn der Stamm den Zusammenprall überlebte, vegetierten die Individuen als leiblich und seelisch gebrochenes Subproletariat weiter, mit Psychosen und Neurosen geschlagen; als Gedanken Gottes, wie man dies einmal nannte, als Verkörperung einer Möglichkeit aus dem Reichtum menschlicher Vielfalt sind sie gestorben.

Daß der Teilhardist gewillt ist, dies in Kauf zu nehmen, bewies mir das Gespräch mit einem amerikanischen Priester, einem Mann von großer Aufrichtigkeit und Integrität, dem ich diese Bedenken auseinandersetzte. Er meinte: »Wir müssen diese Kulturen kontaktieren — sonst erstarren sie.« Mit anderen Worten: Das Prinzip der >Flüssigkeit<, der ständigen Bewegung und Entwicklung steht für den Teilhardisten tatsächlich im Vordergrund seiner Erwägungen. Wenn die Kreaturen Gottes einander schon töten müssen, ist mir da ein reeller Kampf um Weidegründe oder Wasserstellen lieber.

Der zweite Einwand ist etwas methodischer. Die Zunahme der Reflexion und die Absorption immer größerer Zusammenhänge durch das Gehirn wären dann ein echter Fortschritt, wenn sie unter Beibehaltung aller bisher geübten Fakultäten des Menschen möglich wäre — oder wenn wenigstens ein Beweis dafür vorläge, daß ihre Verkümmerung in keinem Verhältnis zum Gewinn an Rationalität steht. Die Evidenz der Anthropologie und der Geschichte spricht dagegen. 

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Sie zeigt, daß bei zunehmender Bedeutung bestimmter Bewußtseinsaktivitäten andere Kategorien der Welterfassung verkümmern oder verschwinden, und daß unsere Kategorien dann nicht mehr ausreichen, ihren relativ größeren oder geringen Wert zu bestimmen. Können wir dann mit gutem Gewissen behaupten, daß dieses Entschwinden ein Fortschritt im Sinne ständiger Bewußtseinsentfaltung ist? 

Bleiben wir im Rahmen unserer eigenen Traditionen: 

Wer kann behaupten, Homer so zu <verstehen>, wie ihn die Hörer seiner Gesänge vor Jahrtausenden verstanden? Wir können zur Not ermitteln, wie er vortrug — unsere Gymnasiasten können es schon handwerklich nicht mehr reproduzieren. Wer kann behaupten, so zu fühlen, wie Franz von Assisi fühlte, als er den Vögeln predigte? Es wird hier keine Ideologie versucht, sondern schlicht festgestellt, daß wir uns davor hüten müssen, Veränderungen unserer Welterfassung von vornherein als Erweiterungen und damit als <Ausfaltung> im Sinne des Teilhardismus zu bezeichnen

Aus dem Heimweh nach vergangenen Möglichkeiten ein Programm zu machen, wäre unsinnig — es wäre bestenfalls wirkungslos und schlimmstenfalls eine Art von Edelfaschismus. Aber ebensowenig ist es zulässig, aus der Not der menschlichen Entwicklung, die durch ungeheure Pressionen zustande kommt, die Tugend einer neuen Kosmogonie zu machen.

Wenn es noch eines Beweises dafür bedarf, daß der Kaufpreis des jeweiligen Bewußtseinsfortschrittes voll zu entrichten ist, dann ist es das Schicksal dessen, was ich die >friedenstiftende Potenz< nennen möchte. Schon im vorigen Kapitel war davon die Rede, daß Karl der Große den Frieden mit den Sachsen durch den Transfer der Gebeine des heiligen Liborius nach Paderborn besiegelte. Man kann einen solchen Vorgang als simple Magie bezeichnen. Tatsache ist, daß es den Betroffenen selten darauf ankommt, mit welchen Mitteln eine Schlächterei beendet wird. 

Im Zuge der unleugbar fortschreitenden Bewußtseinsentfaltung sind der Menschheit immer mehr solcher Potenzen verlorengegangen: das Ritual der Kriegserklärung ist im 20. Jahrhundert endgültig ausgestorben, die Potenz zu endgültigen Friedensschlüssen desgleichen. 

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Machiavellis Analyse der Machtmittel im »Principe« war, im Sinne der Bewußtseinsentfaltung, ein Fortschritt, fast alle Höfe seiner Zeit waren von der Brillanz seiner Darlegungen fasziniert und bemühten sich nach Kräften zu lernen. 

Mit ihm, Machiavelli, öffneten sich bereits die Labyrinthe der >Optionen<, der >Eskalationen<, der >Alternativen< mit anderen Worten, der Abbau aller magischen oder rituellen Endgültigkeiten im Verkehr möglicher Feinde untereinander. Machiavelli war insofern ein typischer Renaissance-Mensch, als er die abendländische Menschheit zu ihren >Quellen< zurückführte — das heißt, zu den hinterlistigen Operationen des athenischen und des römischen Imperialismus. Nur waren sie jetzt nicht mehr durch abergläubische Beschwichtungsrituale vor den Kraftfeldern ethnisch-feindlicher Gottheiten gemildert. Wenn im Panmunjon die 1000. Waffenstillstandskonferenz stattfindet, sollten die Beteiligten dem Florentiner eigentlich ein kleines Denkmal errichten.

Denn sicher sind die friedenstiftenden Potenzen seit Machiavelli weiter verkümmert. 

Die Resultate der Kriege seit 1945 sprechen eine deutliche Sprache; überall sind Provisorien zu den unsinnigsten Demarkationslinien erstarrt: Westberlin, der 20. Breitengrad, die Verhältnisse im Nahen Osten, die Pufferzone in Vietnam; und ungeheurer Scharfsinn muß aufgewendet werden, um solche Vorläufigkeiten wenigstens im einen oder anderen Fall in einen erträglichen Modus vivendi umzugestalten. Zwischen Optionen, Eskalationen, Vermittlungsgesprächen ersten, zweiten, dritten Grades laviert der Selbsterhaltungsinstinkt der Menschheit — behindert nicht so sehr durch seine Primitivität als vielmehr durch seine Raffinesse, die hinter jeder Ouvertüre der Gegenseite zunächst einmal eine, zwei, drei Winkelzüge der Kalkulation vermutet.

Aber auch innerhalb der Gesellschaften ist die friedenstiftende Potenz (die man hier besser >kommunikationsstiftende Potenz< nennen sollte) deutlich im Rückgang. Ja, mir scheint, daß viele Erscheinungen der letzten Jahre: Der Verfall der <guten Sitten>, der Einbruch der Gossensprache vor allem in akademische Kreise (der angelsächsische Klassen-Instinkt hat bereits registriert, daß kein Arbeiterhaushalt die Ausdrücke gebrauchen würde, die unter Intellektuellen gang und gäbe sind) letzten Endes nichts anderes darstellen als einen verzweifelten Appell an die Gesellschaft, einen neuen Fundus für das zu liefern, was man früher moeurs, allgemein tragfahige Konventionen des Umgangs genannt hat. 

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Daß die feierliche Eselei des Wilhelminismus und des Viktorianismus auf die Dauer nicht genügen würde, war vorauszusehen; aber daß ihre Demontage den Bewußtseinsstand der Epoche so reduzieren würde, wie wir das in den letzten Jahrzehnten beobachten können, gibt zu denken. Man vergleiche etwa die Differenziertheit, die einem Robert Musil möglich war, mit den stammelnden Schreibungen unserer sogenannten Besten, und man wird wissen, was gemeint ist. 

Einer feierlich und immer wieder proklamierten Tendenz zur Egalität, zur menschheitlichen Verständigung steht ein Unvermögen der Kommunikation gegenüber, wie es nicht einmal zwischen Franz Xaver und seinen japanischen Gesprächspartnern vorlag. (Auch im München von 1900 konnten sich die Proletarier und die Akademiker noch sinnvoller verständigen, als dies heute zwischen den Akademikern und Proletariern der gleichen SPD-Sektion möglich ist.)

Ist all dies Rückschritt? Ist es Verfall? Keineswegs. Es ist nichts als das Resulat eines Prozesses, in dem Bewußtsein sich ständig entfaltete, während die irrationalen archaischen Möglichkeiten laufend verkümmerten. Da es die Menschheit noch nicht gelernt hat, all dies auf rationaler Basis zu tun, was sie früher auf ganz anderen Grundlagen erledigte, sind die Ergebnisse nicht überraschend. Die magischen Zeichen, die früher genügten, um Verständigung zu stiften; die Symbole, Rituale, Besiegelungen, sind erschöpft, entlarvt, zerfetzt. Aber neue frieden- und kommunikationsstiftende Potenzen sind noch nicht in Sicht.

Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt möglich sind.

Es bleibt also die Fragwürdigkeit unserer Erfolgskategorien. Es bleibt die Frage nach einer Zukunft, die von solcher Erfolglosigkeit des Erfolgs gebrand­markt ist. Fast alle — oft sehr unartikulierten — Äußerungen der deprimierten Jugend laufen auf diesen Punkt zu: Was habt ihr mit euren bisherigen Erfolgen schon zu bieten? Und es tröstet nicht, daß diese Jugend nicht hinter unsere sogenannten Errungenschaften zurückkann.

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Als letzte rationale >Front<, als letzte verzweifelte Zusammenfassung der möglichen Rechtfertigung unseres Weges bietet sich ihr der Neomarxismus an, die roten Büchlein treten als Heilige Schrift auf, die neuen Ikonen von Che und Mao und Onkel Ho werden vorangetragen, eine letzte Scholastik, eine letzte Devotionsliteratur machen von sich reden, weil man das Schweigen nicht erträgt — und der Versuch ist einiger Ehren wert. 

Er wird ja durchaus im Rahmen einer Tradition unternommen, einer Tradition, die wir zu skizzieren versuchten. Der Versuch zeigt, daß wenigstens eine aktive Minderheit noch an den alten Verheißungen festhält. Viel, so scheint mir, ist das auch nicht. Vor allem deshalb nicht, weil das Ganze an ein Repetitorium erinnert, in dem längst durchgepaukte Lektionen aufs neue aufgesagt werden. Dabei hat sich der Zustand der Welt weit über das hinaus verändert, was unsere Väter noch bedrohte. Das Schlimmste ist nur, daß die Gefahren, die alle bisherigen Bedrohungen der Spezies harmlos erscheinen lassen, mit den Lektionen des Repetitoriums nur am Rande zu tun haben. Zum ersten Mal nämlich, seit sich der Anthropoide auf den Hinterbeinen aufrichtete, hat er sich selbst Gefahren verschafft, die alle seine Alarmsysteme überfordern.

Kein Adrenalinstoß erfolgt, wenn er von den genetischen Konsequenzen der Radioaktivität hört; keine innere Stimme warnt ihn, wenn er in phenolverseuchten Flüssen schwimmt. Nichts, auch keine Ethik der überkommenen Systeme, hindert ihn daran, seine Äcker von lästigen Schädlingen zu reinigen und dadurch die Weltmeere für die Katastrophe von 1990 oder 2000 vorzubereiten. In 500 Jahren, einer genetisch winzigen Zeitspanne, hat er gelernt, adäquat auf die Drohung einer Stahlröhre zu reagieren, die tödliche Geschosse entsenden kann — eine wahrhaft großartige Leistung; heute werden jährlich Dutzende und Hunderte von neuen Drohungen auf ihn abgefeuert, deren Konsequenzen er nicht im entferntesten versteht, geschweige denn als unmittelbare Gefahr biologisch registriert.

Ähnliches gilt von dem großen sozialen Mechanismus, der nach Adam Smith und Marx die Veränderungen in Gang hält: dem Mechanismus der Interessen. Es ist zum Beispiel nicht wahr, daß noch irgendein unmittelbarer Interessenzusammenhang zwischen den armen Völkern der Erde und den Lohnabhängigen in den Industrieländern besteht; das Gegenteil ist der Fall.

Eine erleuchtete Politik der Entwicklungshilfe lebt heute, soweit überhaupt vorhanden, von der humanitären Tradition der Intelligenz und wird mehrfach wettgemacht, daß heißt neutralisiert, durch die terms of trade, das Preisgefüge des Weltmarkts, welches nicht nur unsere Kapitalisten, sondern auch ihre Lohnabhängigen in moralisch unvertretbarer Weise begünstigt. Sowohl unsere Beziehungen zu den nichtindustrialisierten Ländern lassen sich, wenn sie zukunftshaltig sein sollen, nur unter drastischer Zurücksetzung der Eigeninteressen organisieren, wie auch unsere Beziehungen zur Umwelt, zum solidarischen Lebensverband unseres Planeten.

Die Zustände sind also hoffnungslos. Aber da sie hoffnungslos sind, müssen sie uns herausfordern. 

Wir reden ständig davon, daß es gilt, dieses und jenes Problem zu lösen; aber in Wirklichkeit lösen wir sie alle nicht, sondern schieben sie auf eine andere Ebene. Wenn die Menschheit heute herausgefordert ist wie nie zuvor, dann hat sie zunächst nur eine Pflicht: sich dieser Herausforderung zu stellen. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens in Andeutungen zu zeigen, auf welche Ebene unsere Probleme heute transportiert werden müssen. 

Ich wähle im folgenden zwei Felder der Auseinandersetzung, die mir wichtig zu sein scheinen: Ich wende mich an Christen und Sozialisten. Dies hat nicht nur persönliche Gründe; ich glaube vielmehr, daß — nach dem Verursachungsprinzip diese beiden Gruppen durch die gegenwärtige Situation speziell herausgefordert sind, weil sie in hervorragender Weise zur Schaffung unseres Dilemmas beigetragen haben. 

Ohne einen grundlegenden Prozeß der Metanoia, des Umdenkens, in diesen beiden Lagern wird der Zustand der Welt nicht mehr rechtzeitig so zu ändern sein, daß eine Zukunft — nicht eine bessere Zukunft, sondern irgendeine — noch vorstellbar ist.

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