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 Anfrage an die Christen  

 

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Christliche Brüder!

Wir, das heißt die Christen, haben den gegenwärtigen Krisenzustand der Welt verursacht — zumindest an führender Stelle mitverursacht. Viele von euch werden diese Feststellung entrüstet ablehnen. Und es ist wohl nicht zweifelhaft, daß die Vater des Christentums, würden sie mit dem heutigen Zustand der Welt konfrontiert, ihn als dämonisch und antichristlich empfinden würden — als Vorstufe des unausweichlichen endzeitlichen Gerichts.

Sicher empfinden viele von euch ebenso. Für sie ist das, was wir täglich und stündlich um uns erleben, der konkrete Beweis für die Stelle im 1. Kapitel des Johannes-Evangeliums: »Er kam in die Welt, und die Welt hat ihn nicht anerkannt.« Für sie hat die Welt Christus abgelehnt, wie sie ihn immer ablehnte; hat Gottes Plan mit seiner Schöpfung aufs schlimmste pervertiert und die Hand ausgeschlagen, die die göttliche Liebe ihr entgegenstreckte. Nicht nur den Christus hat die Welt verworfen, auch seine Freunde: die Apostel, die Männer wie Benedikt von Nursia, Franz von Assisi, die Frauen wie Hildegard von Bingen und Florence Nightingale. Sie alle versuchten Antworten auf die Not der Welt, und alle diese Antworten wurden nicht akzeptiert. 

Die Besten und Bewußten unter euch werden eine Gegenfrage stellen: Was haben die Verwirrungen und Scheinlösungen der gegenwärtigen Welt mit der wahrhaftigen Botschaft zu tun? Was mit den Frommen des Judentums wie des Christentums? Was mit den Kündern der Gerechtigkeit und der Liebe in allen Jahrhunderten? Immer wieder wurde die Antwort verfehlt oder verweigert, immer wieder wurden Irrwege beschritten, und diese Irrwege haben uns dahin gebracht, wo wir heute sind — nicht die Pfade der Liebe und der Selbstlosigkeit.

Darauf ist nur eines zu sagen: Ich respektiere und ehre eure Leidenschaft — aber ich glaube nicht, daß sich daraus, aus Klage und Anklage, eine fruchtbringende Diskussion ergeben kann. Es geht nicht darum, was die Besten ersehnt und gewollt haben; es geht um Ursache und Wirkung, um Entwicklungen und Resultate. Wer moralische oder historische Schuld postuliert, traut der Welt mehr zu, als sie zu leisten vermag oder zu leisten gewillt ist; er begeht damit einen Fehler — zumindest einen pädagogischen Fehler. Er rechnet mit Bewußtseinszuständen, die auf der Welt nur selten vorzufinden sind. 

Es geht hier nicht darum, ob der Weg richtig oder falsch war, sondern ob er — unter den gegebenen Umständen der judäisch-christlichen Tradition

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und der irdischen Kräfte, die sie vorfand, der Gesellschaft, der Politik, der Produktionsverhältnisse und Denkformen unseres Kulturbereichs — zu anderen Ergebnissen führen konnte als zu denen, die wir um uns sehen.

Ich glaube, daß der Weg konsequent war. Der Erfolg unserer Kultur ist der Erfolg eines Lernprozesses, dem eine bestimmte Gruppe von Menschen (romanischen, griechischen, keltischen, germanischen, slawischen) unterworfen wurde. Was hat diese Gruppe unseren Traditionen, denen des Alten und des Neuen Testaments, entnommen? Was hat sie gelernt?

Natürlich nicht das, was die Stifter intendierten. So wenig wie eine durchschnittliche Klasse von Volksschülern oder Gymnasiasten das lernt, was ein begeisterter Christ, Humanist, Sozialist ihnen beizubringen wünscht; sonst sähe unsere Gesellschaft, zumindest die sogenannte Oberschicht ganz anders aus. Der Schüler, der Jünger, rezipiert nur das, was seine gesellschaftliche Struktur, sein Hintergrund ihm erlaubt zu lernen. Die Lektüre der Evangelien — vor allem der Berichte über die Gespräche der Jünger untereinander — sollte uns da alle etwas realistischer stimmen.

Die Erfolge des Christentums sind die Erfolge eines Lernprozesses der europäischen, der weißen, der abendländischen Menschheit. Was hat sie gelernt? Das ist die einzig realistische Frage. Was hat sie als Axiome ihres Denkens, Fühlens und Handelns übernommen?

Ziemlich genau dieUrverheißungen der alttestamentarischen Tradition. Die Überzeugung also, daß die ganze Schöpfung auf Verheißung angelegt ist; daß die Kreatürlichkeit des Menschen, sein Leid und sein Tod, ein Skandal ist; daß wir Menschen die einzigen Geschöpfe sind, zu denen der Schöpferein besonderes Verhältnis angebahnt hat; daß infolgedessen die Welt eine einzige Beute ist, die wir nach unserem Gutdünken verteilen können, solange wir die Spielregeln gegenüber unseren Mitchristen beachten. (Später, unter erklecklichen Schwierigkeiten, haben wir die letzte Regel auf alle Mitmenschen ausgedehnt.)

Darüber hinaus lernten wir noch, daß der Wert des Menschenlebens absolut ist — zweifellos ein Fortschritt. Wir lernten, daß man nicht ungestraft die Armen und Beleidigten verachtet.

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Und daß es — letzten Endes — unter der gesamtmenschlichen Solidarität nicht abgeht.

Wir lernten aber vor allem, daß unsere Zukunft absolut ist. Mit anderen Worten: daß für uns gesorgt wird, so oder so. Daß das, was uns zustoßen wird, die Qualität unserer Zu-Rüstungen glanzvoll übersteigt. Daß Gott aus seinen Fernen wiederkehren und uns an seine Brust nehmen wird wie ein verlorenes Kind. Daß die objektive Befindlichkeit des Menschen auf seinen Triumph angelegt ist: jenen Triumph, der eines Tages — eschatologisch oder weltimmanent — die Absichten Gottes mit dem Menschen enthüllen und rechtfertigen wird.

Ist das wenig? Ich würde sagen, es ist sehr viel, wenn man den Ausgangspunkt der Entwicklung bedenkt. Wir haben Pan getötet, mit ihm sämtliche Naturgötter, Nymphen, Dryaden, Numina. Wir haben den Hunger nach dem Endreich in alle Seelen gesenkt, die ihm noch in den materialistischen Utopien der Gegenwart nachjagen. Wir sind (nach langen und komplizierten Prozessen, gewiß, aber doch folgerichtig) zu den selbständigsten, organisiertesten, unbesieglichsten Menschen der Welt geworden. Wir haben ein System der experimentellen und deduktiven Wissenschaft geschaffen, das selbst den Blütezeiten der Antike qualitativ überlegen ist.

Und was die verworfenen Antworten betrifft — wer hat sie denn immer zuerst verworfen, zumindest verschwiegen, die Antworten der Ekstatiker, der Selbstlosen, der Charismatiker und Geistbeseelten? Es waren doch allemal wir zuerst, die Bedenken hatten. Unsere Hirten wiegten bedächtig die Häupter, wenn ein Franziskus, ein John Wesley, ein Jan Hus unter uns erschienen — und oft genug hat es nicht beim Wiegen der eigenen Häupter, sondern beim Verlust des genialen Kopfes geendet. Denn mit Recht wurde da ein Mangel an Stabilität vermutet, eine Vernachlässigung der gängigen Sorge um das tägliche Brot und den jährlichen Zehnten; mit Recht hat man den Weg der Vollkommenheit isoliert hinter Regeln und Klostermauern, hat die Bergpredigt als evangelische Räte fein säuberlich von der Alltagspraxis getrennt, hat diese Alltagspraxis den Bedürfnissen des Systems unterworfen: des kontinuierlichen Systems, das im ständigen Widerstreit mit den Endverheißungen der Botschaft lag und liegt.

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Kein bekannter Papst, kein Kirchenvater hat protestiert, als Konstantin die Kirche in sein Schema einbezog; warum reagierten sie, nach den neuen progressiven Erkenntnissen, alle falsch? Waren sie vom bösen Feind verwirrt? Sie reagierten verständlich, das ist alles. Sie reagierten so, wie die religions-soziologische Situation sie reagieren ließ. Die Freiheit für sie war angebrochen, und nun gingen sie daran, Kontinuität zu festigen — jene Kontinuität, die seit dem Ausbleiben der Wiederkunft des Menschensohns notwendig schien.

Sie verwalteten die Schätze des Heils, sie banden und lösten, verwandelten das Heil in eine individuelle Chance jenseits des Grabes. Richtig oder falsch? Wie hätten sie an uns handeln sollen, an den kleinen Leuten, die besorgt nach dem Schicksal ihrer Lieben fragten?

Sie borgten die Naturrechts-Ethik bei den Hellenisten und das ius divinum bei den Römern aus. Richtig oder falsch? Sie mußten mitspielen an den Tischen der Welt, und sie hatten keine Karten; sie mußten sich also welche zu leihen nehmen.

Nein, lassen wir diese Art von Fragestellung beiseite. Stellen wir fest: das Christentum sieht heute so aus, wie es aussieht; das ist alles. Es hat Erfolge errungen; nicht die, die es anstrebte, sondern die, welche der Weltzustand hergab. Es hat einige Barbarei abgeschafft (nicht viel, aber einige) und einigen Macchiavellismus eingeführt (auch hier konnte man von Hellas und Rom lernen). Es hat zwar nicht die Stadt Gottes gebaut, aber dafür die Secular City, die Weltstadt, mitgebaut — als ziemlich maßgeblicher Unternehmer.

Wir Christen haben jahrhundertelang unsere ganze Geistes- und Seelenkraft auf Fragen konzentriert, die — so oder so — um unser Schicksal jenseits der irdischen Welt kreisten. Wir haben diese Welt transzendiert, wie man so schön sagt; wir haben um Trinitätsformeln und Differenzen in der Eucharistielehre gerungen, während wir unsere Ritter aussandten, unsere Kreuzfahrer, unsere Soldaten, Seekapitäne und Bankiers, unsere Missionare oder auch Naturforscher. Wir haben ihnen die Welt des Lebendigen zum Fraße vorgeworfen, damit das aggressive Tier im Menschen auf seine Rechnung kommt, während die Stadt des Heils erbaut werden sollte.

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Unsere Brüder von der Laien-Fakultät begriffen. Sie haben die jenseitigen Fragen den Fachleuten hinterlassen und sind ihrerseits Fachleute für die Ausbeutung der Welt geworden, die doch, wie versichert, für uns, für die Wohlfahrt des Menschen gemacht ist. Der selbstloseste Frater wußte das und der schurkischste Abenteurer. Die armen Teufel, denen sie begegneten, und die es nicht wußten, wurden beiseite geschoben oder vernichtet. War man sehr gewissenhaft, taufte man sie noch rasch, damit der wichtigere Teil ihrer Existenz, ihre unsterbliche Seele, nicht zu kurz kam. Ihr Stück Erde konnten sie offensichtlich nicht richtig, nicht im Sinne der Verheißung verwalten. Das verschleuderten sie, holten nichts heraus, kratzten seine Fülle und seinen Reichtum überhaupt nicht an. Sie lebten in dieser Hinsicht, jedenfalls wie Tiere und konnten wie sie behandelt werden. Die Furcht und das Zittern im Sinne von Genesis VIII brachten wir ihnen jedenfalls gründlich bei. Und wo wirklich der gütige Missionar Fuß fassen konnte, war der Conquistador, der Pfeffersack, mit Kanonen und Pockenviren schon vor ihm da — oder kam kurz hinterher.

Und die übrige Schöpfung? Die Rohstoffe, die Flora, die Fauna? Fülle der Güter, der gegenwärtigen Generation zur Nutznießung übergeben. Wen kümmerte schon, was folgte? Die Welt war ja riesengroß, unerschöpflich, und die Verheißung steht fest: Nie werden aufhören Saat und Ernte, Jagd und Beute. Denn die Zukunft ist nicht unsere Sache, sie ist uns verheißen mit goldenen Mauern und edelsteinemen Toren, als Fülle auf ewig.

In den letzten Jahrzehnten haben wir eines begriffen (oder beginnen es zu begreifen): Was die Laien-Fakultät da anstellte und anstellt, hat wirklich mit unserer Botschaft etwas zu tun. Wir erkannten und erkennen es an, daß hier Saat aufgegangen ist, die wir säten; eine Ernte, die zwar jenseits unserer Hürden sich darbietet, aber dennoch aus unseren Vorräten aufsprießt. Wir suchen, wie man so sagt, den Dialog; wir suchen nach Gemeinsamkeiten, bejahen die Secular City, versuchen überall da mitzumachen, wo es um Wohlfahrt und Gerechtigkeit geht. Wir erkannten und erkennen an, daß unsere Kirchen — vor allem die alte griechische und die alte römische — gar nicht so sehr

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christliche, ja nicht einmal jüdische Frömmigkeit praktizierten, wenn sie gegen den Fortschritt waren, sondern heidnische; die alte Frömmigkeit der Fruchtgötter, der ewigen Wiederkehr, der guten und bösen Geister von Wald und Flur. Daß die Naturforscher, die Aufklärer, die Techniker und Sozialwissenschaftler, die rings um uns munter an der Secular City bauten und bauen, besser begriffen haben als wir, was dem alten Pan in der Todesstunde Christi zustieß. Und daß die Sozialisten konkreter als wir die Anliegen der alten Propheten aufgriffen.

Nun haben aber die Christen, vor allem ihre Theologen, seit geraumer Zeit eine fatale Gewohnheit: Sie erschließen sich gerade dann einer Erkenntnis, einer Bewegung, wenn diese ihre eigene Zukunftsträchtigkeit bereits zu verlieren beginnt. Die Frage an uns selbst muß also lauten: ist die Basis für den Dialog, der nun allenthalben mehr oder weniger aufrichtig geführt wird, mit den Brüdern der Weltstadt noch tragfähig? Sichern wir Zukunft oder nicht, wenn wir auf den bisherigen Voraussetzungen weiterbauen? Und wenn nein: Welche Prämissen müssen wir in Frage stellen, welche vertiefen, welche aufheben, wenn wir der Zukunft des Menschen noch dienen wollen?

Das ist die zentrale Anfrage. Nicht: Wie haben wir gehandelt, richtig oder falsch? Moralisch oder schurkisch? Ich bin mir bewußt, daß diese Anfrage möglicherweise die Grenzen dessen überschreitet, was bisher als theologisch zulässig galt und gilt. Aber der Zustand der Welt, den wir besprochen haben, läßt uns keine Möglichkeit, die Anfrage zu umgehen.

Sie betrifft, soviel ist mittlerweile klargeworden, die alten Garantien der Genesis. Da ist, als erste und wichtigste, die Garantie der Auserwählung des Menschen, seiner Bildnishaftigkeit Gottes, seines grundsätzlichen qualitativen Unterschieds zum Rest der Schöpfung. Haben wir sie zu verwerfen? Haben wir uns daran zu gewöhnen, daß wir Wölfe unter Wölfen, Schafe unter Schafen, Schädlinge unter Drahtwürmern und Bakterien sind, die ebenso blind und automatisch nach ihrem Futter suchen wie jene? Haben wir uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß wir ein Zufallstreffer der kosmischen Lotterie sind, Ausgesetzte auf einem kleinen Stern, Kontrollgruppe in einem galaktischen Projekt?

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Die Frage ist, wieder einmal, falsch gestellt; denn die Antwort, sei sie Ja oder Nein, besagte nichts für die Praxis. Längst haben die räuberischen Gewohnheiten, die wir der Menschheit ermöglicht haben, sich so weit verselbständigt, daß sie aus kosmischer Verzweiflung genauso, wenn nicht gründlicher funktionieren würden als aus naiver Selbstsicherheit. Schon heute, möchte ich annehmen, handelt die Mehrheit aus solcher wenn auch uneingestandener Verzweiflung; hackt sie immer größere Stücke unseres gemeinsamen eßbaren Floßes ab, weil sie den Glauben an rettende Ufer längst verloren hat. Und die Rückkehr in eine gebundene Frömmigkeit, die Rückkehr zum rituellen Tanz um den göttlichen Bären ist uns historisch und praktisch verwehrt.

Nein, wir müssen den Weg zu Ende gehen, den wir eingeschlagen haben. Wir müssen die Kategorie der Erwählung nicht verwerfen, im Gegenteil, wir dürfen sie gar nicht verwerfen, sondern müssen sie weiterentwickeln, wie sie durch die letzten drei Jahrtausende bereits weiterentwickelt worden ist — unter ständigen Rückschlägen, aber doch in ständiger Erweiterung unseres Bewußtseins.

Erwählung war ursprünglich nichts als die Privilegierung einiger Nomaden-Clans durch ein spezielles Gottes-Bündnis. Dieses Bündnis war zunächst auf das Volk Israel eingeschränkt; aber schon in langen, schrecklichen Prozessen seiner eigenen Geschichte hat es gelernt, die Auserwählung nicht mehr als Privileg aufzufassen, sondern als Auftrag — an die Völker, die in der Finsternis und im Todesschatten sitzen. Privileg blieb die Auserwählung nur in einem: im Bewußtsein. Das Volk war auserwählt, etwas über Gott zu wissen, was die anderen nicht oder noch nicht wußten. Und die Propheten belehrten das Volk, daß damit nicht Triumph verbunden war, sondern Gehorsam.

Das Christentum hat diese Botschaft internationalisiert; damit traten zwangsläufig Rückschläge ein. Wieder waren die einen erwählt und die anderen verworfen, waren die einen, ob sie nun in Rom residierten oder an die Küsten Amerikas zogen, die Empfänger besonderer Privilegien, die Schützlinge der Magnalia Dei, der Großtaten Gottes an seinen verwöhntesten Kindern.

Eben jetzt erst, in den letzten wenigen Jahrzehnten, haben wir

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Christen begreifen gelernt, daß solche Auserwählung eben kein Privileg ist. Daß wir von der eigenen Botschaft her den anderen nichts voraushaben, voraushaben dürfen als das Bewußtsein einer besonderen Verantwortung. Diese Verantwortung haben wir auf alle Mühseligkeiten und Beladenen, alle Entrechteten und Geknechteten auszudehnen gelernt (natürlich noch nicht in der Praxis — wieder genügt der Blick in die Tageszeitung). Der Dienst am Menschen ist — wenigstens theologisch — als die raison d'etre des Christentums begriffen worden.

Wir stehen vor einer noch größeren Umwälzung. Wir stehen vor der Aufgabe, die Auserwählung des Menschen als Verantwortung zu begreifen und sonst nichts.

Damit sind wir bei der zweiten Garantie: beim Herrschaftsauftrag. Er sieht vor, daß wir uns die Erde Untertan machen. Nun gibt es keine Untertanen mehr: die Völker haben den Terminus abgeschüttelt, wie sie den herrscherischen Souverän abgeschüttelt haben. >Herrschaft< ist eine suspekte Kategorie geworden; auch dort, wo sie noch ausgeübt wird, durch Konzernherren oder Zentralbüros, hängt man ihr wenigstens das ideologische Mäntelchen des >Dienstes< um. (Wieder ist das Papsttum mit zweifelhaftem Beispiel vorangegangen.) Noch in solcher Heuchelei steckt aber die Erkenntnis, steckt die Verbeugung vor der Tatsache, daß es Untertanen nicht mehr gibt und geben darf

Die einzigen Untertanen, die wir noch haben, sind die stummen Brüder und Schwestern: die Tiere, die Bäume, das Meer, die Rohstoffe und Energien der nichtmenschlichen Schöpfung. Sie behandeln wir gräßlicher, als wir je menschliche Feinde behandelten und behandeln, in der törichten Annahme, daß sie wehrlos sind und keine eigenen Rechte besitzen. (Wir werden noch sehen, wie selbstmörderisch diese Annahme wirklich ist.) Was nun fällig ist — wenn wir überleben wollen —, ist dieselbe konsequente Weiterentwicklung, welche der Begriff der >Herrschaft< und des >Untertanen< auf menschlichem Gebiet genommen hat. Wir haben uns daran zu gewöhnen, daß Herrschaft Dienst ist, sonst nichts: Ausführung eines Auftrags, den uns die tatsächliche Interdependenz alles Lebens erteilt. Da wir die einzigen Aggressoren in diesem neuen Herrschaftskampfe sind, da wir seinen negativen Ausgang aber bereits absehen

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können, wenn wir unsere Wege nicht ändern, müssen wir umdenken; radikal und komplett. Ein Bußvorgang ist notwendig, wie ihn die jüdisch-christliche Welt noch nicht erlebt hat. Der erste Bewußtseinsschritt, der bei diesem Umdenk-Prozeß getan werden muß, ist die Belebung einer uralten, nüchternen Formel, die am Aschermittwoch die Bußzeit der römischen Kirche einleitet: memento homo quia pulvis es... Gedenk, Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zurückkehrst. Wie sehr uns diese chemische Feststellung ins Gekröse fährt, beweist,.daß hier etwas vernachlässigt wurde: ein Aspekt unserer Existenz, der noch nie so verdrängt worden ist wie heute. Das Faktum des Staubseins eint uns mit allem, was der Biosphäre des Planeten angehört. Von hier haben wir auszugehen.

Und schon sind wir mitten in einer dritten Frage, die der Zustand unserer Welt uns stellt — der Frage der Erbsünde.

Bleiben wir beim Ausdruck — obwohl wir nicht über seine augustinisch-manichäische, sondern seine alttestamentarische Konkretion sprechen. In dieser Konkretion — der Beschreibung unseres Loses als kranke, zur Plackerei verurteilte Wesen — ist die Erbsünde nichts anderes als die Kondition unserer Geschöpflichkeit; die Ausweitung und Auslegung der Formel vom Menschen, der Staub ist. Daß uns solcher Zustand unerträglich erscheint, ist wiederum natürlich. Aber haben wir eine andere Aussicht als die, mit ihm zu leben? Das Beste aus ihm machen, wie man sagt? Die Unerträglichkeit, die wir fühlten, hat uns zu den Leistungen angespornt, deren Kehrseite unsere heutige totale Krise ist. Diese Leistungen haben uns jedoch keineswegs vom Stachel befreit, der in unserem Fleische brennt. Im Gegenteil: es scheint, als ob erum so schmerzlicher zu fühlen ist, je wütender wir uns gegen sein Vorhandensein wehren.

Die Frommen vieler Jahrhunderte haben das längst erfühlt. Die Heiligen der Freude — Mystiker und Mystikerinnen, charismatische Genies wie Franz von Assisi — haben instinktiv oder meditativ einen Ausweg gefunden, der allerdings nie der Ausweg der Vielen geworden ist. Die Kirche als Institution hat leider nicht viel dazu beigetragen, ihn populär zu machen, indem sie kurzschlüssige Ergebung ins harte Menschenlos predigte und Kompensation im Jenseits verhieß. Zu deutlich stand der

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Ideologie-Charakter solcher Predigt fest, zu klar war es, daß herrschaftliche Minderheiten entschlossen waren, sich nicht erst drüben belohnen zu lassen, sondern schon in dieser Welt, und auf Kosten anderer dem harten Menschenlos zu entrinnen. Der Laien-Fakultät mußte sich unter solch verdächtigen Umständen von selbst der Gedanke aufdrängen, daß sie hier auf reichlich billige Weise abgespeist wurde; daß solche Ergebenheitspredigt nichts anderes als der Trumpf im Ärmel der Mächtigen war. Sie folgerte daraus, daß jene nicht nur den Trumpf versteckten, sondern das Endreich selbst; daß dieses Endreich von ihnen ferngehalten wurde zugunsten einer Machtkontinuität, eines Herrschaftsmonopols, einer möglichst hohen Profitrate. Die Mystiker und Charismatiker, die andere Wege ins Freie suchten, mochten auf ihre Art sehr wichtige Leute sein, aber zu bestimmen hatten sie offensichtlich nicht viel, genausowenig wie der arme und heitere Herr Jesus die Praxis Seiner Kirchen zu bestimmen schien.

Man zog die Folgerungen, über die wir sprachen. Der Herrschaftsversuch, die Aggressivität wurde auf die nichtmenschliche Schöpfung ausgedehnt, während man die gleiche Herrschaft, die gleiche Aggressivität bei den eigenen Oberherren hassen und bekämpfen lernte.

Die Konsequenzen müßten eigentlich psychologisch klar zutage liegen. Wir kennen heute den Typus des >Herrschers<, der sich selbst vergewaltigt, ehe er andere vergewaltigt. Wir haben dieses Schema unbefragt auf unser Verhältnis zur Welt übertragen. Der ganzen, gräßlichen Unberatenheit des Menschen in seiner Biosphäre entspricht das Fehlen einer Theologie der Natur; nur in Ansätzen wird sie bei Paulus sichtbar, wenn er von der Kreatur spricht, die in Wehen liegt bis in unsere Tage.

Sicher: die Kirche hat später den Begriff des >Naturrechts< bei den Hellenisten erborgt. Aber für das Verhältnis Mensch-Natur, das wir hier im Auge haben, ist daraus nichts zu gewinnen. Als Illustration genüge ein einziges Dilemma, das sich bis in unsere Tage erhalten hat: das Dilemma der Geburtenkontrolle. Wir wollen es hier in einer Form behandeln, die sich grundsätzlich von der üblichen Pro- und Contra-Deklamation unterscheidet.

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Das Nein zur Geburtenkontrolle, das sich auf das sogenannte Naturrecht stützt, hält daran fest, daß der menschliche Wille sich dem Willen des Schöpfers, wie er in Anlage und Konsequenzen eines natürlichen Aktes zum Ausdruck kommt, unterordnen muß. Dieses naturrechtliche >Wesen< des Geschlechtaktes wird aber völlig isoliert in einem widernatürlich-kasuistischen Sinne behandelt. Der Wille des Schöpfers kommt nämlich nicht nur in der Zeugungs-Offenheit des Aktes zum Ausdruck, sondern auch in seiner Korrelation zur allgemeinen >Natur<, zur Kreatürlichkeit des Menschen. 

Diese Kreatürlichkeit war auf eine Todesrate von vier zu eins vor Erreichung der Geschlechtsreife abgestellt. Naturrecht wäre also nicht nur das Recht Gottes auf unsere Einhaltung der Zeugungs-, sondern auch der Todes-Regel: Human-Medizin in der heute praktizierten Form, ja Human-Medizin als einer der nobelsten Versuche des Menschen, wenigstens den schlimmsten Folgen seiner Kreatürlichkeit zu entrinnen, wäre damit ebenso regelwidrig, ebenso gegen das >Naturrecht< wie die Geburten-Kontrolle selbst.

Ich hielt es durchaus für möglich, daß in irgendeiner reaktionären Schreibstube in Rom oder anderswo noch ein Prälat sitzt, der nur zähneknirschend davon Abstand nimmt, eben dies auszusprechen und den ganzen Fortschritt der Human-Medizin zum Teufel wünscht, wohin er (vielleicht) seiner Meinung nach gehört. Aber er hütet sich selbstverständlich, dies auszusprechen. Er weiß zu genau, daß die Menschheit in ihrem Triumph über die alten Geißeln, über Pest, Kindbettfieber, Typhus und Malaria, die erste und vornehmste Garantie der Genesis, den absoluten und unbestreitbaren Wert jedes Menschenlebens, nicht nur verinnerlicht, sondern erfolgreich durchgesetzt hat. Eine Rückkehr zu natürlichen Auslese-Verhältnissen wäre nicht nur praktisch unvorstellbar (auch wenn sie genetisch wesentlich sinnvoller wäre als der jetzige Zustand), sondern widerspräche einem zentralen Anspruch der Botschaft selbst.

 

So bleibt die Frage der Geburtenkontrolle im Zwielicht eines <Naturrechts>, das keines ist, nicht einmal im magisch-abergläubischen Sinne der heidnischen Römer; und man duldet mehr oder weniger ratlos eine Bevölkerungsexplosion, die auf nichts anderes zurückzuführen ist als auf den Triumph des Menschlichkeitsprinzips und die Weigerung großer Teile der Menschheit, die natürlichen Konsequenzen solchen Triumphes zu begreifen. 

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Notfalls zieht man sich auf einen Gedanken zurück, den Kardinal Wyszynski ausgesprochen haben soll: »Es ist ja noch so viel Platz im Himmel.«

Der Platz im Himmel — das ist die absolute Zukunft. 

Hier stoßen wir an die letzte und schwierigste Frage, die sich der Christ, speziell der christliche Theologe heute zu stellen hat. Die absolute Zukunft, das Prinzip Hoffnung, das Angelegtsein auf eine Erfüllung, die unsere Zurüstung unvorstellbar übersteigt: Das ist, nach vielen, der eigentliche Kern der christlichen Botschaft, ihr eigentliches Existenzial. Alles, was an Planen darunterliegen mag, betrifft danach nur die relative Zukunft, betrifft Arrangements in der Zeitlichkeit, in jenen Bereichen, die dem Handeln des Menschen freigegeben sind.

Die Antwort sei eine nüchterne Gegenfrage. 

Ist die Kurve, die wir eingangs erwähnt haben; ist die von Professor Ehrlich in Kalifornien ventilierte These, daß die Weltmeere in absehbarer Zukunft kein Leben mehr bergen können, für die absolute oder nur für die relative Zukunft interessant? (Natürlich kann Ehrlich unrecht haben; es genügt, daß seine These heute bereits wissenschaftlich möglich ist.) Ist transzendierendes Vertrauen noch sinnvoll, wenn die hypothetische Gefahr einer selbstgefertigten und totalen Vernichtung der Sauerstoffbasis — und darauf liefe es hinaus — in der <relativen> Zukunft ausgemacht werden kann?

Angenommen, diese Hypothese würde sich als realistisch erweisen: Was wäre die theologische Folge? Der >Platz im Himmel<, der dann den Kindern des Wohlgefallens so oder so sicher wäre? Ware das, nach allem, was wir heute theologisch wissen und reflektieren, nicht ein Bankrott? Ein Bankrott, der entweder auf ein individuelles Entwischen oder auf ein schon rechtzeitig erfolgendes eschatologisches Eingreifen von >außen< hinauslaufen müßte?

Halten wir fest: eben die Hoffnung auf die absolute Zurüstung von außen oder unten, von Gott oder von der dialektischen Entwicklung her, ist der Blankoscheck, den die Menschheit — so wie sie ist, nicht wie sie sein sollte — in voller Höhe einfordert. 

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Das Christentum hat diese Entwicklung beschleunigt; erstens durch den Hunger nach der Verheißung, der profaniert wurde, zweitens durch den Pragmatismus, mit dem die Kirchen alles Weltliche, Wirtschaftliche, Politische dem freien Ermessen einer räuberischen Spezies zum Fraße vorwarfen. 

Halten wir fest: Alle die ratlosen Eroberer und Ausbeuter handelten wenigstens in diesem einen Punkt in >bestem Glauben<, nämlich im Glauben an jene Garantien der Genesis, welche die christliche Botschaft so überaus erfolgreich internationalisiert hat. Sie glaubten alle richtig zu handeln, denn ihres totalen Herrschaftsauftrags waren sie ja sicher.

Aber wenn wir heute eines sicher wissen, dann ist es dies: der Blankoscheck kann nicht honoriert werden, ob Ehrlich nun recht hat oder nicht. Wir haben heute die Möglichkeit, die Erde selbst zu zerstören; sei es durch zwischenmenschliche Aggressionen, sei es durch die extraspezifische Aggression auf die gesamte Biosphäre. Wie wir schon sahen, ist der Joker im Deck, der nicht ausgespielt werden kann und dessen Wert so irritierend schwankt, nicht mehr Satan, sondern es ist der Schöpfergott selbst, der Schöpfer Himmels und der Erde. Hiobs Urenkel haben gesiegt, haben den großen Leviathan und den Behemoth umgebracht und die Brunnen der Tiefe ausgetrunken. Allein, als scheinbare Sieger, stehen sie auf dem biosphärischen Schlachtfeld. Und sie erleben, daß der Gott, gegen den sie sich prometheisch erheben, in seiner Abwesenheit am mächtigsten ist. Im totalen Sieg erlebt Hiob erst seine tiefste Ohnmacht, seine unheilbaren Schwären: erfährt aus der Evidenz des Weltzustandes, daß ihm nichts gehört, nichts, nichts, nicht einmal das Hemd am Leibe, daß er kein Eigentum besitzt, das er nicht teilen muß — und zwar nicht nur mit seinen menschlichen Gefährten, sondern mit allem, was lebt, ist, sich verändert und schwindet.

Das, so möchte ich meinen, ist ein Theologumenon. Und es gibt meines Erachtens einen einzigen Weg, es zu honorieren und zu respektieren. Wir haben auch diesen letzten Denk- und Handlungs-Spielraum zu profanieren, freizugeben: Wir haben auch die Zukunft so zu behandeln, >als ob< sie profan bestimmt werden kann und muß. Ganz gleich, was in den Wolken des Himmels heraufzieht: Wir müssen so denken und handeln. 

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Und wir dürfen nichts und niemandem genehmigen, dahinter noch ein Türlein offenzulassen; irgendein mirakulöses Eingreifen, das uns schon aus der selbsterdachten und selbstangerichteten Misere herauswischen lassen wird. Wir müssen, theologisch gesprochen, auf diese letzte Kenosis, diese letzte Selbstentäußerung hinaus: auf die Entäußerung von der garantierten Zukunft. Nur wenn wir sie verlieren, werden wir sie gewinnen; nur wenn wir handeln, als gäbe es sie nicht, wird sie uns — vielleicht — zufallen. Wir sind in eine neue dialektische Phase der Unberechenbarkeit Gottes eingetreten.

Ich bin kein Theologe und möchte es den Theologen überlassen, zu ermitteln, was das im einzelnen bedeutet. Ich habe aber eine Vermutung, daß es mit dem toten, liquidierten und ersetzten, dem ganz in Jesus subsumierten Gott nicht mehr getan ist. Wir werden uns auch mit der Frage befassen müssen, warum aus der Unbekümmertheit Jesu um leibliche Vorsorge unsere Weltstadt gewachsen ist, die sich zwar so viel auf ihre Rationalität und ihre Planung einbildet, aber ausgerechnet in der heute entscheidenden Lebensfrage der Menschheit und ihres Sterns so blind und zerstörerisch vorgeht. 

Sollten wir uns nicht ein wenig stärker an Bruder und Schwester Sonne, Mond, Esel, Tau und Regen gewöhnen, wie dies das Preislied des Francesco von Assisi ahnen läßt? Sollte nicht auch die Moraltheologie, die sich in unseren Zeiten schon so oft an ganz neue Ansätze gewöhnen mußte, genötigt sein, einen neuen Katalog von Prioritäten aufzustellen? (Wir werden auf die moralische Frage noch zurückkommen.) 

Und vor allem, die schmerzlichste Frage an uns alle: werden wir es fertigbringen, offen zu reden? Werden wir Verantwortung auf uns nehmen — diesmaP. Nur dann werden wir den Dialog mit der Welt beginnen können, auf den es jetzt vor allem anderen ankommt: den Dialog über unsere gemeinsame Arbeit an der Schöpfung des abwesenden Gottes.

 

 

         Anfrage an die Sozialisten         

 

Genossen!
Wie wollen wir uns stellen zu den neuen Fakten? Welche Überprüfungen sind notwendig? Zunächst scheinen wir ja, wenigstens theoretisch, weil besser placiert als unsere kapitalistischen Rivalen, mit den Problemen des Globus fertig zu werden.

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Das Chaos der Welt ist — so heißt es ganz selbstverständlich — die direkte Folge der spätkapitalistischen Produktionsbedingungen; Ostwestkonflikt, Konflikt zwischen industrialisierten und nichtindustrialisierten Ländern, Konflikt mit der biosphärischen Umwelt: das scheint sich alles machen zu lassen, wenn erst einmal das grundlegende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit geklärt ist. 

Dann werden die übrigen Verhältnisse verwandelt werden, und zwar so radikal, daß die wirkliche Herrschaft des Menschen über die Welt und über sein Geschick überhaupt erst ermöglicht wird. Aber hier setzen meine Zweifel ein. Wohin wird sich denn die Welt zunächst einmal verändern, wenn das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit geklärt ist? Sie wird sich — das geht jedenfalls aus dem Zusammenhang der elften These gegen Feuerbach ganz einwandfrei hervor — zugunsten des absoluten Herrschaftsauftrags des Menschen verändern. Die Welt wird als absolutes Objekt erst richtig interessant werden; die hoffende Zukunftsgewißheit im ehernen Pendelgang der dialektischen Uhr ist unmittelbar verbunden mit dem Pathos der weltverändernden Arbeit.

Und worauf soll Arbeit hinaus ? Doch wohl auf Bedürfniserfüllung — wie immer die praktische Geschichte der sozialistischen Staaten aussehen mag. Bedürfniserfüllung aber bedeutet Produktion — Mehr-Produktion. Der Held ist der Mehrarbeiter, der Recke der Realitätsveränderung im Sinne der Produktionssteigerung. Hier liegen die unmittelbaren Interessen; und zwar die Interessen der technischen Intelligenz und der Massen (sowohl als Produzenten wie als Konsumenten). Hier wird das Pathos generiert, auf das es noch in allen Sozialismen ankam: der homo oeconomicus des Adam Smith wird ja vom Sozialismus keineswegs geleugnet. Wenn überhaupt, soll er durch die Ökonomie, durch die Ordnung der Volks- und Weltwirtschaft überwunden werden.

Unzählige Orden, Bulletins, Fünf- und Mehrjahrespläne, Romane und Filme, das ganze Arsenal der Traktor- und Fabrik-Propaganda, der Erzeugungs­schlachten zwischen Elbe und Amur dient doch wohl dazu, zu beweisen, daß erst mit dem Sozialismus die Ausbeutung der Erde so richtig in Schwung kommen wird; oder was soll es sonst beweisen? 

Worin unterscheidet sich aber dieses Pathos von der Fetischisierung der Ware, die man dem kapitalistischen Wesen vorwirft — jedenfalls in der Auswirkung auf das Selbstverständnis des Menschen in dieser Welt?

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Freilich, so werden wir erwidern: es unterscheidet sich in einem ganz wesentlichen Punkt. In dem Punkt nämlich, daß der Sozialismus es nicht nötig hat, künstliche Bedürfnisse zu wecken. 

Er kann sich auf die konkreten, auf die wahren Bedürfnisse des Menschen konzentrieren, die durch den Konsum-Fetischismus des Westens sogar hintangehalten werden. Aber darüber — erinnern wir uns? — haben wir uns bereits unterhalten. Konkrete und >wahre< Bedürfnisse sind im Einzelfall sehr, sehr schwer von der falschen und manipulierten Sorte zu unterscheiden

Im Laufe der Menschheitsentwicklung haben wir notgedrungen und in langwierigen Prozessen wahre Bedürfnisse abgestreift oder verdrängt, deren Begründung in unserer Geschöpflichkeit wir schon gar nicht mehr zu erkennen vermögen ; und in der Gegenwart sind wir dabei, uns weiterer konkreter Bedürfnisse notgedrungen zu entledigen, wie etwa des Bedürfnisses nach Kindern, die unsere eigenen Möglichkeiten fortführen und variieren, die — was man früher sagte — der Trost und die Freude unseres Alters sind. Notgedrungen tun wir es; selbst dann notgedrungen, wenn unser Bewußtsein der Manipulation der Notpropaganda freudig zuzustimmen scheint. (Als der greise Horkheimer diese selbstverständliche Tatsache erwähnte, antwortete ihm ein Aufschrei aller Aufgeklärten; ein Zeichen dafür, wie hart unter der Oberfläche unsere Pillen-Freiheit noch immer aufhört.

Weitere Vitalbedürfnisse haben wir in anderem Zusammenhang bereits erwähnt: Tiere, mit denen man leben könnte; ein Jagd- oder Fischrevier; eine Portion privater Stille, von den kleinen Geräuschen der Natur erfüllt, und dergleichen mehr. Man kann auch sie als Konsumer-Idylle denunzieren — Marx hat es nicht getan, sondern hat sie als Utopie in seine »Deutsche Ideologie« eingebaut. Er hat noch nicht nach einem guten Grund für eine schlechte Entwicklung gesucht — eine Entwicklung, die uns laufend die Erfüllung weiterer Vitalbedürfnisse verweigert.

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Eine weltweite oder auch nur kollektive Erfüllung im Rahmen der gegenwärtigen Verhältnisse gibt es also nicht mehr. Im Streit um diesen Punkt kann es nur mehr um die Methode gehen, mit der Bedürfnisse akzeptiert oder verworfen werden; und um die Instanz der Bedürfnisregulierung. Wie das im spätkapitalistischen System aussieht, wissen wir alle: hier ist die Wirtschaft bereits mit der Wirtschaftskriminalität identisch, gleichgültig, ob die entsprechenden Tätigkeiten von Paragraphen erfaßbar wären oder sind. Aber wer wird im Sozialismus regulieren? Und nach welchen Prioritäten?

Die Alternative der Instanz zunächst. Entweder wird sie eine Zentralbehörde sein, die nach Planziffern vorgeht — mit den bekannten Folgen, nämlich der Fortsetzung der Entfremdung. Oder es werden in irgendeiner Form Räte sein. Räte der Betriebe? Räte der Regionen? Der Verbraucher? Der Wissenschaftler? Sie werden, das ist leider menschlich und in einem menschlichen Sozialismus also nicht zu umgehen, allemal versuchen, zu hoch zu greifen, um das Beste für ihre Mandatare, ihre Betriebskollegen, ihre Wohnviertel herauszuholen; Rohstoffe auf Kosten des Nachbarbetriebs, Wasser auf Kosten der Nachbardörfer, Etatmittel auf Kosten der anderen Fakultät.

Wer wird sie dann belehren, daß sie zu weit gehen? Und wie? Wird die letzte Verfügungsgewalt doch bei der Zentrale bleiben? Und welche exekutiven Mittel werden notfalls eingesetzt werden müssen? Woher wird das Wahre, das Notwendige seine Weihe holen? Aus den konkreten Erfordernissen der Gegenwart oder der Zukunft?

Das, Genossen, ist nämlich längst das zentrale Problem: Die Interessen der Ungeborenen stehen in krassem Gegensatz zu denen der present generation, der lebenden Generation. Sie die Ungeborenen, sind unsere Unterdrückten. Harvey Wheeler, der Denker aus Santa Barbara in Kalifornien, vergleicht das Verhalten der Menschheit gegenüber ihrer Umwelt, ihrer planetarischen Biosphäre, mit dem des Anden regime vor 1789, wobei die industrialisierte Menschheit als ganze die Rolle der sorglosen, ausbeuterischen Aristokratie übernommen hat. Irgendwie, so lautet die Parole, wird es weitergehen, und wenn nicht: apres nous le deluge.

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Nach uns die Sintflut: das war und ist immer eine Parole der untergehenden Klasse. Wenn die entwickelte Menschheit als ganze nach dieser Parole handelt, dann ist sie historischdialektisch bereits gerichtet. Vorläufig hält sie sich für siegreich, weil sie das neue dialektische Subjekt (die Biosphäre als Kämpferin für unsere ungeborenen Enkel) noch nicht als solches anerkannt hat. Die Schlacht tobt dennoch äußerst real. Hier sollen beispielshalber ein paar Anweisungen für die Schlacht folgen, die sich dauernd eskaliert:

»Um der gefürchteten Krautfäule und Dürrfleckenkrankheit vorzubeugen, setze man jetzt schon 200 g Dithane in 100 l Wasser ein. Spritzungen nach der Blüte sollen mit Kupfermitteln wie 900 g /100 l Cuproxy durchgeführt werden. Bei Auftreten von Blattläusen sind zu dieser Spritzbrühe 50 ccm / 100 l Systox (ein besonders schweres Gift, d. V.) zuzusetzen. Beim Auftreten der ersten Kartoffelkäfer und ihrer Larven 200 g / 100 l Multanin einsetzen. Es wirkt auch gegen die häufig auftretenden Zikaden...«

Das ist eine Heeresdienstvorschrift mit dem ganzen Vokabular des chemical warfare, der chemischen Kriegführung. Und eben darum, um chemische Kriegführung, handelt es sich. Es ist eine Empfehlung an Kartoffelbauern, die aus einer westdeutschen landwirtschaftlichen Wochenzeitung stammt; aber es ist wohl nicht zu leugnen, Genossen, daß sie genausogut aus einer sozialistischen Agrar-Direktive stammen könnte — mit anderen Markenbezeichnungen für die C-Waffen vermutlich. Die Schlacht eskaliert sich; das dialektische Subjekt, der Klassenfeind, schlägt zurück — mit Schädlings-Mutationen, mit Entzug freundlicher Lebensformen, mit Verteilungsmechanismen, die das Gift in unsere Erde, unsere Flüsse, unsere Meere treiben. Und worum geht es in diesem Krieg? Um den Alleinvertretungsanspruch der Menschheit im Kosmos; um eine dumme und anmaßende Parole der Macht.

Damit hätten wir, Genossen, den nächsten Schritt der Dialektik; jenen Schritt nach dem Sieg der Arbeiterklasse, der unseren Theoretikern soviel Kopfzerbrechen macht. In den Schritten der historischen Entwicklung wurde eine Klasse nach der anderen im Zusammenhang mit ihren Produktionsformen, die sich überlebten, gestürzt, ihre Interessen denen der aufsteigenden Klasse untergeordnet, wobei das Schicksal von Individuen völlig gleichgültig war.

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Die Tatsache, daß es noch andere, ältere zwischenmenschliche Unterdrückungsverhältnisse gibt, besagt philosophisch nichts. Natürlich herrscht noch keine Gerechtigkeit zwischen Arbeit und Kapital im Westen; natürlich gab es lange noch den Kaiser von Äthiopien, und es gibt noch Steinzeitmenschen in Australien und Westbrasilien. Entscheidend ist doch, welche Dialektik in den entwickeltsten Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen vorliegt; diese sind maßgebend für das künftige Schicksal der Menschheit, so wie gestern die Verhältnisse Englands maßgebende Modellbedeutung für die gesellschaftliche Prognose hatten. Die Verhältnisse älterer Zustände ordnen sich in der Praxis den Problemen der avanciertesten Gruppen unter.

Ihr, Genossen, seid der Ansicht, daß die sozialistischen Verhältnisse heute die fortschrittlichsten, die maßgeblichsten sind.

Das Gebot der Stunde muß also lauten: Der Sozialismus, als avancierteste Gesellschaftsform der Menschheit, muß die neue Dialektik, das neue dialektische Subjekt akzeptieren. Das neue Subjekt ist die in ihrer Existenz bedrohte zukünftige Menschheit, deren Interessen wir mit ebenso ungeeigneten, da klassenfeindlichen Mitteln wahrzunehmen behaupten, wie dies noch alle alten Regimes <für das Wohl aller> zu tun behaupten. Die Interessen der Zukünftigen sind schon heute weitgehend identisch mit denen der uns umgebenden Biosphäre, also den unseren entgegengesetzt.

Zwei ungemein praktische Aufgaben sind daher in Angriff zu nehmen. 

Erstens ist der Begriff der Ausbeutung auf die Höhe der Zeit zu bringen. Wir müssen uns damit befassen, die Immoralität jeder Ausbeutung als eines Instruments der Herrschaft zu entlarven. Bisher haben wir den Begriff willkürlich (und weil wir die Garantien und Perspektiven der jüdischchristlichen Tradition ohne die notwendige Reflexion übernommen haben) auf die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eingeengt. Diese Schlacht ist noch nicht ausgestanden.

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Daß sie jedoch bereits in der Realität, nicht in unserem Bewußtsein, von der nächsten, viel kritischeren Phase der Auseinandersetzung überlagert wird, ist eindeutig. Ebenso eindeutig ist die Prognostik über das, was sich ereignen wird, wenn wir diesen Schritt verweigern oder seine Notwendigkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Je starrer wir, die Feinde der Ungeborenen, an unserer Selbstinterpretation als Herren der Erde festhalten, desto vernichtender wird die Niederlage sein, welche uns die Biosphäre beibringt.

Der pathetische Satz des linken amerikanischen SDS in seinem Gründungsmanifest: »Diese Generation kann vielleicht die letzte im Experiment der lebenden Materie sein«, setzt die Potenz des Feindes viel zu niedrig an. Selbst wenn wir, stolze Sieger eines globalen Vietnam, nicht nur die Dschungel des Mekong-Deltas, sondern sämtliche Voraussetzungen für die Existenz bisheriger Lebensketten ruinieren sollten, wird die Biosphäre auf einer neuen Basis — die keineswegs eine Sauerstoffbasis zu sein braucht — ein neues Experiment beginnen. Unsere Interessen, diejenigen des Anden regime, wären dann allerdings nonexistent. Sie wären von der wahrhaft totalen Revolution der Ausgebeuteten, Vergifteten, Unterdrückten total liquidiert.

Damit ist die zweite Aufgabe klar: die Zielvorstellung einer neuen, der nächsten dialektischen Synthese zu schaffen und auf sie hinzuarbeiten. Diese Synthese wäre das Ziel einer gesamt-planetarischen Solidarität, der wir unsere intraspezifischen Beutemacher-Interessen unterzuordnen haben.

Das Pathos der menschlichen Arbeit wäre damit keineswegs erledigt; aber sie würde vor gänzlich neue Aufgaben und Produktionsziele gestellt. Größen wie Rentabilität und Quantität, Menge und Charakter von Arbeitsplätzen nähmen sich völlig anders aus. >Rentabel< wäre eine Tätigkeit nur dann, wenn sie die Chancen der Ungeborenen in der Biosphäre nicht vermindert oder, wenn irgend möglich, vergrößert; Arbeitsplätze als solche wären überhaupt kein Kriterium für erfolgreiche Produktion; Dienstleistungen an der Zukunft stünden im Mittelpunkt des Arbeitsinteresses und an der Spitze der Prestige-Skala. Die Quantität der Produktion, ihr Verfahren, ihre Ausrichtung und Schwerpunkte hätten einer ständigen und effektiven Kontrolle auf biosphärische Auswirkungen zu unterliegen.

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Die Liste kann fortgesetzt werden.

Natürlich würde eine solche Akzeptierung der neuen Dialektik unsere alten Beschwerden gegen die Schöpfungsordnung — das, was wir >Zwang< und >Entfremdung< nennen — nicht beseitigen; im Gegenteil, sie würde sie zunächst verstärken. Dabei handelt es sich aber um keine objektive Erscheinung, sondern lediglich um eine Offenlegung der Gründe dafür, warum es bisher noch keiner sozialistischen Gesellschaft gelingen konnte, mit Zwang und Entfremdung fertig zu werden. Denn — das scheint mir ein Gesichtspunkt zu sein, der noch viel zuwenig berücksichtigt worden ist — Zwang und Entfremdung erwachsen aus ihrer eigenen Negation, aus der frontalen und daher unzweckmäßigen Glücks-Appetenz des einzelnen und der Gesellschaft (theologisch nannte man das einmal die >Begehrlichkeit<).

Glück, auch repressionsfreies Glück, ist allemal nur ein Nebenprodukt; die Suche nach dem Endreich als Selbstzweck hat dies grotesk verdunkelt. Die sinnvolle Zuordnung unserer Sublimationen, unserer Bedürfnisverzichte auf ein konkretes zukunftsgeschichtliches Ziel war noch immer die Ursache für die Überlegenheit aufstrebender Gruppen oder Bewegungen: nicht ihr Anspruch, Verzicht abzuschaffen, sondern ihre Potenz, Verzicht-Energie zu aktivieren. Eine solche >Sublimation< wird, falls die neue Dialektik akzeptiert und die neue Synthese angesteuert werden sollte, auf jeden Idealismus verzichten können, jeder ideologische Anspruch von außen würde verschwinden. Aber davon wird im nächsten Kapitel zu sprechen sein.

Und nun warte ich auf euren Aufschrei, Genossen. Er wird natürlich so sicher kommen wie das negative Amen der Kirche zum vorhergehenden Kapitel. Ihr werft mir vor, daß ich die Mitarbeit an den Aufgaben des Tages verweigere, daß ich die Genossen verwirre durch die Einführung eines neuen dialektischen Subjekts, daß ich als Seher und Warner auf billige Distanz gehe und damit typisch bürgerliche Ohnmacht reproduziere.

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(Ich brauche im Grunde gar nicht zu warten, ich kann mir alles lebhaft genug vorformulieren.)

Wenn der Aufschrei kommt, beweist er nur eines: daß ihr nach wie vor von den unreflektierten Prämissen der jüdischchristlichen Tradition nicht loskommt. Daß ihr euch Geschichte nur als intraspezifische, als Menschengeschichte vorstellen könnt. Daß ihr euch ein neues antagonistisches Subjekt der Dialektik nicht vorstellen könnt, das nicht mit humanen Sprechwerkzeugen ausgestattet ist. Strikt philosophisch gesprochen seid also ihr die Idealisten. Ziel meiner Warnungen (Visionen habe ich keine, ich halte mich an Fakten) ist nicht die Lähmung der Kämpfer, sondern ihre Aktivierung zum Kampf an der neuen Front. Denn an die Aufgabe, so schwer sie ist, müssen wir heran; vor ihr erblassen alle alten Prioritäten.

Im Zuge zum Endreich zur Zukunft ohne Leid und Tränen haben wir einen Bergkamm erobert, den wir fast schon für das Ziel hielten. Nun tun sich dahinter erst die riesigen, gleichgültigen Gipfel auf, und vor ihnen der Abgrund, in dem wir zerschmettert werden können. Wir müssen hinunter. Es bleibt uns keine Wahl — außer der Zustimmung zum Ende aller noch sinnvollen Zukunft. Entsetzliche Härten — politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche — werden uns bevorstehen. Aber wir werden nicht einmal imstande sein, den ersten Schritt zu tun, wenn wir nicht die Prämissen revidieren, das Rüstzeug, das uns bisher zur Verfügung stand, die Verheißungen, die uns vorantrieben. Und während die Agonie dieser Revision vor sich geht, werden wir weiterleben müssen, mit oder ohne sinnvollen Bezug zum Kommenden, mit oder ohne Ethik, die uns wenigstens die ersten Schritte ermöglicht.

Aber wie in allen totalen Konfrontationen liegt auch in dieser eine Chance.

Wenn wir uns das Menschheitsproblem in seinem ganzen Ernst klarmachen, wird es — wie alle Situationen der kollektiven Gefahr — die grundsätzliche Einfachheit der fälligen Entscheidungen offenbaren; wird uns vor ein Entweder-Oder stellen und uns von einem Alpdruck befreien, der immer schwerer auf dem scheinbar gesättigten Teil der Menschheit lastet: dem Alpdruck der Beliebigkeit ethischer Entscheidung.

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       Übung: Moby Dick in Marienbad        

 

Der letzte Bartenwal — nennen wir ihn nach seinem berühmtesten Ahnen Moby Dick — stellt bei seiner Durchpflügung der Meere fest, daß es ihm ständig schwerer fällt, eine Gefährtin zu finden. Er konsultiert die Veröffentlichungen der FAO und entdeckt, daß er auf dem Aussterbe-Etat steht.

Fair wie Bartenwale sind, möchte er wissen, ob dieser Entwicklung eine zwingende Notwendigkeit zugrunde liegt, und besucht anno 1967 eine Konferenz der Paulus-Gesellschaft in Marienbad, welche dem christlich-marxistischen Dialog gewidmet ist. Er hat die instinktive Vermutung, daß beide Bewegungen mit seiner existenziellen Not etwas zu tun haben.

Er nimmt stumm an den Dialogen und Referaten teil. 

 

Jürgen Moltmann: Der christliche Glaube versteht sich authentisch als Anfang einer Freiheit, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Darum stehen an seinem Ursprung die schöpferischen Symbole der Freiheit: der Exodus Israels aus der Knechtschaft... und die Auferweckung Christi vom Tod am Kreuz ins kommende Reich Gottes. Darum steht an seinem eschatologischen Ziel eine neue Schöpfung, die diese Welt von der Knechtschaft des Vergänglichen befreien wird. 

Moby Dick (beginnt zu hoffen)

Jürgen Moltmann: Mit dem christlichen Glauben wurde in der Welt des antiken Humanismus ein neuer, freier Mensch geboren. Für ihn heißt Existieren nicht mehr, sich in die göttlichen Weltgesetze des in sich geschlossenen Kosmos einzuordnen, sondern auf Grund der am erniedrigten Christus erschienenen Zukunft Gottes zu einem Leben freier Entscheidungen befreit zu sein. 

Moby Dick (ahnt wieder Übles)

Roger Garaudy: Befreiung und Freiheit sind nur möglich durch die Idee einer Schöpfung, die kein Akt der Notwendigkeit ist. Dies brachte das Christentum zum Ausdruck, wenn es sagte, daß die Schöpfung ein freiwilliges Geschenk, ein Akt der Liebe ist. Zum Unterschied von der Beziehung zwischen Herr und Knecht oder der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung impliziert die Beziehung der Liebe als einzige die Einheit zwischen dem Ich und dem anderen — jeder ist dem anderen Ziel und schöpferische Überwindung des eigenen Ich.

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Moby Dick (hofft wieder und wartet auf die logische Fortführung des Gedankens, die auch ihn betreffen wird)

Roger Garaudy: Dadurch wird, wie Harvey Cox gezeigt hat, dreierlei möglich: erstens die Entsakralisierung der Natur; die Natur wird von den Geistern und Göttern des Animismus, aber auch von den unveränderlichen Wesenheiten eines dogmatischen Denkens befreit.

Moby Dick (erinnert sich sehnsüchtig der Zeiten des Animismus)

Jiri Cerny: Als Summe der chemischen Elemente, als System der Atome oder Moleküle ist der Mensch Bestandteil der Natur und Bestandteil einer Totalität, die in Entstehung und Verfall kein Ende hat.

Moby Dick (stimmt zu)

Jiri Cerny: Aber der Mensch kann nicht... als eine Summe von physikalischen, chemischen, biologischen oder anderen Elementen und ihren bindenden Kräften definiert werden. Der Mensch ist immer etwas, was diese Ewigkeit der Natur, diese Ewigkeit der Summe aller Entstehung und allen Verfalls überschreitet... Der Mensch transzendiert die ewige Bewegung der Natur durch seine Historizität.

Moby Dick (fragt sich, warum er nicht transzendiert)

Heinrich Fries: Daraus folgt, daß der Mensch in seinem Erkennen und Denken und dem, was daraus für sein Tun und Verhalten sich ergibt, auf das andere, auf das Gegenüber, auf den Partner... angewiesen ist —

Moby Dick (atmet auf: man ist auf ihn angewiesen)

Vitezslav Gardavsky: Indem er — als Sinnsucher — seine eigene Evolution in seine eigenen Hände nimmt, entsteht durch den Menschen im Kosmos eine zielbewußte Evolution — wie sowohl Marx wie Teilhard de Chardin betonen. Durch den Menschen wird das Weltall zu einem strebenden Universum, zum sinnsuchenden Kosmos.

Moby Dick (will schreien, kann nicht)

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Vitezslav Gardavsky: Dennoch erscheint der Mensch nicht als ein >Herr< der Natur, als ein Träger der Willkür, sondern er braucht zu einem sinnvollen Leben auch die Dimension der Demut der Realität gegenüber.

Moby Dick (atmet auf)

Giulio Girardi: Das moderne religiöse Bewußtsein bestätigt..., daß die Gestaltung dieser Welt durch und für den Menschen vom Glauben an Gott selbst gefordert wird.

Moby Dick (sieht seinen schlimmsten Verdacht bestätigt)

Yves Congar: Die Bibel ist entschieden historisch. Sie setzt die volle Wahrheit der Dinge an das Ende der Geschichte. Sie macht diese Wahrheit von einer neuen und endgültigen Schöpfertat abhängig, aber auch von einem historischen Prozeß, in dessen Verlauf sich etwas wirklich Neues ereignet... Diese Geschichte ist ein Kampf, ein schwieriges Gebären. Erst am Ende dieses Prozesses wird man in aller Wahrheit sagen können: Der Mensch ist geschaffen, ja, »der Mensch ist die Zukunft des Menschen«.

Moby Dick (ringt nach Luft, findet wie im Alptraum keine, glaubt zu ersticken, kann plötzlich wie im Alptraum schreien und spricht): Meine Hoffnung? Meine Zukunft? Mein Gebären?

Alle (sehen ihn mißbilligend an)

Yves Congar: Wie Luther sagte, ist der Himmel nicht für die Gänse da.

Roger Garaudy: Wenn der Mensch etwas anderes ist als das notwendige Produkt der Naturgesetze... Verlängerung oder Resultante seiner Vergangenheit, kann er die Notwendigkeit nur aufheben, wenn er selbst am kontinuierlichen Schöpfungsakt teilnimmt.

Jiri Cerny: Die Weltgeschichte ist die Geschichte der Selbstdarstellung des Menschen, die Geschichte der Bildung einer menschlichen Welt.

Jürgen Moltmann: Die Freiheit dessen, der die Geschichte offen hält, und in den geöffneten Horizont der Geschichte dem Menschen voranschreitet, öffnet diesem eine Zukunft über die Natur, ja sogar über jedes bisherige Menschsein hinaus.

 

Moby Dick ist längst abgereist. Er meditiert einsam in den Polarmeeren und wird Jahre später, der letzte Wal, vom letzten russischen Fangschiff erlegt. Es trägt den Namen SCHÖNERE ZUKUNFT und wird auf den Fang von Krillkrebsen umgerüstet.

Seeleute, die dabei waren, behaupten später, Moby Dicks totes Antlitz habe ein unangenehmes Grinsen gezeigt. Aber vielleicht behaupten sie dies nur auf Grund späterer, viel zu später Einsicht. 

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