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   Ethischer Ausblick   

 

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Wenn wir zum Abschluß unserer schmerzlichen Bilanz eine neue ethische Orientierung der Menschheit, zumindest ihres aktivsten und aggressivsten Teils, fordern, dann haben wir von der Tatsache auszugehen, daß noch nie die moralischen und ethischen Werte der Zeitgenossen so weit von den objektiven Anforderungen ihrer Epoche entfernt waren wie heute.

Jede große ethische Satzung, welche die Menschheit hervorgebracht hat, war darum bemüht, die erkannten, erfühlten und erahnten Forderungen eines allgemeinen Sittengesetzes mit den praktischen Gegebenheiten der Menschengruppe zu harmonisieren, für welche der Gesetzgeber tätig war. Wenn Zarathustra dem Bogenschießen einen hohen moralischen Wert zuschreibt, trifft dies ideal mit den Bedürfnissen eines kriegerischen Reitervolkes zusammen, welches sein Imperium zusammenhalten mußte. 

In der alttestamentarischen Verfassung des Sittengesetzes, aus dem wir den Dekalog exzerpiert haben, stehen nüchterne Hygiene-Vorschriften für ein Nomadenleben in der Wüste neben den zeitlosen <Du sollst> und <Du sollst nicht>, die jeder von uns, ob Jude, Christ oder Freigeist, in irgendeiner Weise verinnerlicht hat. Und die großen Tugendsysteme der Griechen, von Platon über Aristoteles zu den Stoikern und den Epikuräern, entsprachen ziemlich genau den Bedürfnissen und dem Bewußtseinszustand einer Epoche, in der wachsende Bewußtheit der Lebensgestaltung mit den Aufgaben griechischer und später römischer Urbankultur konfrontiert wurde.

Wie wir sahen, sind diese Systeme ziemlich geschmeidig vom Christentum absorbiert und assimiliert worden. Ihren ersten großen Bruch erlitt diese Methode in dem Augenblick, wo ein siegreiches Christentum sich in zwei Formen der Lebensführung spaltete: einen <vollkommenen> Weg, der den Geist der Bergpredigt zu konkretisieren versuchte, und einen unvollkommenen, der anderen, mehr oder weniger vernachlässigten Ständen der Christenheit vorbehalten blieb. Das <Minimalprogramm> für diese Stände war ein buntes Gemisch aus alten heidnischen Erfahrungen, dem jüdischen Dekalog und einer Reihe von Untertanentugenden, die man — aus leicht ersichtlichen Gründen — für wichtig und notwendig hielt.

Das doppelgleisige System funktionierte lange Zeit überraschend gut. Natürlich wurden immer wieder Versuche gemacht, diese doppelte Buchführung abzuschaffen: Interessierte seien etwa auf die Ordensregel verwiesen, die Bernhard von Clairvaux für einen Ritterorden im Heiligen Land entwarf, und die eine enorm positive Wirkung auf den Lebensstil der halbwilden Feudalbarone ausübte. Dennoch blieb der Abgrund zwischen Klerus- und Laienethik im Mittelalter so gut wie unüberbrückbar; auch Bernhards Regel ist in der Praxis der Grenzkriege im Nahen Osten, später unter den imperialistischen Ambitionen der Templer und Deutschordensritter gründlich zusammengebrochen.

Von Grund auf änderte sich diese Situation durch den Protestantismus. 
Er schaffte einerseits die Klöster ab, vernichtete den Zölibat, führte aber andererseits die intensive Seelenkultur der Klöster in die Arbeits- und Familien-Ethik seiner Gläubigen ein. 
Damit schuf er ein Instrument der Weltbewältigung, das historisch konkurrenzlos war.

Die Katholiken (nicht so sehr die Orthodoxen) zogen nach. Der Jesuitismus war von Anfang an nicht nur auf den Orden angelegt, sondern bemühte sich um die möglichst lückenlose Mobilisierung aller Stände im Sinne der Gegenreformation. Da das Prinzip der Gegenreformation von einer fast totalen Seelenführung durch den gebildeten Klerus ausging, bestanden natürlich von Anfang an erhebliche Unterschiede zum Protestantismus; doch was die Intensität der psychologischen Auswirkungen betraf, konnte sich die innere jesuitische Mission vor allen in Bürgerkreisen durchaus mit den Resultaten des Calvinismus messen. 

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Einer der positivsten Leitfäden für die neue bürgerliche Existenz der anhebenden Epoche wurde von Franz von Sales entworfen. In allen Fällen kam es — und das ist für unser Thema wichtig — auf individuelle Seelenkultur an; eine Seelenkultur, welche es dem frommen Laienchristen ermöglichen sollte, ein Leben unter Berücksichtigung aller seiner Standespflichten zu führen.

In beiden Fällen — dem calvinistisch-protestantischen wie dem neukatholischen Moralmodell — blieb viel Mehrwert, viel Antriebsüberschuß; und da die Welt eben expansiv erschlossen wurde, waren diese Modelle den Verhältnissen hervorragend angepaßt. Ihre gemeinsamen Wurzeln hatten sie in der Devotio Moderna, einer kleinbürgerlichen Erweckungsbewegung, die schon im Spätmittelalter in der aktivsten europäischen Landschaft entstanden war, nämlich in Brabant und Holland. 

Ihr hervorragendes Dokument war die »Nachfolge Christi« des Thomas à Kempis, ein Buch, das jahrhundertelang neben der Bibel der Bestseller Europas blieb.

Dieses Werk des Thomas à Kempis ist deshalb so bedeutsam, weil er bis in unsere Tage die bedeutsamsten Folgen hatte. Es hat Hunderttausende von Christen dem Gefühl der Frustration entrissen; denn es sicherte gerade den Demütigen und Bescheidenen, den kleinen Leuten, einen entscheidenden Anteil am Heilsplan zu. Der Fromme wurde hier daraufhingewiesen, daß seine unbedeutende Existenz teilhatte am Reich der Lebenden und Toten, daß sie gewissermaßen von unten am Muster eines Teppichs mitknüpft, den Gott eines Tages in seiner ganzen herrlichen Harmonie enthüllen wird. Eck- und Schlußstein aller Motive des Teppichs würde dann gerade der Beitrag jener sein, die in diesem Leben und mit irdischen Augen keinerlei historische Relevanz ihrer Arbeit und ihrer Entbehrungen zu gewahren vermögen: »Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden.«

Mit der kleinbürgerlichen Devotio Moderna und der nachreformatorischen Leistungsethik gelangte die weiße Menschheit sozusagen wieder auf die Höhe der Zeit; die Opfer, welche sie dem Einzelnen materiell und psychisch abverlangte, flossen als Potenzen der Re-Investition der Aufgabe der Welteroberung zu.  

* (d-2015:)  wikipedia  Thomas_von_Kempen  1380-1471

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Solche Leistungsethik prägt in säkularisierter, aber funktional kaum veränderter Form noch heute die >offiziellen< Werttafeln von West und Ost. Sie ist als Produktionsethik unentbehrlich geblieben; Arbeitsmoral ist selbst in unserer >dekadenten< westlichen Welt die letzte Bastion der alten Tugendlehren. Ihre Belohnungen und Strafen, der Ausweis von Erfolg bzw. Tugend und Mißerfolg bzw. Laster, ist handfester geworden, das ist alles; er besteht in vermehrten oder verminderten individuellen und kollektiven Lohntüten.

Natürlich ist die Relation zwischen Tugend und Tugendlohn nicht peinlich eingehalten: Privilegien von Eliten sorgen dafür, daß es zusätzliche Gnadengeschenke von oben gibt. Dennoch ist in Ost und West diese Leistungsethik puritanischer Herkunft so weit in den Massen verinnerlicht, daß sich das Anti-Faulenzer-Ressentiment, die blinde Anbetung der Werkelei in der UdSSR nicht minder feststellen läßt als bei uns oder unter der sogenannten schweigenden Mehrheit der USA.

Im Westen ist allerdings eine neue ethische Haltung entstanden, die scheinbar zu ihr in krassem Gegensatz steht: die Konsumentenmoral

Sie ist durch einen Triumph der alten Ethik entstanden, und zwar durch die unheimlich wachsende Produktivität pro Arbeitsstunde. Bibliotheken sind über diese Tatsache und ihre Folge geschrieben worden; hier genügt es festzuhalten, daß die Konsumer-Moral mit ihrer heiligen Pflicht zum Verschleiß und Verbrauch nur die Kehrseite der Produktionsmoral ist. Dieselbe mönchische Energie, die sich in den letzten Jahrhunderten damit befaßt hatte, die Produktion auszuweiten, wendet sich nun der kaum minder anstrengenden Aufgabe zu, das Produzierte mittels Verbrauch, Verschleiß und glatter Zerstörung zu bewältigen. Es ist deshalb nur komisch, wertbewußte Produzenten über den Verfall der Arbeitsmoral jammern zu hören: Ohne die Umfunktionierung der alten Energien zum Konsumbetrieb müßte die Produktionsmaschine heißlaufen wie ein Motor ohne Schmieröl und schließlich zusammenbrechen (was sie sicherlich eines Tages ohnehin tun wird).

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Global unheimlicher ist schon die Tatsache, daß es noch unter- bzw. fehlentwickelte Gebiete der Erde gibt, die bis heute noch nicht die entscheidenden Margen der Produktivität erreicht haben. Da sie angesichts des im System eingebauten Rentabilitätszwangs kaum noch Hoffnung haben, den Anschluß zu finden, müssen sie sich entweder sozialisieren oder es entstehen Minoritäten, die von vornherein mit der Konsumer-Ethik des Westens geimpft sind und nun versuchen, auf Kosten ihrer bitterarmen Mehrheiten die Symbole des tugendhaften Verbrauchers zu erlangen und vorzuzeigen.

Wird sozialisiert, ist die erste zwangsläufige Folge eine puritanische Ethik mit allen ihren asketischen Merkmalen. Weder das rumbatanzende Kuba noch die weise altöstliche Gelassenheit sind diesem Zwang entronnen. Solchen neuen, straffen Regimen gegenüber nimmt sich der Versuch der USA, der in Ibero-Amerika, auf den Philippinen und in Vietnam zu beobachten war und ist, Demokratie durch die mehr oder weniger gewaltsame Schaffung einer >Mittelklasse< zu zementieren, ebenso irreal wie zerstörerisch aus. Es kommt nichts anderes dabei zustande als eine Horde von einheimischen Aasgeiern, die uralte Ausbeutungspraktiken mit den Annehmlichkeiten der Konsum-Zivilisation wohl zu verbinden wissen. 

Harmloser, aber ethisch noch konsequenter sind die Cargo-Kulte, die unter den steinzeitlichen Bewohnern Neuguineas entstanden sind: Durch die Anlage magischer <Flugplätze> und die Hantierung mit Bambus-<Antennen> versuchen sie jene mythischen Riesenvögel anzulocken, aus denen sich die himmlische Fülle der Güter auf die Weißen ergießt. Wer sich die Mühe macht, den dornigen Weg von Vertretern und Kleinhändlern durch unsere heimischen Landgebiete zu verfolgen, wird feststellen, daß die Psychologie der vom Cargo-Kult befallenen Steinzeitler auch hierzulande noch zu finden ist; an die Stelle der Bambus-Antenne tritt der in blindem Vertrauen auf die Vorsehung unterzeichnete Ratenkaufvertrag. Leider werden dann, wenn Kurzschlußhandlungen infolge solchen Mißverständnisses in der Bank- oder Handtaschenraub-Statistik zu Buche schlagen, die armen Eingeborenen vor den Kadi zitiert und nicht die betrügerischen Medizinmänner.

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Aber all dies ist wohl bekannt. Kehren wir zur Feststellung zurück, die dieses Kapitel einleitet: Noch nie waren die ethischen Systeme, nach denen die Zeitgenossen mehr schlecht als recht leben, so weit von den tatsächlichen Anforderungen der Epoche entfernt wie heute. Beide Systeme — das der Produktionsethik wie das der Konsumethik — gehen von der blinden, längst unhaltbaren Macht der Vorsehung aus, für produktive wie für konsumierende Raubzüge ständig und überall die nötigen Ressourcen bereitzuhalten; das eßbare Floß also, das von selbst auf wundersame Weise nachwächst.

Beide Orientierungen verstoßen also ganz klar und offensichtlich gegen die langfristigen Interessen der Menschheit, wie sie jedem Einsichtigen heute erkennbar sind. Man kann die Schwierigkeit betonen, die darin besteht, sie abzuschaffen; man kann auf die vielen intraspezifischen Probleme hinweisen, die es noch zu lösen gilt: Reichtum und Armut, Rassenfrage, Wettrüsten. Man kann (wie es in diesem Buch geschehen soll) die historischen Wurzeln solcher Fehlhaltung freilegen. All das ist gut und schön, aber es ändert nichts an den Tatsachen, und von diesen Tatsachen ist die gültigste die Gleichung zwischen den Planeten und seinen Bewohnern. Man kann die eine Seite der Gleichung quantitativ nur innerhalb der einzelnen Faktoren verändern — das Produkt auf der anderen Seite bleibt konstant. Solange sich die Menschheit noch auf Kosten anderer Faktoren in Zahl und Macht vermehren konnte, war ihr Wachstum gesichert. Nun erreicht sie den Punkt in der Rechnung, wo dies nicht mehr möglich ist, das ist alles.

Ist ein Ausweg möglich? 
Wie kann die totale Krise, in der wir leben und die nichts anderes ist als das Resultat eines sehr realen Sieges, überhaupt noch gemeistert werden?

Ich bin mir nicht sicher, daß sie gemeistert werden kann. Es ist interessant, daß angelsächsische Denker (vor allem seit dem Bau der Atombombe und verstärkt in jüngsten Reflexionen über die Umweltkrise) nach einer religiösen Erweckungsbewegung rufen. Die Tradition der religiösen Erweckung hat gerade in England und Amerika immer wieder über sehr gefährliche Klippen hinweggeholfen; sie war auch dort wirksam, wo sie nach den Analysen von Marx niemals hätte Erfolg haben dürfen, etwa bei der Entfaltung eines reformistischen Sozialismus.

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Da der Weg aus der gegenwärtigen Krise der Menschheit jedenfalls ungeheure Opfer auferlegen wird, und da diese Opfer kaum mit unmittelbaren Interessen begründet werden können, liegt der Ruf nach der religiösen Erweckung nahe.

Sie stünde allerdings vor Schwierigkeiten, die wir bereits erörtert haben. Bisher hat es noch keine wirksame Erneuerungsbewegung im jüdisch-christlichen Raum gegeben, die aufbreiter Basis ohne die Verheißung des Paradieses ausgekommen wäre; und zwar eines kollektiven, eines allen zugänglichen Paradieses. (Die Glücks-Techniken der Minderheiten: der Mystiker, der Mönche, der schwärmerischen Gruppen, blieben im christlichen Bereich immer von der mehrheitlichen gesellschaftlichen Praxis isoliert — eben aus diesem Grunde.)

Diese Verheißung des kollektiven Paradieses aber ist zu folgerichtig mit den Ursachen der gegenwärtigen Krise verbunden, als daß sich eine wirksame Erweckung vorstellen ließe, die auf dem Boden der jüdisch-christlichen Tradition verbleibt. Und die Rückkehr in eine kosmisch-mantische Naturreligiosiät ist in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung unvorstellbar.

Überraschenderweise erinnert eine neue Variante des Sozialismus stark an antike ethische Strukturen: jene Variante, die man ungenau Freudomarxismus nennt, also die Neue Linke einer bestimmten Art, deren Denken von Herbert Marcuse beeinflußt ist. Diese Neuen Marxisten sind stark an der ökologischen Zukunft des Planeten interessiert, und es ist wohl kein Zufall, daß sie letzten Endes das Proletariat als Träger der Bewegung in solche Zukunft vernachlässigen.

Die Welt der Lust, der Stille, des Glücks einer bukolischen Menschheit (daraufläuft diese Anthropologie hinaus) wäre, das geben ihre Sprecher offen zu, nur durch eine Diktatur der Besten, das heißt ihre Diktatur, erreichbar.

Die konkreten Bedürfnisse, die man den Massen gerade noch zugestehen will, sind — vom Standpunkt der Massen aus gesehen natürlich ein grausames Verzichtprogramm; jedenfalls bei uns im Westen. Nahegelegt wird, daß diese Verzichte sich lohnen würden, weil hinter ihnen, hinter dem Nadelöhr, durch welches man das kapitalistische Kamel jagen muß, eine Welt von ruhiger Schönheit wartet, die solche Verzichte mehr als rechtfertigen wird.

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Nun ist es durchaus möglich, daß die Neue Linke recht hat, was die Notwendigkeit des Verzichtprogramms betrifft. Die <konkreten Bedürfnisse> werden sich ziemlich rasch definieren lassen, wenn erst einmal die Futurologie von ihrem optimistischen Pferd heruntersteigt und mehr Berechnungen von der Art angestellt werden, wie sie das MIT durchgeführt hat. Aber indem die Neue Linke ein solches Verzichtprogramm im Namen der künftigen restlosen Freiheit und Harmonie fordert, ist sie selbst Opfer der alten Verheißungen geworden und beweist mit solcher Propagierung ihre Abhängigkeit von den trügerischen Traditionen des Fortschritts.

Damit aber wird sie automatisch für die Mehrheit unglaubwürdig. Die Mehrheit hat nämlich ein langes kollektives Gedächtnis und erinnert sich genau daran, daß dies — die Zumutung gegenwärtiger Leiden im Dienste künftiger allgemeiner Herrlichkeit — immer die Masche einer neuauftretenden Herrschaftsgruppe gewesen ist. Sie zieht es daher im allgemeinen vor, sich im vorhandenen Unvollkommenen schlecht und recht einzurichten — und sei es auf Kosten nicht persönlich bekannter Nachbarn.

Wenn etwas den Weg zum Sozialismus, zur Gesellschaft aller Freien und Gleichen, zum Tausendjährigen Reich aufgehalten und verzögert hat, dann war es dieses kollektive Gedächtnis der Massen und ihr daraus resultierendes Mißtrauen. Es läßt sich rein statistisch beweisen, daß die Volksaufstände mit Vendee-Charakter — also mit reaktionären Zielsetzungen — häufiger waren als die progressiven Volksaufstände, und daß sie bei den Teilnehmern mindestens ebensoviel Enthusiasmus und Kampfgeist entfachten.

Nur wenn das Benehmen der Herrenschicht jenes kolossale Ausmaß an Idiotie und Repression erreicht wie das Anden regime vor 1789 oder der Zarismus 1917, wird dieses kollektive Mißtrauen überwunden, und die Volkskraft fällt mit voller Wucht in die Waagschale des wirklichen oder vermeintlichen Fortschritts. Lenin, der ein sehr guter Politiker war, hat dies klar erkannt und — gegen den Widerstand seiner doktrinären Genossen — die entsprechenden Folgerungen gezogen.

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Es gibt Denker (vor allem solche, die aus dem Marxismus kommen und ihm den Rücken gekehrt haben), welche dieses Mißtrauen der Massen, ihren fast immer spürbaren Mangel an Bedürfnis nach Vollkommenheit der Gesellschaft und ihr Talent, sich im Zeitlichen einzurichten, als Evidenz gegen den großen Hunger zitieren, der die Völker Europas auf der Suche nach dem Millennium voranpeitschte. Nach diesen Denkern ist der kleine Mann immer falsch interpretiert worden; ist er, so oder so, zum Opfer abstrakter Entwürfe gemacht worden, die seine bescheidene Suche nach Glück als Rechtfertigung ihrer selbst benutzten und mißbrauchten. 

Sicher haben die Obrigkeiten ihre Untertanen mit Füßen getreten, und die Untertanen haben mit Recht darüber gemurrt; aber was die Untertanen wirklich wollten, war ein Leben, in dem kleine Bedürfnisse auf befriedigende Weise erfüllt werden konnten, nicht die heroische Verwendung in den Kreuzheeren der Maximalisten. Ein Abend auf der Gartenbank bei Rotwein oder Slivowitz; die Freude an hübschen Mädchen, die wiegenden Schritts in die untergehende Sonne schreiten: Das wäre sozusagen der existenzielle Beweis gegen den Kurs, den die Beherrscher wie die Demagogen der Befreiung genommen haben. Und zweifellos gab und gibt es — in alten menschlichen Räumen vor allem, die unter dem Einfluß Roms, Österreichs, Frankreichs standen — genug solcher verführerischen Möglichkeiten zu einem unreflektierten, gegenwartsfrohen Genuß des Lebens, der auch der guten Erde ihr Recht läßt.

Aber wir haben darüber schon gesprochen: von den Inseln im Strom, die immer wieder den Eindruck hervorrufen mochten, daß es dem Tröster gelungen sei, Gott und die Welt zusammenzubringen. Immerwiederwurden diese Inseln weggeschwemmt — und heute ist es für die Anrufung solcher Kronzeugen endgültig zu spät.

Die Suche nach dem Millennium in dieser Welt war nur allzu erfolgreich: der Kleine Mann (wo immer er zu finden ist) hat sich voller Unschuld den aktiven Kräften der Weltzerstörung angeschlossen. 

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Er fährt Auto und legt Wert auf klopffreies Benzin; er profitiert von der Ausbeutung der Dritten Welt; er verwendet ökologisch katastrophale Insektizide auf seinen Äckern; ermißt sein eigenes wirtschaftliches Schicksal am Tempo der Expansion, an der er teilnimmt. Mit anderen Worten: die Ursachen der Katastrophe gehören — wenigstens in unseren Breiten — schon zu seinem Besitzstand, und er wird, genau wie der Bauer des 16. und der Wilderer des 18. Jahrhunderts, mit der Leidenschaft der Vendee auf alle obrigkeitlichen Versuche reagieren, diesen seinen Besitzstand zu schmälern. Dieser Leidenschaft werden sich auch die benevolenten Diktatoren der Neuen Linken ausgesetzt sehen, in dem Augenblick, wo sie anfangen, ihr Verzichtsprogramm in die Praxis umzusetzen.

All das gehört bereits zum unmittelbaren Bereich der Ethik, um den es geht; einer Ethik, die wir vorläufig nicht oder nur in blassen Konturen wahrnehmen. Seit dem Beginn der Geschichte, das heißt der großen Menschheitsüberlieferung, hat sich mindestens ein Teil der Menschheit auf eine Moral geeinigt, die das Überleben sozialer Gruppen in einer feindlichen Um- und Mitwelt sicherstellen sollte. In dem Maß, in dem dieses Problem kollektiv bewältigt erscheint (und für die Spezies ist es bewältigt — die Elendszustände der meisten Kontinente sind kein naturgeschichtliches, sondern ein humanitäres und soziales Problem), wird die alte Ethik fragwürdig, und das heißt heute, die Produktions- und die Konsumentenethik.

Soll dies heißen, daß die großen Erkenntnisse aller großen Menschenfreunde der Geschichte irrelevant geworden sind?

Keineswegs. Im Gegenteil: Das Zusammenleben der Menschen auf engem Raum (und das wird wohl auf unabsehbare Zeit unser Los bleiben) ist heute schon unerträglich barbarisiert, und es bedarf der Verfeinerung der Kommunikation, des Auf baus oder der Wiederaufnahme aller bisherigen Einsichten, um es erträglich zu machen. Aber — und daraufkommt es hier an — die Menschheit hat sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ihre erste und realste Verantwortung heute eine kollektive Verantwortung nicht nur für die eigene Gruppe oder die eigene Art, sondern für den Planeten als Ganzes geworden ist.

Mit anderen Worten: Die Priorität der <Todsünden> und der <läßlichen Sünden> hat sich vollständig verändert. 

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Erlaubt sei hier ein etwas frivoles Beispiel: ein junger Mann fahrt zum Rendezvous mit einer verheirateten Frau. Vor fünfzig Jahren war dies noch ein Problem ersten Ranges, auch ein moralisches Problem. Wir sind heute gestimmt, es toleranter zu behandeln. Ich würde trotzdem daran festhalten, daß der junge Mann seine Verantwortlichkeit gegenüber den Mitmenschen — der Dame selbst, ihrem Gemahl, vielleicht ihren Kindern — wohl erwägen sollte, desgleichen die Wirkung, welche das Unternehmen auf ihn selbst hat.

Was jedoch unverzeihlich ist, sind Dinge, die er überhaupt noch nicht in Erwägung zieht; zuvörderst die Tatsache, daß er in einem Kleinauto mit schlechtem Vergaser und bleigespicktem Benzin fährt. Hier stiftet er quantitativ feststellbaren Schaden; hiermit nimmt er in aller Unschuld an einer weltweiten Verschwörung teil, die für unsere Enkel wesentlich gefährlicher ist als die bisher so genannten moralischen Folgen seiner Unternehmung.

Ich hoffe mich klargemacht zu haben:

Diese Ethik der planetarischen Verantwortung wird, wenn sie noch Erfolg haben soll, einen ungeheuren Schock auslösen müssen. Sie wird gegen den Strich der sogenannten Menschennatur gehen; zumindest jener Menschennatur, die in unseren Breiten mit immer neuen Prämien des Erfolges überschüttet wurde. Sie wird auf die vereinigte Wut der Reaktionäre wie der Progressiven stoßen. Beiden wird sie, wenn sie Erfolg haben soll, ihre Lieblingsspielzeuge wegnehmen. 

Die Propheten dieser Ethik werden — darüber kann gar kein Zweifel bestehen — in dem Augenblick hingeschlachtet werden, in dem der Umfang der Agonie klar wird, die sie der siegreichen und krisengeschüttelten Menschheit zumuten. 

Greifen wir, um diese Tatsache zu illustrieren, noch einmal ein einziges modernes Symptom auf: unsere Art zu wirtschaften. 

Angesichts der planetarischen Krise, vor der wir stehen, ist sie grotesk und kriminell; und zwar in allen bisher bekannten Spielarten, ob sie nun kapitalistisch oder sozialistisch firmieren. Was die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen betrifft, haben wir inzwischen gelernt, diese Kriminalität zu erkennen; völlig außerhalb der Betrachtung blieb die Kriminalität der Ausbeutung der nichtmenschlichen Hilfsquellen des Planeten.

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Sie wird mit der totalen Unbekümmertheit betrieben, die Herrenschichten von einst gegenüber ihren Hintersassen, Leibeigenen und Sklaven auszeichnete. Bisher war es einigen Naturaposteln vorbehalten, ihre Stimme für den Singkranich, den Zedernwald, den geschändeten deutschen Rhein oder den Mississippi zu erheben; jetzt ist daraus längst eine Frage des Überlebens geworden — eine Frage nackter Interessen. Und zwar nicht der Interessen der USA, nicht der Interessen des Zehnerklubs, des sozialistischen Blocks oder der Dritten Welt, sondern eine Frage der gesamten ungeborenen, vielleicht schon der nach 1950 geborenen Generationen. 

Die bisherigen Wirtschaftsformen basieren restlos auf dem sogenannten Rentabilitätsprinzip und der sogenannten Expansion; das heißt auf dem Prinzip des unbekümmerten Verschleißes der Ressourcen von morgen. Diesen Prinzipien muß eine simple Wahrheit gegenübergestellt werden; eine Wahrheit, die wir im Vorhergehenden immer und immer wieder betont haben und die der amerikanische Schriftsteller Philip Wylie so formuliert: 

»Eine Wahrheit muß die Menschheit erst noch zur Kenntnis nehmen: Niemand besitzt irgend etwas. Alles, was wir haben, ist der Gebrauch unserer sogenannten Besitztümer. Das ist das ökologische Gesetz. Es gilt für Kommunisten wie für Kapitalisten, für unglückliche Völker wie für die reichen industriellen Gesellschaften. Und es ist absolut.«

Betrachten wir im Lichte dieses absoluten Gesetzes das Bewußtsein unserer planetarischen Mitbürger — und unser eigenes Bewußtsein! 

Die Ergebnisse sind niederschmetternd; und wie furchtbar die Umstellung sein wird, wird sich erst herausstellen, wenn wir sie in politische Forderungen übersetzen.

Aber der Moralist darf vor unangenehmen Folgen der ethischen Konsequenz nicht zurückschrecken — und eine angenehme Folge von wahrer Konsequenz ist, daß sie die Verhältnisse wenigstens für den menschlichen Geist vereinfacht. In der Tat hat die totale Krise, in der wir uns befinden, wenigstens diesen methodischen Vorteil: Sie vereinfacht die ethischen Probleme, von denen wir im Bewußtsein der Unzulänglichkeit unserer bisherigen Bemühungen stehen. 

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Auf diese Einfachheit der neuen Ethik — die eine Einfachheit der Konsequenz ist — möchte ich zum Schluß eingehen.

Erstens kann die neue Ethik weitgehend darauf verzichten, mit Bewußtseinsmanipulationen zu arbeiten. Sie ist eine schlichte Ethik der Verursachung; Gut und Böse bedeuten in ihr nichts anderes mehr als Überleben — und zwar kollektives Überleben — oder Sterben — und zwar den Untergang der Spezies, jedenfalls in ihren bisher bekannten Lebensmöglichkeiten. 

Sie wird der Menschheit vorstellen, was sie sich leisten kann, und was sie sich nicht leisten kann. Sie ist self-enforcing; das heißt, sie bedarf keines weltlichen Arms und keiner verinnerlichten Schuld-Strafe-Mechanismen, um ihre Wertwelt zu begründen. Sie hat die schlichte und massive Einsichtigkeit eines Betonblocks, der an einem Nylonfaden über unseren Köpfen hängt. Reißt der Faden (oder raspeln wir ihn an), werden wir plattgequetscht. So einfach ist der Schuld-Strafe-Mechanismus, der ihr zugrunde liegt. Der Industrielle, der die letzte, biologisch entscheidende Dosis Gift in die Weltmeere kippt, kann persönlich noch so feinsinnig sein, er mag ein Förderer der Künste, ein zärtlicher Ehemann, ein vorbildlicher Arbeitgeber, ein überzeugter Christ oder Sozialist sein; in dem Augenblick, wo seine Ladung von der Kippe oder vom Schleppkahn rutscht, ist er der planetarische Schurke Nummer Eins. Der Sittenstrolch, der Heroin-Fixer, der Massenmörder mögen nach unserem gegenwärtigen Empfinden wesentlich tiefer stehen; ihre Taten oder Unterlassungen sind ein wahres Nichts, verglichen mit der Endgültigkeit des Verbrechens, das er (von unseren Gerichten vermutlich mit 5000 DM Geldstrafe geahndet) an der Menschheit begeht.

Frühere Kulturen kannten dennoch Sanktionen für dergleichen. So sah ein Gesetz des Zarathustra vor, daß jeder, der einen Fluß verunreinigte, an den Ufern eben dieses Flusses aufgehängt werden sollte. Die vierhundert verantwortlichen Aufsichtsräte Westeuropas am Lorelei-Felsen baumeln zu sehen, wird uns wohl nicht vergönnt sein, aber hier genügt es, die Größe ihrer Verantwortlichkeit (und das heißt immer noch die Größe ihres fortlaufend begangenen Verbrechens) festzuhalten.

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Sollte der Prophet erstehen, der dieses Verbrechen der Öffentlichkeit in Herz und Hirne brennen könnte, würde er ohne Zweifel von den genannten Herren zuerst gehängt werden; aber auch dies ändert nichts an den tatsächlichen ethischen Gewichten, ändert nichts an den schlichten Kausalitäten.

Ähnliches gilt selbstverständlich für das Problem der atomaren Bedrohung und für das Problem der Verelendung der Dritten Welt. Überall sitzen die Veranlasser, die — bestimmt mit den einleuchtendsten Gründen — den angesammelten Zündstoff zur Explosion bringen können. In einem besseren Jenseits (wie immer die Betreffenden sich dieses Jenseits vorstellen) werden sie sicher diese ihre einleuchtenden Gründe zum Vortrag bringen; den Toten (oder, was fast noch schlimmer ist, den Überlebenden) werden sie nichts bedeuten, weniger als nichts.

In jedem Fall — und darauf kommt es an — ist die Ethik der neuen Situation eine solche der schlichten Kausalität. >Schuld< ist auf diese Ebene nicht mehr eine Frage komplizierter Beziehungen zu einem unsichtbaren, aus religiösen oder philosophischen Voraussetzungen abstrahierten Prinzip, sondern so evident und berechenbar wie der Tritt oder der Kieselstein, der eine Lawine auslöst.

Das bringt uns zum zweiten Vorteil der neuen Ethik. 

Seit einiger Zeit — etwa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs leiden viele denkende und fühlende Menschen unter der Angst, daß für uns das zu Ende geht, was man bisher Geschichte genannt hat; daß wir unwiderruflich in den Mechanismus einer Maschine geraten sind, in der wir als Rädchen laufen, und daß über die Erhaltung der eigenen Existenz hinaus kein großes historisches und kulturelles Ziel mehr sichtbar ist. Wenn ich mich nicht irre, sind viele Erscheinungen unter der Jugend, die den Philister in uns so irritieren, auf diese Angst zurückzuführen. Sowohl der Rauschgiftverfallene, der sich aus dem Mechanismus selbst ausschaltet (>ausflippt<, wie das bildhaft heißt) wie der radikale Fahnenschwinger suchen auf ihre Art dem Würgegriff der Belanglosigkeit zu entrinnen.

»Wir sitzen so in Westeuropa herum«: Das ist die beste mir bekannte Formulierung dieser kollektiven Gemütskrankheit.

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Demgegenüber steht die Tatsache, daß wir planetarische Geschichte machen; und zwar wir alle, und zwar in einem bisher unbekannten, lebens- oder todesentscheidenden Umfang. Der letzte Mopedfahrer, die letzte Waschmittelverbraucherin wirkt negativ an dieser Entscheidung mit. Es ist der zweite große Vorteil der neuen Ethik, daß sie diese Tatsache ins allgemeine Bewußtsein heben kann.

Die neue Ethik wird wirkungslos bleiben, wenn es ihr nicht gelingt, große Massen mit ihrer planetarischen Geschichtsmächtigkeit vertraut zu machen; ihnen klarzumachen, daß es sich dabei nicht um eine verborgene Heilsgeschichte, auch nicht um das Pathos eines zukünftigen Reiches, sondern um das Leben oder Sterben der einzigen Heimstatt geht, die wir und unsere Nachkommen mit allen unseren Sinnen erleben. 

Alle bisherigen Sinngebungen — ganz gleich, ob sie religiös firmierten oder nicht — waren und sind insofern noch mythisch bzw. magisch, als sie einen verborgenen, einen noch zu enthüllenden, einen futurischen oder eschatologischen Sinn proklamieren mußten, um ihren Jüngern das Gefühl ihrer Mächtigkeit zu vermitteln.

Sie mußten die Jünger davon überzeugen, daß sie selbst an der Unterseite des Teppichs tätig seien, dessen strahlendes Muster eines Tages durch einen eschatologischen Akt sichtbar werden würde. Die neue Ethik wird diese Vorstellung (die uns allen, auch den sogenannten Ungläubigen und insbesondere den Marxisten, in Fleisch und Blut übergegangen ist) radikal widerrufen. Sie wird zeigen, daß Heil oder Unheil hier und heute gewirkt wird, daß seine Muster offen zutage liegen und in ihrer schlichten Kausalität ohne weiteres einzusehen sind. Und es wird sich dabei vielleicht herausstellen, daß die Suche nach dem Glück, auch nach dem kollektiven Glück, die sich immer wieder in die Suche nach dem Reich der Zukunft organisierte, viel stärker durch die Methoden der Glücksuche selbst als durch äußere feindliche Einflüsse behindert und frustriert wurde. Indem wir die Welt hominisierten, das heißt zum alleinigen Rohstoff einer einzigen Spezies machten, haben wir sie enthumanisiert. Sie zu rehumanisieren wird nur möglich sein, wenn wir die Partnerschaft mit allem Lebenden bejahen und praktisch ernst nehmen. 

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Der Typus des Beutemachers, des Expansionisten, der bisher von unseren eigenen Vorstellungen mit der Prämie des Erfolgs honoriert wurde, wird geächtet werden und einer Haltung Platz machen müssen, die man ohne Scheu als weltliche Askese bezeichnen soll.

Dies, der ganz reale und legitime Platz einer neuen, weltlichen Askese, ist meines Erachtens der dritte große Vorteil der notwendigen neuen Ethik.

Askese — der Ausdruck läßt alle zusammenzucken. Nicht zuletzt die Kirchen, die ihn heute scheuen wie weiland ihr großer Partner, der Teufel, das Weihwasser. Solche fromme oder unfromme Scheu vor einem Wort hat bestimmt gute historische Gründe. An sich ist nämlich gegen Askese überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil: Sie war allen nennenswerten Kulturen, ob heidnisch, jüdisch oder christlich, wohlbekannt und war immer Überlebenstraining. (Askesis heißt philologisch nichts anderes als Training.) Dieses Training schuf jene individuellen und sozialen Mächtigkeiten, mit deren Hilfe Hochkulturen sich entwickeln konnten.

Woher kommt es also, daß alle zusammenzucken? Daß selbst der glühendste Freiheitskämpfer, der 18 Stunden täglich damit zubringt, den Kampf gegen den Klassenfeind zu organisieren, nicht um alles in der Welt als >Asket< charakterisiert werden möchte?

Das Wort ist historisch falsch besetzt worden: und zwar im Laufe der Entwicklungen, die wir im ersten Teil besprochen haben. Es wurde erstens mit Weltflucht identifiziert — und zweitens mit Aggressivität. Der weltflüchtige Mensch von heute, der — sagen wir — in esoterischen Kommunen sein Seelenheil sucht, legt wenigstens Wert darauf, kein lächerlicher Zölibatär zu sein (selbst wenn ihm das schwerfallen sollte) und definiert sich so gegen den historischen Begriff.

Dazu kommt, daß die letzte, die schärfste Ausprägung der Askese — die jesuitisch-puritanische — die bisher machtvollste und unheilvollste Kanalisierung der Aggressivität erzielt hat: Der finstere Abstinenzler der neuenglischen und der finstere Conquistador der spanischen Expansion waren die extremen Typen solcher säkularisierter Askese. Sie hat viel zur Enthumanisierung der Welt beigetragen und ist heute darum widersinnig geworden; im Schrei nach totaler Repressionsfreiheit wird vor allem der berechtigte Unwille gegen solchen Widersinn hörbar.

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Aber natürlich gibt es keine totale Repressionsfreiheit. Es liegt gerade im Wesen der menschlichen Freiheit, daß sie ohne Auswahl ihrer Antriebe — und das heißt schon Askese — nicht artikuliert werden kann. — Die bisherige Askese, jedenfalls diejenige, die im christlichen Teil der Menschheit führend geworden ist, vermag jedoch das Notwendigste nicht mehr zu artikulieren, weil ihre Zielsetzungen mit den Notwendigkeiten der neuen Lage nichts mehr zu tun haben. Der Verfall der Bußpraxis in den Kirchen ist ein Indiz solcher Entfremdung, und wohl nicht einmal das wichtigste; bezeichnender noch scheint mir die Verachtung, die ein großer Teil der Jugend dem Arbeitsethos ihrer Väter entgegenbringt. Hier stoßen zwei Formen der Askese aufeinander, die sich gegenseitig nicht wahrhaben wollen.

Nach allem, was wir bisher besprochen haben, sollten die Natur und die Zielrichtung der neuen Askese völlig klar sein. Die wird Existenzformen einzuüben haben, die dem gemeinsamen Überleben von Menschheit und Biosphäre nicht widersprechen. Wie schwierig und gleichzeitig realistisch solche Einübung sein muß, ist ebenfalls klar. Sie betrifft keineswegs nur den einzelnen, sondern fordert von allen, die sich der Dringlichkeit unserer Lage nicht verschließen, eine Solidarität der Haltung und der Aktion. Sie wird in allen (vor allem den sogenannten >zivilisierten<) Kulturkreisen auf äußerste Ablehnung stoßen. Sie wird den machtvollen Interessen fast aller Maßgebenden auf der ganzen Welt einen neuen way oflife entgegenzusetzen haben; eine Kultverweigerung, die um nichts ungefährlicher ist als die Kultverweigerung der Juden und der Urchristen im spätrömischen Imperium.

Die politische Aufgabe, die Welt von morgen zu sichern, ist also zunächst und ganz konkret eine Erziehungsaufgabe. Sie könnte in Asien und anderswo auf Denk- und Gefühlsstrukturen stoßen, die ihr bereitwillig entgegenkommen: Hierzulande ist sie zunächst eine fürchterliche Strapaze. Aber abgesehen von der Schwierigkeit der Aufgabe sind ihre Ziele klar. Sie hat sich auf folgende Nahziele zu konzentrieren:

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Erstens — PGZ — das heißt Population Growth Zero (Bevölkerungswachstum Null) — oder, wenn möglich, PGM — Population Growth Minus.

Mit den bisherigen Ressourcen — wissenschaftlichen wie politischen — kommt es frühestens um das Jahr 2000 als globale Realität in Frage; jüngste Fortschritte so die in der (ausgerechnet!) päpstlichen Universität Chile entwickelte <Jahresspritze> — könnten bei entsprechender Konzentration der Aufmerksamkeit und der Mittel diese Prognose ändern. Wie schon aufgeführt, ist eine solche Bevölkerungsdisziplin nicht >natürlich< — aber sie ist nicht unnatürlicher als die Elimination der natürlichen Bevölkerungskontrolle durch Seuchen und Kindersterblichkeit, derer wir uns entledigt haben.

Zweitens — Totaler Kampf gegen die Heiligen Kühe der Wirtschaft: >Wachstum< und >Rentabilität<. Es bedarf ständiger Anstrengungen, ihre Kriminalität aufzuzeigen; geschieht dies wirksam genug, werden Blutzeugen nicht zu umgehen sein. Um so schlimmer für die Wirtschaft!

Drittens — Neu-Definition der menschlichen Arbeit. Sie ist, recht verstanden, Dienstleistung an einer planetarisch-solidarischen Lebensgemeinschaft und sonst nichts. Als solche kann sie eine Würde beanspruchen, die ihr durch die bisherigen Ethiken der Werkelei nur mühsam vermittelt werden kann.

Viertens — Abbau der Erfolgsprämien für Aggressoren und Einführung von Erfolgsprämien für Dienste an der planetarischen Solidarität.

Die Forderung klingt etwas abstrakt; sie impliziert jedoch die notwendigsten und gleichzeitig schwierigsten politischen Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Da die Rettung nicht durch die Abwendung von, sondern nur durch die äußerste Anspannung der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz erreicht werden kann, wird es vor allem darauf ankommen, die Belohnung neuer wissenschaftlicher, technischer und politischer Errungenschaften zur Überwindung der Krise von jeder Erwägung ihrer >Rentabilität< zu trennen. Was dies für die ganze politische Wertwelt, aber auch für die Selektion der politischen und gesellschaftlichen Führungskräfte bedeutet, kann hier im einzelnen nicht weiter erörtert werden. Ein Hinweis genüge: In

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Ost wie West scheinen heute immer mehr Typen an die Schaltpulte der Macht zu kommen, die sich ihrem Charakter wie ihrem Habitus nach ausgezeichnet im Überlebenskampf der Fauna unter einem nassen Stein behaupten würden. Sie dorthin zurückzubefördern, wäre eine der angenehmeren Aufgaben der Zukunft.

Soweit das — keineswegs vollständige — Minimalprogramm. Spätestens hier ist dem Verfasser das Gelächter der Realisten sicher. Es wäre leicht, dem zu entgegnen, daß am besten lacht, wer zuletzt lacht; aber das Gelächter, das sich im Massengrab der Menschheit erheben dürfte, wäre wohl für niemand besonders heiter.

Sinnvoller ist es, zu entgegnen, daß die bisherige Bilanz des >Realismus<, des jeweils nächsten praktischen Schrittest der in der Regel nichts als die blinde Resultante der bewegenden Kräfte war und ist, nicht gerade erfolgreich aussieht. Der Realismus der politischen und gesellschaftlichen Praxis hat, immer in völlig naiver Annahme der (zuletzt völlig säkularisierten) alten Garantien und Verheißungen, die Welt immer unwirtlicher gemacht und sie an den Rand ihrer endgültigen Katastrophe geführt.

Die famose Vokabel vom >Sachzwang< ermöglicht es heute diesen Realisten, unrealistischer denn je die verschiedensten Einflußfaktoren in die Richtung der explosiven Interaktion voranzutreten, von der Peccei warnend spricht.

Wird, gegenüber solchem Realismus, die Menschheit sich zur Vernunft, wird sie sich auf die Höhe ihrer Zeit erheben? Schon die Hoffnung auszusprechen, hieße sündigen. Es hieße auf einen Blankoscheck sündigen, dessen mangelnde Deckung wir im Lauf unserer Untersuchungen und Überlegungen freigelegt haben.

Es ging uns um die Folgen und Resultate einer Entwicklung aus der jüdisch-christlichen Tradition. Wir haben sie nicht beim Wort genommen, sondern bei den Resultaten; wir haben nicht ihre großen Intentionen verherrlicht, aber wir haben auch nicht — wie dies heute gemeinhin geschieht — den großen Abfall von diesen Intentionen beklagt. Wir haben vor allem festgestellt, daß gerade die gefährlichsten Gefühls- und Verhaltensprämissen,

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die sich als Resultate der Tradition allmählich ergaben, von den fortschrittlichen Erbauern der Secular City unserer Tage kritiklos und freudig übernommen worden sind: Einzigartigkeit des Menschen, sein Gegensatz zu jeder anderen Geschöpflichkeit; sein totaler Herrschaftsauftrag über die Welt; seine ursprünglich geplante und deshalb auch wieder erreichbare Vollkommenheit, welche die Unvollkommenheiten kreatürlicher Existenz nur als Skandal empfinden kann; Garantie des ökologischen Gleichgewichts durch einen bilateralen Vertrag mit der Schöpfung — und, schließlich, die Gewißheit einer absoluten Zukunft, eines Endreichs, das zwangsläufig entweder durch göttliche Gnade oder durch den Gang der historischen Dialektik heraufgeführt werden wird.

Von diesen Mustern werden wir uns trennen müssen; jedenfalls in jeder konkreten Aktion und Reflexion. Wir werden davon ausgehen müssen, daß die Erde keine garantierte Heimat ist, daß wir sie und damit uns sehr wohl vernichten können, daß kein außer- oder innerweltliches Bündnis von der Verpflichtung für die eigene Zukunft entbindet und entbinden kann.

Als ich solche Gedanken in einem Treffen mit wachen Menschen andeutete, fragte mich ein junger Mann: »Was ist dann noch der Sinn des Lebens?« Derlei Fragen sind immer höchst peinlich zu beantworten, weil schon die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Störung solchen Lebenssinnes anzudeuten scheint. Dennoch sei's gesagt: Ich glaube nicht, daß unser Leben aufhören wird, sinnvoll zu sein — genausowenig wie das eines Zehnjährigen, der entdeckt, daß er kein Cowboy mehr werden kann. Ich glaube im Gegenteil, daß sich erst im Licht der vollen gesellschaftlichen, politischen, ethischen Verantwortung für den Planeten das Selbstverständnis seiner erwachsenen Menschheit bilden kann. Bislang sind wir in Piatos Höhle gesessen und freuten uns an der Wärme des selbstentzündeten Feuers.

Nun müssen wir hinaustreten ins Licht des faktischen Tages. Wir müssen lernen, die Welt und unseren Platz in ihr zu sehen —von Angesicht zu Angesicht. Die Welt, die unsere Heimat nicht werden wird, wenn wir nicht begreifen, daß sie die einzige Heimat ist, die wir je hatten, haben oder haben werden.

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          Wort des Abwesenden Gottes          

 

 

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Ende Buch 1

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