1972      Start    Weiter 

II.

Natur als Politik 

Die ökologische Chance des Menschen  

Amery-1976

 

 

1.  Ökologischer Materialismus


In dieser traurigen Zeit meines Volkes haschen wir blindlings nach dem Ball und einige versuchen gar nicht, ihn zu fangen; es macht mich weinen, wenn ich daran denke. Aber bald, das weiß ich, wird er gefangen; denn das Ende naht rasch, und dann wird er zur Mitte zurückkehren, und mein Volk wird dabeisein. Darum bete ich, daß dies geschieht; und um beim Fangen des Balles zu helfen, wollte ich dieses Buch machen.

Hebakasapa, Schwarzer Hirsch, Heiliger Mann der Oglalas, gestorben 1950, in seinem Buch <The Sacred Pipe>, wikipedia  Black_Elk  1863-1950


Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht; ... vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern!   (Vorwort zur <Deutschen Ideologie> von Karl Marx)


Wenn der unreine Geist aus dem Menschen gefahren ist, geht er in die Wüste, sucht Ruhe und findet sie nicht. Und er wird zu sich sprechen: Ich will in das Haus zurückkehren, aus dem ich kam! Und er findet es leer, besenrein und geschmückt. Da holt er noch sieben weitere Geister, die ärger sind als er, und sie ziehen zusammen ein. So steht es zuletzt um diesen Menschen schlimmer als zu Anfang. Und so wird es diesem ganzen verderbten Geschlecht ergehen.   (Matth. 12,43-45)


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  Einleitung  

Dieses Buch setzt dort ein, wo <Das Ende der Vorsehung> endet. Dort ging es um einen Rückblick; ich versuchte zu zeigen, daß der heutige praktische und theoretische Materialismus aus den Wurzeln einer Tradition sich nährt, welche in den handlungs­mächtigsten Regionen der Erde zwei wichtige Leitsätze verinnerlicht hat: Erstens den Auftrag absoluter - um nicht zu sagen tyrannischer - Weltbeherrschung an den Menschen als die einzige herrscherliche Art des Planeten — und zweitens die Deutung des Weltzustandes als eines Skandals, der durch »Heils-Geschichte« eines Tages in irgendeiner geheimnis-, aber auch glanzvollen Weise aufgehoben werden wird.

Und wir haben versucht darzustellen, auf welche Weise der Weg des Christentums durch die Geschichte konsequent zum modernen Materialismus als Instrumentarium solchen Heiles geführt hat.

Die Folge solcher menschlicher Herrschaftsideologie und Herrschaftspraxis ist das, was man <die ökologische Krise> nennt. Sie wird rings um uns immer noch als völlig selbständige, gewissermaßen zusätzliche Krise behandelt, und man versucht immer noch, sie innerhalb der die Köpfe beherrschenden Ordnungs- bzw. Unordnungssysteme abzuhandeln und zu erklären.

Die wunderlichen Fronten und Bündnisse, die dabei zustande kommen, gehen quer durch alle weltanschaulichem Lager, quer durch die geographischen und ideologischen Blöcke. Ehe wir uns mit dem <Warum> befassen, genügt hier ein kurzes Schema der Gruppen und Richtungen, die sich jeweils zu den sogenannten <Wachstumsgegnern> — und den <Wachstumsbefürwortern> zusammenfinden.

In Theorie und Praxis gibt es Wachstumsbefürworter vor allem unter den Inhabern und Handhabern der Produktionsmittel, ob sie sich nun Kapitalisten oder Sozialisten bzw. Kommunisten nennen. In der Welt technischer Großvorhaben (Kriwoj Rog oder die Alaska-Pipeline, westdeutsche Atomkraftwerks­kombinate oder Mehrjahrespläne der DDR) sind sich Parteien und Kapital, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Planer- und Profitler über die Notwendigkeit, ja das Wünschenswerte weiteren Wachstums einig. 

Ideologisch unterstützt werden sie von der institutionalisierten Philosophie bzw. der institutionalisierten Wirtschaftswissenschaft der alten Orthodoxien: von sogenannten Konservativen, denen es um Reichtum, von Revisionisten, denen es um die Finanzierung von Reformen, von Falken, denen es um den Rüstungsetat, und von Gewerkschaftern, denen es um Arbeitsplätze und höhere Tarifabschlüsse, das heißt um höhere Produktivität pro Arbeitsstunde zu tun ist. Hinter den sogenannten Sachzwängen (und hinter der nackten Angst vor Popularitäts­verlust) bleibt dabei immer die alte, selten als solche erkannte Theologie sichtbar; das Dogma der Heilserzwingung durch Brechung der natürlichen Grenzen.

Ähnlich bunt ist die Zusammensetzung der Wachstumsgegner.

Zu den Resten der alten konservativen Kulturpolitik stieß ganz plötzlich der autoritäts­umwitterte <Club of Rome>. Seine grundsätzlichen Thesen werden schon 1972 von einem stattlichen Prozentsatz sowjetischer Naturwissen­schaftler anerkannt — viel vorbehaltsloser, als dies im Westen geschah. Sozialistische Revisionisten gesellten sich dazu: Sicco Mansholt, Erhard Eppler, Jochen Steffen. Nach links schließt sich ein Spektrum unorthodoxer Linker an (bei uns am auffälligsten Hans Magnus Enzensberger mit seinem Kursbuch 33), letzten Endes aber auch H. Marcuse mit seiner im Eindimensionalen Menschen angelegten Industriekritik. Ganz wenige entschlossene Theoretiker des eigentlichen marxistischen Lagers folgten gleichfalls: nennen wir hier Guya Biolat, Andre Gorz und Wolfgang Harich.

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Seit der wirklichen oder eingebildeten Rezession in Westdeutschland ist es um diese Theoretiker etwas ruhiger geworden. Der Konsolidierungs­prozeß der Wachstumsgegner findet hier hauptsächlich in den Bürgerinitiativen statt, die sich zur Abwehr ganz bestimmter Gefahren bilden oder gebildet haben — als bisher klassischer Fall muß Wyhl genannt werden. Die Koalition von Wyhl, die aus uralten Ständen — Winzern, Bauern, Fischern —, einigen Arbeitern, Vertretern der Kirchen und linken Dissidenten besteht, erinnert nicht nur von ferne an eine Koalition, die der letzte Stuart, Jakob der Zweite, in England und Schottland gegen das heraufsteigende Industriezeitalter zu formen versuchte. Damals waren es die schottischen Highlander, die alten Landbesitzer, Reste älterer Wirtschaftsformen, Katholiken und, vor allem, die sogenannten Dissidenten, also die damalige christliche Ultralinke. Das englische Establishment hielt diese Koalition immerhin für gefährlich genug, um die sogenannte Glorreiche Revolution gegen Jakob in Gang zu setzen.

Bedeutet das, daß auch die Sache der Wachstumsgegner eine historisch überholte Sache ist, so weit sie es damals in den Inselkönigreichen war? Nun, die Sachlage hat sich eindeutig geändert. Damals war die Sache des Industrie­systems im Aufstieg — heute ist sie eindeutig auf dem Rückzug, geistig wie materiell. Heute liegt ein genauer gegenteiliger Tatbestand vor: Die öffentliche Begriffsbildung hinkt den Anforderungen der Zukunftspolitik nicht nur einen Schritt, sondern viele Bewußtseinsschritte hinterher. Die zentrale Problematik der Zukunft läuft Gefahr, im Pragmatismus unterzugehen; läuft Gefahr, von den uralten Herrschaftstricks der Etablierten unter­laufen zu werden, weil sie noch nicht auf die Höhe des Begriffs gebracht ist.

Das ist also die Aufgabe. Wir müssen eine Sicht der Dinge, eine Anordnung unserer Aufgaben und unserer Gedächtnisinhalte erarbeiten, welche den tatsächlichen, bereits allenthalben geführten Kämpfen zwischen <Wachstumsgegnern> und <Wachstumsfetischisten> ihre tatsächliche Bedeutung erst vermittelt — kurz: Was fehlt, ist ein Konzept oberhalb der Taktik, ein Konzept auf der Höhe der Zeit.

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Nun übersteigt ein Konzept, das, sagen wir, der kaltblütig-leidenschaftlichen, massiven Anstrengung etwa des Kapital von Marx entspricht, vorläufig die Fähigkeiten und vor allem die Arbeitsmöglichkeiten des Verfassers. Er kann lediglich hoffen, Wegweiser zu setzen, Markierungen, welche ihm, dem Zeitgenossen, aber auch den unmittelbar Zukünftigen eine solche systematische Anstrengung erleichtern. Er fühlt sich dazu gedrängt, weil die Zeit drängt. Wir sind zum Handeln gezwungen, und zwar in diesem Jahrzehnt. 

Und es ist völlig klar, daß die bisherigen Mächte (die Institutionen wie die Ideologien) weder gewillt noch imstande sind, das Notwendige hinreichend zu begründen und zu fördern. Der Grund ist bedrückend klar: ihr eigenes Überleben hängt von der Fortsetzung des Wahnsinnskurses ab, den die Menschheit ratlos und kurzsichtig steuert. Diese Institutionen und Ideologien sind längst so weit verselbständigt, daß sie, vor die Wahl gestellt, entweder sich oder die Menschheit zu opfern, natürlich für Letzteres votieren werden; trotz der Tatsache, daß vom Überleben der Menschheit auch ihr eigenes Überleben abhängig ist.

Daran ist (um gleich eine These unserer Betrachtungen vorwegzunehmen) gar nichts Unheimliches, Gespenstisches oder gar Mystisch-Theologisches. Mythen, Systeme, Staaten, Institutionen stehen nicht außerhalb der natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Kreisläufe, sie sind keine Einheiten eigener Definition. Sie sind vielmehr ökologische Gattungen zweiter, dritter, vierter Stufe. Für ihre Existenz sind sie auf Wirtstiere angewiesen, also auf ein Ökosystem von menschlichen Gehirnen. Zunächst sind sie symbiotisch, das heißt hilfreich, sie helfen den Menschen, die Welt, in der er lebt, zu interpretieren und zu organisieren. Fast immer werden sie jedoch zu parasitären Gattungen, wenn ihre Zeit überschritten ist, das heißt, wenn sie nicht mehr imstande sind, die Hilfe in einer neuen Situation zu leisten, die sie anfangs geboten haben. Sie interpretieren nun die Welt nicht mehr für ihre Wirtstiere, sondern blockieren im Gegenteil die notwendige Information; sie organisieren nicht mehr das notwendige Überleben der Individuen und Gruppen, sondern organisieren vielmehr ihre Vernichtung.

<Revolution> ist also - ökologisch gesprochen  - die Vernichtung parasitär gewordener Organisations- und Erklärungssysteme. Dabei geht meistens, wie die Geschichte zeigt, die Vernichtung des noologischen, das heißt des Erklärungs­systems, der Vernichtung der organisatorischen, der <Herrschafts>systeme voraus.

Schicksalhaft wird, gerade in unserem Jahrhundert, die Möglichkeit der Scheinrevolution; der Möglichkeit nämlich, organisatorische Systeme vor ihrem entsprechenden noologischen System zu zerstören. Einer solchen Schein­revolution folgt dann genau das, was das Bibelwort vor unserer Einleitung beschreibt (übrigens das Wort eines erfahrenen Dämonenaustreibers). Die Sätze aus dem Vorwort der <Deutschen Ideologie> von Marx, die ihm vorangehen, sind keineswegs die Meinung von Marx selbst, im Gegenteil macht er sich über diesen Ansatz lustig, welchen er der deutschen Philosophie seiner Tage zuschreibt. Marx, selbst ein Dämonenaustreiber von hohen Graden, gibt der organisatorischen Revolution eindeutig den Vorrang vor der noologischen — aber wie das Schicksal seiner eigenen Lehre beweist, hat er da noch nicht klar — wenn man will, nicht dialektisch — genug gesehen. 

So wurden etwa die leeren Räume seiner <Staats-Theorie> (die keine war) zum Schicksal der marxistischen Praxis — die Dämonen kehrten zurück, mit etlichen, die schlimmer waren als sie selber. Wird ein noologisches System nicht gründlich genug vernichtet, wird es nur verdrängt und nicht vollgültig ersetzt, erfolgt eine neue Setzung, scheinbar willkürlich und aufs Geratewohl, in Wahrheit aber aus den Beständen der alten Dämonie. So hat Lenin bestimmt nicht gewußt, was er der Revolution antat, als er die Formel »Sowjets plus Elektrizität« ausrief.

Vor dem Hintergrund dieser warnenden Beispiele, aber auch vor die Notwendigkeit raschen Handelns gestellt, gilt es also:

  1. eine Erkenntnisweise zu finden, die es erlaubt, das zentrale Anliegen der Gegenwart auf den Begriff zu bringen — ich nenne sie im folgenden den Ökologischen Materialismus 

  2. im Lichte dieser Erkenntnisweise unsere Geschichte, das heißt unsere kollektiven Gedächtnisinhalte zu revidieren und zu ergänzen

  3. die Perspektiven aufzuzeigen, die bisher zur Bewältigung der Krise dargeboten werden, und ihre Unzulänglichkeit zu beweisen — und

  4. relativ sichere Voraussetzungen für gegenwärtiges Handeln unter solchen Umständen wenigstens zu skizzieren.

193-194

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Black_Elk 

     

           

 

Carl Amery 1976  +   qwant.Buch 

          

Seitenzahlen aus einer anderen Ausgabe:

 

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