1. Ökologischer Materialismus      Start     Weiter  

   Für einen konsequenten Materialismus   

 

 

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Die Geschichte der neuesten Zeit ist gekennzeichnet durch den sogenannten Fortschritt — und durch den Angriff auf diesen Fortschritt. Dieser Angriff wurde und wird in der Regel von konservativen Voraussetzungen her vorgetragen. 

Während der Fortschritt jahrhundertelang (oder doch wenigstens eineinhalb Jahrhunderte lang) auf seine unzweifelhaften Erfolge hinweisen konnte, nämlich die Verbesserung des materiellen Loses immer größerer Teile der Gesellschaft, beharrte und beharrt der Konservative auf der Behauptung, daß der Preis für diese Verbesserungen zu hoch sei und schon lange zu hoch gewesen sei. 

Die alten Werte und Ordnungen, um die es dem Konservativen zu tun ist, werden dabei in der Regel als geistige, als spirituelle, als emotional getönte, jedenfalls als immaterielle Größen definiert; als Größen also, die ihren Wert und ihre Einsehbarkeit nicht aus der mehr oder weniger geglückten Befriedigung materieller Ansprüche, sondern aus der Natur des Menschen als eines übernatürlichen Wesens beziehen.

Es ist das Verdienst des Marxismus, die Kontroverse auf ein neues Feld getragen zu haben. Marxistische Analyse weist allenthalben die materielle und gesellschaftliche, also nicht die spirituelle Problematik des bürgerlichen Fortschritts auf. Diese Kritik ist allerdings nicht immanent fortschrittsfeindlich, im Gegenteil. Sie impliziert vielmehr das, was wir in der Einleitung zu beschreiben versuchten: die institutionelle und erkenntnismäßige Unzulänglichkeit, das heißt Rückschrittlichkeit des bourgeoisen Systems, das seinen materiellen Fortschritt, nämlich die Entfaltung der Produktionskräfte, behindert und blockiert.

Wir halten hier an einem wesentlichen Teil dieser marxistischen Erkenntnis fest: nämlich an der Einsicht, daß das Problem der gesellschaftlichen Krise ein Problem der Materie ist. Unsere Anstrengung wird also eine materialistische genannt werden müssen.

Wir gehen jedoch einen Schritt weiter, als der marxistische Ansatz dies tut: Wir verbieten uns den voreiligen Rekurs auf rein innermenschliche, auf rein gesellschaftliche Verhältnisse. Wir fragen vielmehr nach dem grundsätzlichen Verhältnis zur Materie, wie es allen gegenwärtigen Systemen zugrunde liegt — und jedem nur denkbaren gesellschaftlichen Organisationsschema zugrunde liegen könnte. Dieses grundsätzliche Verhältnis, zweifellos anthropologisch und nicht erst gesellschaftlich angelegt, ist das der Ausbeutung.

Heute herrschen in allen bedeutsamen Räumen des Planeten materialistische Systeme. In den sogenannten sozialistischen Räumen wird das offiziell proklamiert; in den Industriestaaten der sogenannten freien Welt werden noch notdürftig metaphysische und ethische Designs der Vergangenheit über den Stahlbeton der Praxis gepinselt, die aber an den Tatsachen nichts ändern. Es ist im Gegenteil so, daß der praktische Materialismus des Westens viel erfolgreicher in der Zerstörung nichtmaterialistischer Denk- und Gefühlsstrukturen ist, als dies dem offiziösen Materialismus im Osten gelingt. (Ein unbefangener Blick in die Literatur dortselbst, auch in die offiziell anerkannte, genügt als Evidenz.)

Eine weitere Tatsache ist jedoch, daß Materie, belebte wie unbelebte, noch nie so mißhandelt worden ist wie in unserer materialistischen Gegenwart. Dies bedarf der Erläuterung; nicht, was die Tatsachen betrifft (die sind klar genug), wohl aber, was den meist unbewußten Ansatz der praktischen Ideologie< betrifft.

Der Materialismus, den wir kennen und in dem wir leben, ob in Ost oder West, bemüht sich nur insoweit um Verständnis für die Materie, als er dieses Verständnis in Herrschaft über die Materie umsetzen kann. Er sah und sieht sie ausschließlich in ihrer Beziehung zum Menschen; und zwar nicht in Beziehung zu einem Menschen, der als körperliches Wesen inmitten anderer Körper leben muß, sondern zu einem Menschen, der von vornherein als Herrscher über alle anderen Gattungen, Formen, Aspekte der Materie auftritt.

Diese Sicht war und ist in gewissen Traditionen der jüdischchristlichen Lehre angelegt (ob sie die »wahren« Traditionen, also die von den Stiftern angelegten Traditionen waren, ist für unseren Ansatz unwesentlich). 

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In vergangenen Zeiten, das heißt vor der Neuzeit, waren Wissen und Technik allzu begrenzt, um die volle Ausfaltung der Herrschaft zu ermöglichen; ferner wirkten die Reste primitiver bzw. antiker Frömmigkeit, wie sie sich zum Beispiel im Katholizismus und in der östlichen Orthodoxie hielten, als Bremse auf solchen Fortschritt aus. Diese Bremse greift nicht mehr seit der Renaissance bzw. der Reformation.

Für die historische Praxis jedenfalls läßt sich feststellen: Wahrend von den Primitiven über die Antike bis ins Mittelalter hinein die Dichte, Würde und Komplexität der Materie (also dessen, was man einmal »Schöpfung« nannte) noch mehr oder weniger anerkannt war, während damals das Nichtmenschliche eher noch als Gegenstand der Meditation als der Aktion begriffen wurde, wird die Materie in den letzten dreihundert Jahren zusehends stärker instrumental empfunden. Sie ist heute nur mehr Depot und Werkzeugkammer, ihre Zweckbindung ist klar und ausschließlich. Auch der zweifelsfreie Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wurde und wird zunächst nur als ein Instrument gesehen und gewürdigt: als ein Instrument der ständig erweiterten und ständig brutaleren Herrschaft des Menschen über die nichtmenschliche Materie.

Der (relative und sehr kurzfristige) Erfolg dieses Materialismus hat uns bisher daran gehindert, seine grundsätzliche Inkonsequenz zu erkennen. Diese Inkonsequenz aber führte und führt zum ethischen wie zum faktischen Bankrott unseres inkonsequenten Materialismus. Ein historisches Beispiel soll uns die Einsicht in die Natur solchen Bankrotts erleichtern.

 

Das altrömische Recht definiert den Sklaven als instrumentum animatum, das heißt als beseeltes Werkzeug. Sämtliche Aspekte seines Menschseins, die außerhalb einer solchen Definition liegen, also nach unseren Begriffen die wesentlichen, die Grundeigenschaften des Menschen überhaupt, waren für das römische Recht nicht vorhanden. Eine solche Einstellung zum Sklaven wird erhärtet durch die älteste Vokabel für die >Abhängigen< im Lateinischen — sie heißen mancipium, Menschzeug, ein Neutrum — ohne Geschlecht, ohne Inviduation. (Es ist bezeichnend, daß in fast allen Religionen Spätroms, nicht nur im Christentum, dieses Instrumentalverhältnis nicht galt — kultisch waren die Sklaven gleichberechtigt.)

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Solches Menschzeug, unterhalb der juristisch anerkannten Definition des Menschseins, war sämtlichen Marktgesetzen vorbehaltlos unterworfen. Es ist überliefert, daß sich der Feldherr Lukullus, ein Pionier der Gastronomie, dazu entschloß, einige seiner Sklaven an Fische zu verfüttern. Dies war juristisch klar, lag innerhalb der Legalität. Die Billigkeit des verfügbaren Menschenmaterials machte solche Reduktion des mancipium auf den Nährwert rentabel. Natürlich dürfen wir annehmen, daß Lukullus wertvolleres Material, etwa vollwertige Arbeiter, nicht in den Muränenteich werfen ließ; und bei, sagen wir, griechischen Hausphilosophen oder leckeren Konkubinen wird das vollends unwahrscheinlich; schon deshalb, weil der Marktwert für Weisheit und Schönheit in der Antike etwas höher lag als bei Erbauern von modernen Altersheimen oder Sesselliften. Solche Unwahrscheinlichkeit beruhte aber niemals auf einer Anerkennung des Menschseins der Sklaven, sondern auf den einsichtigen Kalkulationen des Marktwertes.

Folgerichtig war der Sklavenaufstand des Spartakus eines der größten Schockerlebnisse des antiken Rom. Siebzigtausend Instrumente, siebzigtausend Einheiten Menschzeug entschlossen sich plötzlich zu einer eigenständigen Aktion, die nach römischem Recht völlig illegal, ja logisch undenkbar war.

Der Spartakus-Aufstand wurde niedergeschlagen — der Schock war überwunden. Trotzdem scheiterte das Imperium letzten Endes am Sklavenproblem; nicht an irgendwelchen Triumphen der Menschlichkeit, nicht an der philosophischen oder theologischen Unmöglichkeit der alten Definition sondern am Sklaven als Material, gewissermaßen am Nachschubproblem.

Aus den patriarchalischen Produktionsverhältnissen der römischen Republik entwickelten sich immer <rentablere>, das heißt immer großräumigere Wirtschaftsweisen mit Sklaven. Dies führte zu Sklavenplantagen und Sklavenfabriken. Sollten sie rentabel arbeiten, mußten die Sklaven kaserniert sein, und das erlaubte keine hinreichende natürliche Reproduktion. 

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Lieferanten für den Nachschub waren die Eroberer, die »Erschließer« neuer Provinzen, das heißt neuer Rohstoffvorkommen. Die imperiale römische Wirtschaft war demnach auf ständigen Verschleiß belebter Instrumente und auf ihre ständige Ergänzung durch Eroberung programmiert. Die letzten Kriege, etwa gegen die Daker, strebten schon gar keinen Territorialgewinn mehr an, sondern waren reine Sklavenjagden.

Aber selbst solche Sklavenjagden wurden allmählich unmöglich — die römische Verwaltungstechnik und vor allem der niedrige Stand des Transportwesens waren durch die Größe des Reiches ständig überanstrengt. Die Sklavenkriege wurden also eingestellt; der Preis, der finanzielle wie der gesellschaftliche, für den Rohstoff Mensch stieg, die Energiekrise wurde chronisch.

Nun lohnte sich eine neue, eine illegale Form der Sklavenjagd — lohnte sich ein Schwarzer Markt. Mafiaähnliche Banden lauerten an den Reichsstraßen auf Sklaventransporte, kidnappten die Ware und setzten sie auf Hehlermärkten ab. Die exponentiell wachsende Inflation auf diesen Märkten ist bekannt — der Schrumpfungsprozeß des Imperiums war im Gange und nicht mehr aufzuhalten.

Der Übergang vom Altertum zum frühen Mittelalter ist nicht zuletzt markiert durch einen technischen Fortschritt — einen »Durchbruch«, wenn man will, im Management des Rohstoffs. Das Feudalsystem verzichtet auf die kurzfristige hohe Rendite der Sklavenkaserne und geht zu einer längerfristigen Rentabilität über. Ihr Kennzeichen ist der Hörige, der inmitten seiner Familie und seines Wirkungskreises sitzt. Zwar ist er rechtlich fast so schutzlos wie der antike Sklave, aber es wird ihm die natürliche Reproduktion gestattet (in Grenzen, versteht sich). Sein Nutzen wird nicht mehr durch die Produktivität pro Arbeitsstunde bestimmt, sondern durch die dauerhafte Fruchtbarkeit, das heißt Investitionskraft seines Arbeitsbereichs — seiner Hube, seiner Halb-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-Hofstelle.

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Die neue Produktions- und Reproduktionsform entläßt wenigstens einen Aspekt seines Menschseins aus der reinen Werkzeugdefinition, emanzipiert ihn wenigstens in einem Punkt: Aus dem geschlechtlosen mancipium wird der männliche servus, ein bedeutsamer Kreis der wirtschaftlichen Reproduktion wird sinnvoller geschlossen, als dies im antiken Verschleißsystem der Fall war, und durch diesen Fortschritt wird Menschlichkeit freigesetzt. Zudem entfallt so die unmittelbare Ursache für den antiken Expansionismus. (Später, im frühen Hochmittelalter, wird allerdings der starre numerus clausus der Lehens- und Hofstellen zu einem neuen Imperialismus führen: dem der Kreuzzüge.)

Die Ausweitung der imperialen Räume in der Neuzeit hat die Wiederaufnahme des kurzfristig-rentablen Sklavensystems ermöglicht — bis in unsere Tage hinein. Wichtiger für uns ist jedoch die Tatsache, daß wir heute im Bereich der nichtmenschlichen Materie die Situation erleben, vor der das späte Rom stand: die Situation der spärlicher werdenden Ressourcen, die immer größere Schwierigkeit des Nachschubs.

Stoßen wir nicht allenthalben an die Grenzen des Wirtschaftsreichs? Frieren, schwitzen seine Stoßtrupps nicht heute schon im Unbewohnbaren, in der Antarktis, der Arktis, dem tobenden Nordmeer, den Sand wüsten der Arabia deserta, um uns den letzten, immer teurer werdenden Nachschub an dienstbarer Materie zu sichern? Führen wir auf unseren Äckern nicht einen immer wahnsinniger werdenden ABC-Krieg, um die paar dienstbaren Pflanzenarten, die wir haben, und die es ohne uns gar nicht gäbe, vor immer gefährlicheren Feinden zu schützen? Müssen wir uns nicht immer tiefer in die Eingeweide der Mutter bohren, um ihr die durch Jahrmilliarden gehorteten Metalle und Brennstoffe zu entreißen? Und müssen wir die Sonden der Ausbeutung nicht in die tiefste, die gefährlichste Mitte der Schöpfung, in die Kohäsion der Atome, treiben, um unsere Herrschaft in der bisherigen Form noch aufrechterhalten zu können?

Und dennoch: allenthalben sind wir eingekreist, allenthalben rückt die Wüste vor. Urwälder werden zu Laterit, allenthalben sinkt der Grundwasserspiegel, rinnen Bäche und Flüsse spärlicher, werden zu Kloaken und Giftrinnen. Allenthalben steigen die Folgelasten und mit ihnen die Investitionen — immer näher rückt der Punkt der Unkontrollierbarkeit der versklavten Materie: kein Aufstand, beileibe nicht, sondern eine kollektive indirekte Form von Selbstmord.

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Die Materie als solche funktioniert also nicht mehr. Was ist passiert? Entzieht sie sich uns einfach durch ihr Entschwinden, ihr Sterben? Verwest sie schon in unseren Kellern, erfüllt sie unsere Behausungen mit ihrem Verwesungsgift? Oder ist der gute alte Onkel Tom in die Wildnis geflohen, wetzt er dort das Haumesser, ein grauhaariger Mau-Mau?

Allenthalben drängt sich solcher Verdacht auf — und zwar nicht nur in unserem Jahrhundert. Der Verdacht ist, um das vorwegzunehmen, so alt wie das Zeitalter des Materialismus selbst. Friedrich Engels, der weiter als Marx in das vorgestoßen ist, was er »Dialektik der Natur« nennt, argumentiert für die autoritäre Führung von Wirtschaftsunternehmen, indem er sie mit einem sturmbedrängten Schiff vergleicht, auf dem zentrale und absolute Kommandogewalt gelten müsse — ein Vergleich, der nur dann sinnvoll ist, wenn Materie kein freundlicher Helfer, sondern eine elementare Bedrohung ist.

Aber der stärkste, das eindringlichste Bild des Verhältnisses von Mensch und Materie, welches das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, ist wieder dem Bereich der Sklavenwirtschaft entnommen, Herman Melville, der Autor des Moby Dick, hat dieses Bild in seine Novelle Benito Cereno gefaßt. 

Da besucht ein ahnungsloser Yankee-Kapitän ein spanisches Schiff, trifft darauf einen schwachen und kranken Kapitän, eben den Benito Cereno, der rührend von seinen schwarzen Sklaven umsorgt wird. Alles scheint in Ordnung — bis es dem Kapitän gelingt, ins Boot der Yankees zu entrinnen. Alles, so stellt sich nun heraus, ist völlig anders — alles war nur mehr Theater. Die profitable Sklavenfracht ist längst eine Rotte von Aufrührern geworden, der Kapitän ist ihr Gefangener, den sie brauchen, um den Kurs zu erstellen — den Kurs auf Befreiung. Und am Bug des Schiffes, den Augen des Besuchers verhüllt, prangt längst die neue, die entsetzliche Galionsfigur: das Skelett des Eigentümers. 

Es ist gleichermaßen Trophäe der Rache wie Wegweiser in eine unausweichliche Zukunft — in eine endgültige Bestimmung, der keines unserer Staatsschiffe entrinnen wird: das Nichts.

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Naturwissenschaftlich Geprägte werden solche Phantasmen vielleicht mit einem Achselzucken abtun, als Restbestände magischen Denkens. Sie sollten jedoch beherzigen, daß es in den letzten Jahrhunderten gerade die naturwissenschaftlich Gebildeten waren, welche solchen Alptraum der fortschrittlichem Menschheit vermittelt haben. Sie haben als erstes das Gefühl artikuliert, daß uns aus dem Haufen der Milchstraßen, aus der Wucht des Anorganischen, den unpersönlichen und mörderischen Gesetzen der Biologie das eigentliche Antlitz der Welt anstarrt. Und gerade dann, wenn sie literarisch am besten waren, haben sie dieses Gefühl vermittelt.

Kant, der tapfere und keineswegs kirchliche Aufklärer, mochte noch die Formel finden vom »gestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir« — aber schon hundert Jahre vor ihm hat ein frommer, an der Spitze der Forschung stehender Wissenschaftler namens Blaise Pascal das modernere Gefühl ausgedrückt, als er vom »Grauen der leeren Räume« sprach. Dieses Grauen, manchmal von hohlem Heroismus überklingelt, bleibt das Leitmotiv der naturwissenschaftlich determinierten Literatur bis in unsere Tage. Was aus H. G. Wells' Zukunftsromanen zuletzt wurde, wissen wir: die negative Utopie, welche heute die Science-fiction beherrscht. Bertrand Russell, einer der geistreichsten Wissenschaftler des Jahrhunderts, war gebannt von der »stummen Gleichgültigkeit der wahrhaft großen Dinge«. Den endgültigen Aspekt der Verzweiflung setzt der promovierte Arzt Gottfried Benn mit seinem Gedicht vom »Verlorenen Ich« — ein Gedicht, in dem jeglicher Sinn der Menschengeschichte im Schlund und den Kaidaunen der Weltbestie verschwindet.

Solcher Gefahr für die geistige kollektive Gesundheit setzt der Marxismus seinen wackeren, in sich widersprüchlichen Atheismus entgegen, der zwar einerseits das Dogma des leeren Himmels postuliert, andererseits aber unbeirrt an der Theologie eines erahnbaren, ja wissenschaftlich determinierbaren höheren Menschheitszieles festhält. Es ist unter Konservativen und Reaktionären viel darüber gerätselt worden, was eine »gottlose« Ideologie so attraktiv machen könne — hier haben wir, vielleicht, einen entscheidenden Grund.

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Atheistische Militanz, die den Himmel besenrein sauberhält, ist heute psychisch hilfreicher als jene immense, seit Jahrhunderten drohende Gefahr für unsere Zukunft und unser Selbstverständnis: die Gefahr eines wahnsinnigen Schöpfergottes.

Der bösartige Weltenschöpfer, der finstere Demiurg: Das war einst Besitzstand der sogenannten Gnosis, mit welcher die Urkirche zu kämpfen hatte, und er ist lebendig geblieben in vielen, immer wechselnden Formen des Manichäismus. Im sogenannten wissenschaftlichen Zeitalter taucht er fast gleichzeitig mit der Aufklärung wieder empor. Seine bekannteste künstlerische Verkörperung ist der Urizen des William Blake: ein finsterer langbärtiger Zirkelschläger, der auf abstrakte Konstruktionen und damit auf die Schaffung natürlicher Höllen sinnt.

Sämtliche christlichen und marxistischen Hoffnungstheologien der jüngsten Vergangenheit - alle mehr oder weniger hingeordnet auf ihren vornehmsten Kirchenvater Ernst Bloch - haben ihren methodisch schwachen Punkt nicht in der Auseinandersetzung mit der sozialen, also menschlich bedingten Ungerechtigkeit, sondern in der Notwendigkeit, dem wirklichen oder angenommenen Schöpfergott seine Existenz abzusprechen, ihn irgendwie abzulösen oder methodisch madig zu machen, weil die einzig mögliche Alternative dazu die Kriegserklärung wäre.

Klarer als die Theoretiker haben diesen Verdacht eines bösen oder wahnsinnigen Schöpfergottes die existentiell Betroffenen ausgesprochen. Früher einmal hätte man sie die Frommen genannt. Es gibt eine Briefstelle bei van Gogh, welche solchen Verdacht klar ausdrückt — einen Verdacht, um den seine grellen, bösartigen Sonnen der Spätzeit kreisen. Der deutsche katholische Autor Reinhold Schneider, weiß Gott ein Frommer, kämpft mit dieser gräßlichen Versuchung einen ganzen Winter in Wien lang (dies ist auch der Titel seines letzten Buches) — am erschütterndsten ist dabei wohl seine Beschreibung der Ausstellungsstücke des Naturwissenschaftlichen Museums, jener Welt der gräßlich-vitalen, auf Dauermord selbst in der Liebe programmierten Geschöpfe mit Mandibeln und Stielaugen, mit Reproduktionszyklen, welche das lebendige langsame Sterben von Wirtsarten bedingen.

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Es war übrigens in diesem Wien, wo das Gegenteil eines Frommen, der junge Müßiggänger Adolf Hitler, seine mit vulgär-darwinistischen Slogans vollgestopfte Kernbotschaft ausbrütet; jene Kernbotschaft, die er dann durch ein ganzes Leben, von den Gesprächen mit Dietrich Eckart über Mein Kampfbis zum Testament im Berliner Bunker festhalten sollte. Es ist die Botschaft von der »Natur als der grausamen Königin aller Weisheit« (Mein Kampf). Wir werden diese wahnwitzige, aber methodisch bestechende Quintessenz des Hitlerfaschismus noch eingehend besprechen müssen.

Wie gesagt: Für viele naturwissenschaftlich Geprägte mag dies alles Restbestand sein, Katzenjammer des menschheitsbegleitenden Animismus, den auch die Hochkulturen nicht ganz ausscheiden konnten. Aber was an seine Stelle zu setzeh ist, das wird entweder nicht ausgesprochen oder bringt seinerseits nicht mehr als den sinnlosen pseudo-Spenglerschen Heroismus der Schildwache von Pompeji hervor: ewige Schildwache des Bewußtseins am Rande der zufallsbestimmten Weltnacht.

Jeder Logik nach müßte der Jammer über das Ausgeliefertsein an eine gleichgültige Welt am stärksten bei jenen zu finden sein, die seit unvordenklicher Zeit den un- oder außermenschlichen Gesetzen der Welt ausgeliefert waren und sind: den sogenannten Primitiven.

Nun stecken diese Urkulturen (besser: archaischen Kulturen) in der Tat voll Angst und Grausamkeit. Aber bezeichnenderweise bezieht sich die Angst in der Regel nicht auf die umgebende Natur, sondern auf die Welt der Geister. Ihre potentielle Grausamkeit und Unberechenbarkeit aber resultiert aus der Angst vor Tod, Traum und Doppelgängerei — ist letzten Endes also ein menschliches, ein intraspezifisches Phänomen. Der Natur gegenüber, der nichtmenschlichen Welt, scheint die religiöse oder, wenn man will, die philosophische Grundstimmung des >Primitiven< von großer, poetischer Gelassenheit und Harmonie zu sein. 

Natürlich ist es nicht möglich, diese sehr kleinen Kulturen mit ihren vielfältigen Variationen untereinander über einen Kamm zu scheren; dennoch leistet in ihnen allen der Mythos oder, in der Sprache der Verhaltensforscher, das

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Corpus der jeweiligen legends, der animistischen Welt- und Verhaltensregeln, eine fast wunderbare, auf jeden Fall sehr leistungsfähige Bestimmung der Rolle des Menschen bzw. des Stammes in einer größtenteils nichtmenschlichen Welt.

Literarische Zeugnisse werden ausgerechnet jetzt (vor dem Sterben der letzten Kulturen) zunehmend verfügbar. So ist kürzlich in England unter dem Titel TheSacredPipe die Liturgie der Dakota-Indianer erschienen, wie sie der große Weise Schwarzer Hirsch einem weißen Freund mitgeteilt hat. Abgesehen von den herrlichen Einzelheiten dieser Riten, ihrer eigenständigen Poesie, fällt eine Grundstimmung auf, die sich radikal von dem des richtungs- und ratlosen Bewohners der leeren Räume unterscheidet. Die Grundstimmung ist dankbar, dankbar einfach dafür, daß in der bunten, vielfältigen, von den dichtesten materiellen und animistischen Bezügen erfüllten Welt überhaupt ein Platz, und zwar ein einsehbarer und würdiger Platz, für den Menschen und sein Bewußtsein vorgesehen ist.

Das stellt natürlich diese Archaischen genau wie uns (oder alle Religionen bzw. Philosophien) vor das Problem der Grausamkeit und des Schmerzes. Wir inkonsequenten Materialisten, Erben einer christlich-jüdischen Tradition, welche Schmerz und Leid als sündebedingten Skandal interpretiert, funktionieren dieses Problem nur allzuschnell in ein solches der Theodizee um: Eine Welt voll Leid (so verkürzt das Argument) spricht grundsätzlich gegen eine gütige Schöpfung oder, religiös gesprochen, gegen einen gütigen Gott.

Für die >Primitiven< stellt sich die Frage so gut wie gar nicht; und zwar von ihrer Theorie-Praxis her. Ein gutes Beispiel für solche Theorie-Praxis der >Wilden< ist der Bericht eines Weißen, der von einem alten Indianer erzogen wurde. Er schildert tagelange Märsche bei minimaler Rast und Verpflegung, die er, immer hinter seinem alten Lehrer her, im Trab bewältigen mußte. Trotz seiner guten Kondition erlaubte sich der Zwölf- bis Vierzehnjährige gelegentliches Jammern. Der Alte wandte sich darauf um und sagte unwillig lachend: »White man always think painpain — Weißer immer denken Schmerz Schmerz.«

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 Hier geht es nicht um größere (oder geringere) Durchtrainiertheit, sondern um eine grundsätzliche Einstellung. Sie ist auch an ihren Schattenseiten erkennbar — etwa der Leichtigkeit, mit der Fremd- und Eigenfolter als Sozialisierungsinstrumente eingesetzt wurden. Jammern ist letzten Endes immer Protest — Protest gegen einen Schmerz, den wir der Welt (oder unseren Göttern) als einen Zug von Grausamkeit übelnehmen. Für den Primitiven ist er Teil des normalen Lebens — ja, der normale Preis für ein sinnvolles Selbstverständnis.

Und das ist er in der Tat. Eine Kultur, die sich die Abschaffung von Leid und Schmerz zum Ziel setzt, ist logischerweise keine konsequent materialistische Kultur. (Wahrscheinlich wird sie überhaupt keine Kultur.) Eine solche müßte ja von jedem Anthropozentrismus absehen; müßte einsehen, daß Leid und Schmerz Signale sind, daß sie eine steuernde Funktion im lebendigen Gefüge der Arten haben; und sie müßte Leid und Schmerz in dieser Funktion anerkennen und ernst nehmen. Indem wir jedoch Leid und Schmerz nach wie vor, auch in einer postchristlichen Kultur, als theologisches Moment in den Materialismus hineintragen, übersehen wir, daß eine konsequent materialistische Kultur eben nicht anthropozentrisch sein kann. (Daß auch einer anthropozentrischen Kultur die Elimination von Leid und Schmerz nie gelingt, daß ihre mangelhafte Verarbeitung viel mehr nur zu ihrer imperialistischen Übertragung auf andere und damit zu ihrer Vervielfältigung führt, wird uns später noch beschäftigen müssen.)

Entscheidend ist, daß diese archaischen Kulturen, auf die der moderne Mensch nur allzu lange als auf eine Anhäufung abstruser Mythen und Praktiken herabsah, eben nicht anthropozentrisch waren. Sie verstanden den Menschen vielmehr als ein Wesen unter anderen, die alle durch komplizierte mythische und praktische Beziehungen untereinander verbunden sind. Selbstverständlich gibt es in und bei solchen Beziehungen Konflikte, die theoretisch oft gar nicht lösbar sind, die aber doch, mittels eines komplizierten magischen >Machiavellismus< gelöst werden:

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Der Baum ist unser Bruder. Aber wir brauchen ihn zum Bau unserer Hütten. Wir müssen ihn also fällen, das heißt töten. Wie lösen wir das Dilemma? Wir müssen ihn täuschen. Wir werden ihm etwa erzählen, daß wir ihn zu einer Hochzeit ins Dorf mitnehmen. (So handhaben es einige Stämme der Tropen.)

Der Bär ist unser Bruder. Aber es ist Winter, die Jagd ist schlecht, der Stamm braucht Nahrung. Wir werden den Bären natürlich töten, aber die Dakota-Großmutter wird sein riesiges Haupt mit Tränen der Reue umarmen und küssen.

Wir Mayajäger halten es anders. Über jedem Tier, das wir töten, durchbohren wir unsere Zunge oder unseren Penis und versprengen so das sühnende Opferblut auf den Toten.

Erlauben wir uns eine ironische Konfrontation. 

Stellen wir uns vor, man könnte einem solchen >Primitiven< ein extrem modernes europäisches Modell anbieten, wie es etwa der Jean-Paul Sartre von 1945 in seinem Werk L'Etre et le Neant vorstellte. In diesem Modell gibt es einerseits eine undurchdringliche Welt des Nicht-Menschlichen — ein en-soi, ein In-sich, welches opak, also undurchsichtig, uneinsichtig ist. Ihm steht ein immaterielles, letzten Endes >nichtendes< Bewußtsein, eben das menschliche Bewußtsein, gegenüber. Dieses ist ein pour-soi, also ein Für-sich, das nach freier, letzten Endes willkürlicher Absicht handelt. In solcher Absicht hackt es sich Stücke aus dem undurchdringlichen Material der Welt heraus, die es für seine Zwecke verwendet — und damit vernichtet.

Was hätte, sagen wir, Schwarzer Hirsch zu einem solchen Modell zu sagen? Vermutlich wäre er ob solch primitiver Armut der Auffassung zu Tränen des Mitleids bewegt. (Schwarzer Hirsch, Hebaka Sapa, war übrigens noch ein Zeitgenosse dieses frühen Sartre, er starb erst 1950.) Er hätte Jean-Paul vielleicht erklärt, daß Weiße Bisonkuh-Frau, die Stifterin der Dakota-Riten, unter einem Aspekt eine Büffelkuh, unter anderem Aspekt eine schöne junge Frau war oder vielmehr ist, und daß beide Aspekte letzten Endes ohnehin der Große Geist seien, genauso wie der herrlich-schreckliche Weiße Adler, der die südliche Weltgegend und die Pfade der Toten regiert. Was ist da undurchsichtig? Wo bleibt etwas übrig an Willkür für das nichtende pour-soi? Und wohin will es, dieses Für-sich, eigentlich das Leben der Welt verschwinden lassen, nachdem der Tod ohnehin nur das andere Ufer ist?

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Kurz, wo ist Platz und Begründung für den großen Katzenjammer, die Existenzialpose der Einsamkeit in leeren Räumen, angesichts einer rings von beziehungs­reichem Leben und Sterben erfüllten Welt?

Sehen wir von der mythischen Verkleidung ab, so kann man feststellen: Schwarzer Hirsch und seine frühgeschichtlichen Zeitgenossen haben wissenschaftlich in einem, und zwar im entscheidenden Punkt korrekter gedacht als wir, die modernen Materialisten. Sie haben ihr Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur auf einem egalitären, vielfältigen Netz von Beziehungen aufgebaut, in dem es — außer gegenüber dem Großen Geist — keine Über- und Unterordnung gibt, sondern wechselnde funktionale Abhängigkeiten, die höchstens durch die Vorläuferin der Technik, die Magie, in etwa beeinflußbar sind. Eine solche Beziehung entspricht durchaus den Erkenntnissen der Ökologie.

Sie wurde durch das dualistisch-imperialistische Sieges- und Überlegenheitsbewußtsein des modernen Menschen abgelöst. Daß diese Ablösung nicht abrupt, sondern in langen, das Bewußtsein allmählich vorbereitenden Übergängen erfolgte, ist das historische Spezifikum, wenn man will die Abnormität des Mittelalters. Über ein Jahrtausend lang blieb die europäische Menschheit, religiös längst auf den dualistischen Imperialismus vorbereitet, unter dem Zwang des materiellen Mangels und der dürftigen Technik. So ergab sich die Notwendigkeit einer neuen Interpretation der Dürftigkeit des Menschen, des Leidens in und an der Welt — eine Interpretation, die mit dem Anspruch des alttestamentlichen Herrschaftsauftrages in Einklang zu bringen war.

Diese Interpretation war eine christliche — wohlgemerkt nicht die christliche, sondern eine, die den Verhältnissen angemessen war. Grundsätzlich wurde der Herrschaft des Menschen kein theologisches Argument mehr entgegengesetzt (mit Ausnahme einer mystisch-franziskanischen Linie, die nicht zur Macht kam): Der Mensch war de jure Herrscher und König. 

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Aber innerhalb dieses bilateralen Vertrages zwischen Gott und Mensch, dieser Versöhnung von Schöpfung und Verheißung kam dem Leid, dem Schmerz, dem Mangel durchaus ein Sinn zu: Sie wurden zum Heilsinstrument, zu Agenten der Läuterung und der Prüfung. Als solche waren sie selbstverständlich nicht mehr eigenen Wertes, sondern waren auf das Kommende, das Heil im Jenseits ausgerichtet. Widrigkeiten auf dieser Erde verbessern das Gesamtkonto, über das erst jenseits des Grabes, und zwar individuell, abgerechnet wird.

Auch so entsteht Interpretation, entsteht ein sinnvolles Muster, leugnen wir es nicht. Es hat ungeheure Schätze an echter Frömmigkeit hervorgebracht. Leid, Schmerz, harte Arbeit sind kein Fluch unter solchem Vorzeichen, sondern besonders kostbare Fäden eines geheimnisreichen Teppichs, an dem wir alle weben und dessen Pracht erst am Jüngsten Tage offenbart wird. In solchem Muster spielt allerdings nichtmenschliche Materie keine eigenständige Rolle mehr, sie ist bereits reines Werkzeug, Heilsinstrument, Heilsrohstoff auch. WELT wird zur Kulisse, vor der das einzig entscheidene Drama, das Drama zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer, abläuft.

Nun liegt die Widersprüchlichkeit, die schließlich zum Ende dieser möglichen Interpretation (und damit zum Ende des Waffenstillstandes zwischen Mensch und Welt) führen mußte, klar zutage. Denn in der Heiligung jeglicher Mühsal, die aus solchem Muster hervorgeht, wohnt ja auch schon, wie der Schmetterling in der Puppe, die Heiligung der Arbeit selbst, auch jener Arbeit, die auf Aufhebung der Mühsal ausgerichtet ist. Selbst wenn die ursprüngliche (fromme) Intention der Arbeit nicht auf Verbesserung des Weltzustandes gerichtet ist: durch ihre Heiligung selbst entsteht ein Qualitätsanspruch, der zielnotwendig auf die Beendigung der alten Abhängigkeit zuläuft.

 

Erst mit dem Ende der Interpretation des Mangels als Schickung und Prüfung kommt die Herrschaft des Menschen über die Materie, der materielle Imperialismus des Industriesystems, auf den Begriff. Damit wird eine neue theologische Disziplin notwetidig: die Politische Ökonomie. Sie ist nun beauftragt, die immanenten Gefahren des Systems, seine Widersprüche zu kaschieren und scholastisch zu überbrücken. Sie wird, genau wie im Mittelalter die Theologie, zur exakten Wissenschaft ernannt.

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Sie war es nie und wird es nie werden. Aber im klirrenden Kampf zwischen Physiokraten und Merkantilisten, zwischen Protektionisten und Freihändlern, zwischen Kapitalisten und Sozialisten wurde die Leistung erbracht, die jedes noologische, das heißt jedes Erkenntnissystem erbringen muß, wenn es selbst am Leben bleiben will: die Leistung (oder die Illusion der Leistung) einer Welterklärung, welche ihren nach wie vor miserablen Zustand wenigstens zusammenhängend interpretiert. Politische Ökonomie schreibt so Geschichte: Geschichte als ein zusammenhängendes, deutbares Corpus von Erfahrungen, die in sich zusammenstimmen — oder doch zu stimmen scheinen.

Heute ist auch diese Pseudotheologie an ihr Ende gelangt. Unter ihrem dünner werdenden Firnis wird eine neue, eine ganz andere Sorte von Geschichte sichtbar — die Geschichte einer Welt, die nicht nur von Menschen bewohnt wird und nicht nur für den Menschen da ist. Und das Bewußtsein des Menschen, nach wie vor besetzt von veralteten, also parasitären Erklärungsmustern, muß diese neue Geschichte so oder so — unter kapitalistischen oder sozialistischen, konservativem oder progressistischen Vorzeichen — zur Kenntnis nehmen.

Diese wahre Geschichte ist die Geschichte des Zusammenbruchs des Industriesystems, also des Systems der Sklaverei der belebten und unbelebten Materie. Nichts vermag diesen Zusammenbruch aufzuhalten; jeder <Revisionismus> oder <Reformismus> vermag ihn höchstens zu beschleunigen.

Die wahre Geschichte schickt laufend ihre Nachrichten. Sie werden natürlich heruntergespielt; wenn aus keinem anderen Grund, dann deshalb, weil die Interpreten unseres Geschicks, die Publizistik und Journalistik, aber auch die artikulierteren Politiker, nach wie vor in den alten Erklärungsgittern festhängen. Wenn Sie, verehrter Leser, auf Fernseh- und Zeitungsschlagzeilen horchen, werden Sie deshalb nicht allzuviel von der wahren Geschichte mitbekommen. Da ist aufgeregt von Anhebungen der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um drei Prozent die Rede, von Währungskonferenzen, vom Gezerre linker und rechter Fraktionen. Da dürfen Sie den markigen Worten zur Lage lauschen, die unter Prinz-Heinrich-Mützen, Trachtenhüten oder Astrachanpelzkappen hervordringen. 

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Da werden Sie grinsende Herren beobachten, die zwecks Klärung oder Verwirrung gänzlich drittrangiger Fragen Gangways hinauf- oder hinabklettern. Nehmen Sie das ruhig alles zur Kenntnis. Aber seien Sie sich auch in jedem Moment klar darüber, daß dies nur das Oberflächenspiel und der Oberflächenlärm über der wahren Geschichte unserer Tage ist: einer Geschichte, die in die unvermeidliche Zukunft führt.

Die wahren Nachrichten beruhen auf handgreiflichen und materiellen Daten. So ist, zum Beispiel, die Nachricht nicht unterdrückbar, daß in weiten Teilen unserer Industrielandschaft die Milch in den Brüsten der Mütter vergiftet ist. Für Primitive — oder auch noch für mittelalterliche Bauern — wäre dies ein Grund gewesen, ihre Obrigkeiten zu erschlagen. Der moderne Industrieuntertan ist vorläufig noch geduldig und töricht genug, sie als kleinen Gegenstand im gesundheitspolitischen Teil auf Seite acht zur Kenntnis zu nehmen. Aber immerhin: Als Nachricht aus der wahren Geschichte ist sie vorhanden.

Eine andere solche Nachricht ist auch die Kunde von den Vorgängen in Wyhl (und, hoffentlich, bald anderswo, wo Kernkraftwerke gebaut werden sollen). Dort werden unberechenbare <Großvorhaben> wenigstens zeitweise von uralten Berufsständen verhindert: von Bauern, Winzern, Fischern, welche um ihre Enkel und ihre Ernten fürchten. Diese Befürchtungen sind (was immer die Einzelgutachten sagen mögen) materiell korrekt; das ihnen entgegengeschleuderte Argument vom <Gemeinwohl> ist es nachweislich nicht; es ist Pseudodogma, schlechte ökonomische Theologie. Und zu dieser wahren Nachricht gehört auch die zusätzliche Information, daß von allerhöchster Stelle ein Millionenbetrag dafür ausgegeben wurde, um herauszufinden, wie man diesen Widerstand desorientieren, spalten, zerlegen kann.

Eine weitere wichtige Nachricht betrifft die Abholzung tropischer Regenwälder (unter anderem zu dem Zweck, deutschen Chefärzten ein standesgemäßes Masanderparkett zu garantieren).

Eine andere ist die Kunde, daß nicht nur die Palette der Säugetierarten, sondern auch der Insektenarten ständig und alarmierend verarmt.

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Die relative Bedeutung (oder Nicht-Bedeutung) von solchen Nachrichten im täglichen oder wöchentlichen Publicitybetrieb ist in sich eine wahre Nachricht: die Nachricht über den Bankrott eines Interpretationssystems, das an den tatsächlichen Ernst unserer Lage überhaupt nicht mehr herankommt. Der Bankrott aber dieses Systems ist kausal aufs engste verbunden mit dem Bankrott der Politischen Ökonomie.

 

Nun ist natürlich eine Politische Ökonomie vorstellbar, welche ein bisher vernachlässigtes Prinzip in ihre Erwägungen einbezieht: das Prinzip der Dauer. Unter diesem Prinzip würden sich in der Tat die kurzatmigen Lösungen und Scheinlösungen, die uns laufend vorgeschlagen werden, als reine Illusionen entlarven. Aber selbst eine solche politische Ökonomie würde den Grundwiderspruch unserer Epoche nicht auflösen können: den Widerspruch zwischen einem anthropozentrischen Herrschaftssystem und den tatsächlichen planetarischen Gegebenheiten. 

Was wir benötigen, ist eine Leitwissenschaft, welche von vornherein diesem Anthropozentrismus widerspricht, die ihn abbaut und vernichtet, die ihn als Interpretament nicht mehr zuläßt. Wir brauchen eine Leitwissenschaft, welche den Menschen und die menschliche Gesellschaft fest und nachweisbar in das tatsächliche Netz planetarischer Beziehungen einbaut, die nur zum allergeringsten Teil intraspezifische, das heißt Beziehungen zwischen Menschen oder Menschengruppe» sind. Nur eine solche Wissenschaft wäre imstande, das Grundübel unseres Selbstverständnisses von heute zu beheben: den Mangel an Kriterien für eine Emanzipation der belebten und der unbelebten Materie. Verfügen wir nicht über solche Kriterien und zwar bald —, wird in Zukunft auch jeder Humanismus unmöglich sein.

An diesem Punkt ist eine Warnung nötig. 

Ökologische Schriftsteller wie Gordon R. Taylor, Harvey Wheeler, Alfred Goldsmith und andere sind zu dem Schluß gekommen, daß nur die Rückkehr zu <para-primitiven>, jedenfalls vorchristlichen Verhältnissen die Rettung bringen könnte. Vor einer solchen Lösung ist zu warnen; und wenn aus keinem anderen Grund als dem, daß sie unmöglich ist.

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Der Sprung des Erkenntnisvermögens, den griechische Philosophie, Altes und Neues Testament, Renaissance und Humanismus bezeugen, ist nicht widerrufbar. Pan ist tot, und keine noch so subtile Theologie (es gibt sie noch nicht sehr subtil...) kann ihn zum Leben erwecken. Im Gegenteil: Eine solche Primitivtheologie würde das nötige Umdenken nur verzögern. Die animistische Theologie, auch die von so verehrungswürdigen Gestalten wie Schwarzer Hirsch, ist letzten Endes anthropomorph, das heißt, sie schreibt der Materie menschliche Verhaltensweisen zu, unter anderem die Möglichkeit, auf magische und mythische Ansprache zu reagieren. Damit aber (wie etwa mit dem Blutopfer des Maya-Jägers) sind in unserer Lage die Probleme nicht mehr lösbar. Es muß im Gegenteil befürchtet werden, daß uns der >Ausweg< der magischen Beschwörung, der Beschwichtigungsgeste gegenüber irgendwelchen, meist nur dumpf gefühlten jenseitigen Instanzen, noch immer viel näherliegt, als dies für uns alle gut ist.

Betrachten wir doch nur einmal die Rituale, zu denen sich unsere Gesellschaft durch die ökologische Krise genötigt glaubt! Da Blut als magisches Vehikel längst durch das Geld abgelöst wurde, tritt an die Stelle des durchbohrten Gliedes die Bar- oder Scheckzahlung. Man stiftet eine Bank für den Verschönerungsverein (Magie noch des 19. Jahrhunderts); man richtet ernsthafte Akademietagungen aus, man begrünt Fabrikhalden oder Braunkohlenwüsten, man bringt Inserate mit schönen Wolkenbildungen über klaren Seen, ja man gründet vielleicht sogar ein Umweltministerium. All das sind — steinzeitlich gesprochen — magische Handlungen; mittelalterlich gesprochen: Formen des Ökologie-Ablaßhandels. Man rechnet in vorreformatorischer Naivität immer noch damit, daß irgendwo eine geheime Gnadenbank dergleichen Gratisgaben als Abschlags- oder doch wenigstens Zinszahlung für unsere mörderischen Verbrechen an der Materie akzeptiert und verrechnet.

Man erfindet dann, wie etwa der bayrische Umweltminister Streibl, ein so gekonntes kleines Stoßgebet wie die Formel »Umweltschutz für den Menschen«, die so hübsch wie falsch ist; man verbietet Grillroste im Freien und richtet Trimmdich-Pfade ein, um dann reinen — oder doch reineren — Herzens zur Absegnung von neuen gigantomanischen Kernkraftwerksplanungen schreiten zu können.

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Nein, der Anthropomorphismus einer animistischen Theologie, der für den Schwarzen Hirsch und die Seinen noch durchaus die erforderliche gesellschaftliche Leistung erbrachte, wird sie in einem nachchristlichen Zeitalter sicher nicht mehr erbringen. Wir brauchen vielmehr eine neue wissenschaftliche Sicht, welche den Materialismus nicht abschafft (soweit dies überhaupt noch möglich wäre!), sondern ihn vom Kopfstand seiner Inkonsequenz auf die Füße stellt.

Diese Wissenschaft muß von der methodischen Gleichrangigkeit alles Belebten ausgehen — aber einer Gleichrangigkeit, die weder Hierarchien noch Egalitäten metaphysischer Herkunft zur Prämisse erhebt. Diese Wissenschaft müßte in vielen und vielfältigen Abhängigkeiten denken und forschen, Abhängigkeiten, in denen der Mensch ebenso lebt wie alle übrige Materie, und in der er kein Privileg voraus hat. Sie müßte die vielfältigen Rückwirkungen, die netzartigen Verknüpfungen jeder Art mit allen anderen Arten, jeder Materie mit jeder anderen demonstrieren und definieren können.

Gibt es einen solchen wissenschaftlichen Ansatz?
Es gibt ihn.
Es ist die Ökologie.

Man wird demnach einen Materialismus, der sich mit Hilfe der Ökologie neu, das heißt konsequent zu orientieren versucht, einen ökologischen Materialismus nennen. Die Zeit für ihn ist, reif, die Evidenz liegt in Fülle vor. Vor diese Evidenz stellen wir noch immer einige dürftige Wandschirme unserer human-chauvinistischen Eitelkeit. Es ist höchste Zeit, sie wegzureißen, das heißt wirklich wissenschaftlich zu werden.

Wird die Ökologie imstande sein, dieser Forderung nachzukommen? Natürlich wird sie nicht alle unsere Probleme lösen oder auch nur Lösungsansätze aufzeigen können. Ökologie wird auf politische Hilfe angewiesen sein; auf die Durchsetzung der Forderungen, die sich aus ihren Erkenntnissen ergeben.

Aber auch ein geschlossenes Forderungssystem, eine Systematik der ökologischen Parteilichkeit wird es noch lange nicht geben. Das oberste Kennzeichen ökologischer Tatbestände ist ihre Vielfalt. Fest steht: Sie definiert schon heute den Platz des Menschen in der Welt korrekt, der alte Materialismus tat dies nicht. Und sie ist bereits seit geraumer Zeit der sinnvollste, >materialistischste< Ansatz zur Kritik des Industriesystems überhaupt.

Die beiden nächsten Fragen also lauten: Wie läßt sich der ökologische Ansatz für unsere Zwecke näher beschreiben? Und wie nimmt sich, vor solchem Ansatz, die gesellschaftlichpolitisch-wirtschaftliche Praxis unseres inkonsequenten Materialismus, nämlich unser Industriesystem, aus?

Um beides, um Definition und Kritik, wird es folgerichtig in den beiden nächsten Kapiteln gehen.

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