1. Ökologischer Materialismus       Start    Weiter

    Der ökologische Ansatz  

 

 

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Die Ökologie ist eine höchst konkrete und höchst nüchterne Wissenschaft. Sie entstand aus einem zwingender werdenden Bedürfnis der biologischen Wissenschaften, zu einer Betrachtungsweise zu kommen, welche die Pflanzen- und Tierarten in aktiver und passiver Beziehung untereinander und zu ihrer natürlichen Umwelt sieht.

Daran ist auf den ersten Blick so wenig Aufregendes, daß man sich fast wundem kann, warum diese Methode so lange, bis in die Mitte des 20. Jahr­hunderts hinein, auf sich warten ließ. Die Gründe für solche Verzögerung sind methodischer und materieller Art; es seien hier nur einige genannt:

 1. Die erste und wichtigste Methode der biologischen Wissenschaften (zumindest in Europa) war die Klassifikation. Sie allein vermochte aus dem Nebel der Aristoteles-Zitate und der Bauernweisheiten heraus­zuführen. Klassifikation aber bedeutet methodisch immer zugleich Isolierung. Eine Art muß isoliert werden, eine Gattung, ein Exemplar. Seine Eigenschaften müssen isoliert werden, und zwar, wenn möglich, nach numerischen Gesichtspunkten (siehe die Unterscheidungen nach Zahlen im Linneschen Pflanzensystem). Mochten so die zünftige Botanik und die zünftige Zoologie auch zu >exakten< Wissenschaften werden: Der Weg dahin führt sie zunächst von den ganzheitlichen Erfordernissen der Ökologie weg.

2. Zwischen dem klassischen klassifikatorischen Studium der Phänomene und der Ökologie mußte noch der genetische Ansatz kommen — ein Ansatz, der die Biologie wenigstens potentiell zur hard science, also zur mathematisch arbeitenden Naturwissenschaft machen konnte. Erst mit dem genetischen Ansatz wurde die typisch materialistische Forschungsweise ermöglicht: die Versuchsreihe im Laboratorium. Die klassische drosophila, die Taufliege, wurde mit ihren Chromosomen sozusagen zum x der endlosen genetischen Gleichungen und Gleichungsreihen, die erforderlich waren.

3. Der ökologische Ansatz, der aus dem Labor wieder ins Freie führt, benötigt noch viel größere Mengen an Material und Daten. Er machte wieder eine Reorganisation des biologischen Wissenschaftsbetriebs notwendig. Ohne Instituts —, ohne Teamarbeit war sie ohnehin nicht möglich — und vergessen wir nicht, daß solche Institutsarbeit auch in allen anderen Wissenschaftszweigen verhältnismäßig spät einsetzte!

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Neben diesen nüchternen Gründen gab und gibt es allerdings noch viele Sperren individual- und sozialpsychischer Natur gegen die neue Wissenschaft. Über sie wird noch oft gesprochen werden müssen.

Die Pioniere der Ökologie waren, wie alle anderen Naturwissenschaftler auch, auf die klassische Methode der Reduktion, der möglichst behutsamen Verkleinerung des studierten Problems angewiesen. Kleinstmögliche Einheiten, überschaubare Lebensgemeinschaften, wurden Biotope genannt. So ein Biotop kann ein Teich sein, ein Moorfleck, ein isoliertes Waldstück. 

Es ist natürlich nie völlig von der Außenwelt abgeschlossen, aber erlaubt dennoch das, was unbedingt zur Naturwissenschaft gehört: die Quantifizierung. Ohne sie ist es nicht möglich, Gesetzlichkeiten aufzustellen (besser: auszuweisen). Seit neuestem gibt es die Chance, große Datenmengen von EDV-Anlagen aufarbeiten zu lassen — eine Aufarbeitung, die schließlich zum endgültigen Resultat führen kann und muß (oder müßte): zur mathematisch-funktionellen Formel, die verifizierbar durch jede beobachtete Praxis ist.

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Damit kommen auch andere Formen der Ökozönose, die größer sind als Biotope, als Forschungsgegenstand in Betracht. Man kann etwa über längere Zeiträume ein so ausgedehntes Habitat, das heißt eine Lebenswohnstätte, wie die Staustufen des unteren Inntals beobachten und dort die Quantifizierung von zehn Wasservogelarten vornehmen — eine Quantifizierung, die schließlich die Aufstellung der bereits genannten funktionellen Formeln erlaubt.

Gibt es eine Wissenschaft, die von ihrem unschuldigen Ansatz her weniger geeignet erscheint, die Welt mit Aufregung zu erfüllen? Diese jungen Männer und Frauen im Lumberjack, die ihre Haubentaucher zählen, die Fluktuationen, Rezessionsgrade, gegenseitige Abhängigkeiten ihrer Populationen ermitteln, die Teichwasser in etikettierte Behälter abfüllen oder trickreiche Zählfallen für in Freiheit lebende Präriemäuse erfinden: sie gleichen so ganz und gar nicht jenen Exilierten, die in Zürich, Wien und München bei Tee und Heringen den Umsturz einer Welt vorbereiteten. (Lenin -d-2014:)

Und dennoch: Plötzlich überschreiten die Mäusezähler eine Grenze, die Grenze zu den Humanwissenschaften. Plötzlich sind sie mitten in der Soziologie, in der Wirtschaftswissenschaft, in der Politologie — kurz, sie sind mitten in der Kontroverse.

Selbstverständlich wird solche Grenzüberschreitung zunächst einmal als unwissenschaftlich gebrandmarkt. Daran ist nichts Neues, das stieß noch immer denen zu, die ihrerseits in markierte Reviere älterer Disziplinen vorstoßen. Es wäre ja höchst sonderbar, wenn es ausgerechnet auf akademischem Gebiet solches gemeinsames Erbgut alter Platzhirsche nicht gäbe. Unter den alten Platzhirschen selbst mochte man sich rempeln um Grenzfragen, sagen wir zwischen Zeitgeschichte und Politologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Volkswirtschaft — aber da war und ist man wenigstens unter gleichrangigen Rivalen.

Wie ganz anders wird das, wenn plötzlich aus Wald und Moor eine Wissenschaft daherkommt, die alte und neuere Humandisziplinen auf Daten- und Problemzulieferung zu reduzieren droht! 

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So mochte Gelehrten des Spätmittelalters zumute sein, als die Männer mit den Fernrohren plötzlich die Planetenkunde aus der Theologie entfernten, als das alte, bequeme Axiom vom horror vacui ins Wanken kam, als alles Mystische auf leisen Sohlen aus der Alchimie entschwand und sie als öde Chemie zurückließ.

Solche Herausforderung ergeht natürlich an alle Verwalter der alten Disziplin — ob sie sich nun als Linke oder als Rechte fühlen. Mein Kollege Hans Magnus Enzensberger ist einer der einsichtigsten marxistischen Behandler des ökologischen Problems; aber gerade deshalb läßt der gereizte Ton aufhorchen, den er (in seinem Marksteine setzenden Kursbuch 33) gegen den Anspruch der Humanökologie, der Politischen Ökologie anschlägt. 

Er wirft ihr eben diese Grenzüberschreitung, diesen Bruch der Methode vor — obwohl er ihn auf den folgenden Seiten seines Aufsatzes laufend zurücknehmen und die Gültigkeit der ökologischen Warnungen anerkennen muß. Und natürlich hat er, wie er glaubt, für seinen Vorwurf einen guten Grund: den bürgerlichen Ideologie­verdacht, den man von marxistischer Seite jeder <objektiven> Wissenschaft entgegenbringt.

In der Tat gibt es bürgerliche Grenzüberschreitungen von seiten bürgerlicher Ideologen und Ökologen; es wäre sonderbar, wenn es sie nicht gäbe. 

Wer das westliche Privateigentum mit den Stampfplätzen der Gnus, die christliche Einehe mit den Paarungsgewohnheiten der Graugans, den Mangel an innerbetrieblicher Demokratie mit irgendwelchen Pavianhierarchien rechtfertigt, tut den von ihm vertretenen Naturwissenschaften keinen Gefallen.

Dennoch liegt hinter der linken (wie der rechten) Gereiztheit gegen die politischen Ansprüche der Ökologie selbst eine Grenzüberschreitung — nämlich das Festhalten an Glaubensprämissen gegenüber einer durchaus seriösen wissenschaftlichen Methode.

Diese Glaubensprämissen prägen das Denken der Befallenen um so stärker, je weniger sie einer konsequenten materialistischen Kritik standhalten. Sie lassen sich verhältnismäßig leicht beschreiben; alle führen sie zurück auf eine Grundüberzeugung: die Überzeugung von dem ungeheuren Abgrund, der die nichtmenschliche Welt von der Welt des Menschen und damit einer Welt mit und für den Menschen trennt.

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Letzten Endes ist dieser Glaube nichts anderes als die atheistische Verinnerlichung einer jüdäisch-christlichen Tradition, wie sie sich im Schöpfungsbericht konkretisiert hat.

Die Tradition hat alles überlebt — einschließlich Darwin, Marx und Freud. Die Pioniere des Materialismus waren einst hochgeschätzte Bundesgenossen im Kampf gegen »Metaphysik« und »Idealismus« — aber alle wurden mehr oder weniger rasch, mehr oder weniger gründlich in die neue Menschheitstheologie des progressiven Atheismus integriert.

Besonders auffällig ist dies im Falle Darwins. Als er im 19. Jahrhundert auftrat, schien die Sonne endgültig unterzugehen — die Sonne eines möglichen optimistischen Lichtes der Menschheit. Sie stammt vom Affen ab — in diesem dürren Befund erschöpfte sich plötzlich die Auskunft der Weisen über den Menschen.

Unversehens, und ohne daß klare Argumente für den Umschwung erkennbar wurden, drehte sich der Wind. Aus der grimmigen Auskunft über den mörderischen Pavian, den australopithecinen Killer mit den flachen Augenwülsten und den baumelnden Armen, erwuchs eine Prophetie und eine Prognostik, strahlender als die, welche seinerzeit die Kirche verkündet hatte.

Der Mechanismus war absurd, aber nicht ohne absurde Logik.

Während der Glaube ziemlich vorsichtig von einem vorzeitigen und zukünftigen Paradies sprach, zwischen denen sich ein offensichtlich gebrochener, nicht im Vollbesitz seiner Möglichkeiten befindlicher Mensch mehr schlecht als recht durchzubringen hat, ein Mensch, der letzten Endes immer auf das Wohlwollen eines Schöpfergottes angewiesen ist — dreht der optimistische Darwinismus des 20. Jahrhunderts die Argumentationsrichtung glatt um. Zwar hat es nie einen Gott gegeben, dessen Verheißungen uns zu Größerem bestimmen — dafür aber hat die Entwicklung und Ausfaltung der Art von jenem Frankenstein-Monstrum zum Homo sapiens geführt. 

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Und angesichts von Schutzimpfungen, Schnellfeuerkanonen, Mondlandungen und Akademiesitzungen besteht kein vernünftiger Zweifel mehr daran, daß diese Evolution immerdar nach aufwärts gerichtet ist: per australopithecos ad astra. An die Stelle einer zögernden, zielgerichteten Verheißung tritt ganz einfach eine verheißende Zielgerichtetheit.

Wie aus dem durchschnittlichen Menschheitspathos des (wissenschaftlich-atheistischen...) Marxismus erhellt, hat er sich diese mittelpunktlose Prophetie des Humanchauvinismus voll zu eigen gemacht. Ja, er treibt sie noch einen Schritt weiter.

 

Der darwinistische Ansatz enthält ja die Möglichkeit, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit, daß der Mensch, so wie er ist, keineswegs die Krone der Schöpfung, das Ziel der Entwicklung darstellen muß. Er ist kein aufregend vollkommenes Wesen —, wie jeder Mensch über vierzig beim Blick in den Spiegel — oder beim Blick auf eine beliebige Hauskatze feststellen kann. Die Schlampereien im Bau des Auges, der Prostata, die mehr als dürftigen Verbindungen vom alten limbisch-kortikalen Urbestand des Hirns zum Großhirn, der Widerstreit zwischen den genetischen Instinkten und den offenbaren Notwendigkeiten der menschlichen Sozialität — da wäre überall noch reichlich Platz für Verbesserungen. Die Mutation vom Homo insipiens oder Homo demens, der wir zweifellos noch sind, zum Sapiens et Perfectus wäre darwinistisch mehr als überfällig, wenn man die wachsenden Gefahren für das Überleben unserer, insgesamt vielleicht doch ganz liebenswürdigen, Spezies denkt.

Nun diese darwinistische Implikation wird vom Marxismus energisch, ja leidenschaftlich zurückgewiesen. Für die marxistische Anthropologie ist der Mensch so, wie er ist, der Abschluß der biologischen Evolution: das ZK blickt ihn an und, siehe, er ist sehr gut.

Zwar wird die Evolution weitergehen — aber nicht mehr biologisch wird sie sein, sondern gesellschaftlich. Ihre Wirkkraft hat sich, mit Vollendung des Menschen, so wie er ist, aus dem Bereich der Natur in den Bereich der Gesellschaft verlagert. Keine neuen, tastenden Mutationen fügt nun die Natur dem Genpool zu — dafür aber wachsen und quellen neue, immer perfektere Formen des Zusammenlebens, werden zu Überarten, die sich selbständig in Ökosystemen von menschlichen Gehirnen, in körperlosen Zeugungen und Empfingnissen zwischen Komitees und Büros, zwischen Kollektivwirtschaften und Planungszentralen reproduzieren und regenerieren.

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So, und nur so, ist die marxistische Parole zu verstehen, daß die >Geschichte des Menschen< jetzt erst beginne, ja beginnen könne. Auf den ersten Blick muß der Anspruch der neuen, der befreiten Zeit, zugleich Paradies und Geschichte sein zu wollen, abstrus erscheinen: Vollkommenheit ist allemal das Ende der Geschichte, die ja (nach eigener marxistischer Auskunft) immerdar dialektisch ist. Aber wenn man davon ausgeht, daß der zu Ende evolvierte Mensch, die unveränderliche biologische Gattung, nun erst an ihre eigentliche Aufgabe schreiten kann — nämlich die Erzeugung von supermenschlichen Konglomeraten in einer kollektiven Evolution —, dann, von solcher Sinngebung her, beginnt tatsächlich erst jetzt das, wofür die genetische Evolution des Individuums nur ein Vorspiel war.

Aber beenden wir unseren Trip auf der gräßlichen evolutiven Geisterbahn der marxistischen Orthodoxie. Nehmen wir die Feststellung wieder auf, daß beide Versionen des optimistischen Darwinismus — die individualistische und die sozialistische — auf ihre Weise gleich stark an der Zurückweisung des humän-ökologischen Anspruchs interessiert sein müssen. Aber liegt wirklich eine Grenzüberschreitung vor? Der Frage muß man sich ernsthaft stellen.

 

Gehen wir, um überhaupt auf sie antworten zu können, von den Grundlagen der Humanökologie aus, die sich etwa so zusammenfassen lassen:

Der materielle Mensch, das heißt der Mensch als Materie, ist nicht Besitzer oder Herrscher auf unserem Planeten. Er ist noch nicht einmal Mieter. Er ist, wie alle übrigen Arten, Squatter; das heißt, er läßt sich nieder und hofft darauf, daß niemand anders einen besseren Besitztitel vorzuweisen oder auch nur einen dickeren Knüppel hat als er. Er nimmt also keineswegs einen privilegierten Platz ein. Sein einziges, meist höchst zweifelhaft praktiziertes Privileg besteht darin, als >überorganischer Faktor< auf die ihn umgebende Natur einzuwirken. 

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Dieser überorganische Faktor, in dem sich alle Himmel und Höllen auch der Metaphysik subsumieren lassen (jedenfalls, soweit sie die Ökologie betreffen), wird meistens ganz und gar unterorganisch eingesetzt — das heißt als blinder biologistischer Anspruch, die Art auf Kosten jeder anderen Art und jeder anderen Materie durchzubringen und auszubreiten, und als blinder religiöser Berechtigungsanspruch auf solche Praxis.

Aber auch wenn der Mensch seine <überorganischen Potenzen> so einsetzt; wenn er grundlegende Zusammenhänge zerstört, Lebensketten zerreißt, Raubbau an der Natur und ihren Ressourcen treibt, bleibt er als materieller Mensch den Grundgesetzen der organischen und anorganischen Kreisläufe unterworfen — vor allem dem Grundgesetz von der Erhaltung der Materie und der Energie.

In solchem Zusammenhang gibt es keine Privilegien oder Hierarchien. In solchem Zusammenhang ist der Mensch, wenn man ihn klassifiziert, ein top-top-top predator — ein Raubtier dritter (oder vierter) ökologischer Ordnung. Solche höheren Raubtiere werden wie alle anderen Wesen ständig in den Energie- und Stoffwechselprozeß der Natur zurückgeführt — und in diesem Prozeß spielen sie, verglichen etwa mit der Welt der Bodenbakterien, eine eher bescheidene Rolle. Die Müllmänner oder die Sanitätspolizei der Natur sind solche Raubtiere wie Menschen oder Hyänen — die echten Produzenten, das sind die Humuserzeuger in Allianz mit den Regenwürmern.

Ausbeutung war von jeher ein Prinzip von Flora und Fauna; aber diese Ausbeutung blockierte sich selbst, wenn sie über den Punkt des ökologischen Gleichgewichts hinausgeführt würde. Angeblich hat es, in grauer Weltvorzeit, einmal eine Art gegeben, der dies gelungen ist — eine Blaualgenart. Der Sauerstoff, den wir einatmen — ja, der Sauerstoff, der die Grundlage unserer Existenz bildet, ist nach dieser Theorie nichts als das Ausscheidungsprodukt jener Art, die sozusagen in den eigenen Exkrementen erstickte. Nach diesen Blaualgen wäre Homo sapiens die zweite Art, die ein solches Privileg für sich beansprucht.

Dies würde natürlich zur Reduktion, zur radikalen Vereinfachung und schließlichen Vernichtung aller anderen Lebensformen führen, ehe der Mensch seinen Triumph vollenden würde. 

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Mit anderen Worten: Die Entropie, der Wärmetod, die immer gleichmäßigere und immer weniger nutzbare Verteilung von Energie im Raum, würde durch die Taten des Menschen selbst beschleunigt. Der Mensch wäre, logisch gesprochen, ein Verbündeter des Todes und der Wüste.

Jeder Versuch, aus den Kreisläufen von Leben und Tod, aus den vielen, nie entschiedenen Wettbewerben zwischen den Arten, aus der Vielfalt des natürlichen Systems auszubrechen, würde nicht nur die ökologischen Lebensgrundlagen des Menschen, sondern die allen Lebens auf unserem Planeten schmälern. Genau dies aber ist der Kurs, den der Mensch heute absichtsvoll und in blinder, selbstmörderischer Entschlossenheit verfolgt.

Wenn noch irgend etwas nötig wäre, um den Zorn des sogenannten >Fortschritts< auf eine solche Weltsicht zu ziehen, dann ist es ihre Übereinstimmung mit sehr alten Weisheiten und Einsichten der Menschheit, die schon wegen ihres Alters suspekt sein müssen.

Abgesehen davon, daß jeder Bauer oder Förster die einfachsten Prinzipien der Ökologie und viele Möglichkeiten ihrer Anwendung seit Jahrhunderten aus der Praxis kennt, ist auch die Politische Ökologie als philosophisches Programm nachweislich schon mindestens zweitausenddreihundert Jahre alt. An der Wende vom vierten zum dritten vorchristlichen Jahrhundert belehrte Menzius den König Hui von Liang:

»Wenn man nicht willkürlich gegen die von den Jahreszeiten vorgegebenen Tätigkeiten in der Landwirtschaft verstößt, wird man mehr Korn ernten, als überhaupt gegessen werden kann. Wenn zu enge Netze in den Seen und Teichen nicht erlaubt werden, dann wird es mehr Fische und Schildkröten geben, als überhaupt verzehrt werden können. Wenn Axt und Beil nur zur rechten Zeit Eingang in den Bergwäldern finden, dann wird man das Bauholz gar nicht mehr aufbrauchen können. Wenn all das geschieht, dann gibt man dem Volk damit Gelegenheit, die Lebenden zu ernähren und die Toten zu betrauern ohne Gram, und das wiederum ist der erste Schritt zu einer wahrhaft königlichen Regierung«.

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Tiefer als diese profunden Anweisungen geht der Ansatz der Taoisten. Für sie war »Gemeinsinn«, also das lebendige Pflichtbewußtsein der Verbundenheit, nicht nur für eine Tugend gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber der Natur — und sie gingen damit ausdrücklich über Konfuzius hinaus. Im Buch Lüh-Shih wird dieser Ansatz so formuliert und verdeutlicht: 

»Die Welt gehört nicht einem einzigen Menschen, sondern sie gehört der Welt. Yin und Yang in ihrer Harmonie bevorzugen nicht nur eine Gattung, der süße Tau und der zur rechten Zeit einsetzende Regen geben nicht einem einzigen Wesen persönlichen Vorrang...

Ein Mann aus dem Staate Ching verlor seinen Bogen, suchte aber gar nicht nach ihm, sondern sagte nur: >Ein Mensch aus Ching hat ihn verloren, ein Mensch aus Ching wird ihn auch finden — warum also danach suchen?< Als Konfuzius davon hörte, meinte er: >Hätte er das Wort CHING ausgelassen, so hätte er recht gehabt.< Laotse aber fügte dem hinzu: >Wenn er auch noch das Wort MENSCH ausgelassen hätte, dann erst hätte er wirklich recht gehabt.< So bewies Laotse die höhere Form des Gemeinsinns.«

 

Der Streit um die sogenannte Grenzüberschreitung einer Politischen Ökologie geht im Grunde darum, welche der beiden Definitionen von >Gemeinsinn<, die konfuzianische oder die taoistische in der obigen Erzählung, den Vorrang hat. Für die ökologische Sicht ist ein >Gemeinsinn<, der sich nicht über den Menschen hinaus erstreckt, widersinnig. Und wenn es dafür noch eines Beweises bedürfte, dann wäre es die Entstehungsgeschichte des Problems selbst.

Jahrhundertelang haben die Humanwissenschaften (die Historie, später dann die neueren Disziplinen wie die Ökonomie, die Politologie, die Soziologie) vor dem Hintergrund der naiven Annahme operiert, daß die Natur eines, die Welt des Menschen ein anderes sei; daß die Abläufe, die Bewegungen, die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Kosmos vor einer gänzlich abgetrennten Kulisse von >Natur< sich ereignen, einer Kulisse, für die man jene in Genesis VIII/IX formulierte voraussetzte: »Nicht aufhören werden Tag und Nacht, Frost und Hitze, Saat und Ernte. Furcht und Zittern werden die Tiere nicht mehr verlassen...«

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Wenn es überhaupt eine Grenzüberschreitung von einer Disziplin in eine andere gibt, dann war und ist es diese naive Grenzüberschreitung der alten Humanwissenschaften — und der neuen. Der Ökologe brauchte keine Grenzen zu überschreiten, er saß und sitzt an seinem Weiher oder in seinem Moor, zählt friedlich Kaulquappen oder Tauchenten und erlebt nun seinerseits den Einbruch einer Spezies mit >überorganischen< oder anderen Fähigkeiten, die in diesen Kreisläufen tätig werden. Ist der Eindringling ein Wilder, sagen wir ein Oglala-lndianer, benimmt er sich verhältnismäßig anständig; ist er ein Zivilisierter, benimmt er sich säuisch. Das ist die schlichte Wahrheit, die der Ökologe notgedrungen zur Kenntnis nehmen muß — es sind Daten, die ihn angehen, ob er will oder nicht. Und mit der Mitteilung dieser Daten ist er mitten in der Systemkritik, ohne seine Befugnisse auch nur einen Augenblick überschreiten zu müssen.

Durch solche schlichte Mitteilung und die in ihr enthaltene Systemkritik hat der Ökologe aufs ärgerlichste die Hymnen des Triumphes gestört, die in den sechziger Jahren allenthalben harmonisch ertönten. Die Idee einer hominisierten, das heißt restlos für die Bedürfnisse des Menschen zurechtgemachten Welt war ja damals so vorherrschend, daß man sich auf allen theoretischen Jahrmärkten eigentlich nur noch über Details stritt. 

Schlimmstenfalls ereiferten sich Christen, Marxisten oder Technokraten darüber, wer nun diese unbezweifelte Bestimmung der Welt zum Menschen hin am raschesten und reibungslosesten zum glücklichen Ende führen würde; und die wichtigste politische Frage war, wie man den rückständigen Mitmenschen diese Entwicklung soziologisch, ethisch, psychologisch, theologisch am besten beibringen könne. 

Die Fährnisse einer Wohlstands- und Freizeit-, einer hedonistischen Gesellschaft (Kahn), die Mißlichkeiten psychologischer und pädagogischer Natur, die aus einer Welt ohne Vater- und Schöpfergott erwachsen, die Klippen der allmenschlichen Emanzipation: Das waren die Themen, um welche sich in dieser triumphalen Ära ganze Heere von Berufs- und Amateurtherapeuten bemühten — im Detail sorgenvoll, aber in der Gesamtperspektive optimistisch.

Diesem Triumphalismus nun setzte und setzt der ökologische Ansatz das Ärgernis der taoistischen Form des Gemeinsinns entgegen. An ihr kommt, sowie die Dinge liegen, niemand mehr vorbei. Es geht nicht darum, welche Welt wir >wollen<, sondern welche uns gegeben ist, mit welcher Welt wir zurechtkommen müssen; und zwar nach Maßgabe unserer Befindlichkeit als Spezies in einer von vielen Arten bewohnten und beanspruchten Welt.

Es geht aber, darüber hinaus, auch um die Frage, ob Gemeinsinn, auch zwischenmenschlicher Gemeinsinn, überhaupt noch praktiziert werden kann, ohne seine alte, anthropozentrische, das heißt ausschließlich auf den Menschen bezogene Bedeutung. Es ging und geht um den Nachweis, daß unsere Theorie/Praxis, die Theorie/Praxis des inkonsequenten Materialismus, wie sie sich im Industriesystem niederschlägt, nicht nur die Natur, sondern auch die Grundlagen unserer eigenen biologischen und sozialen Existenz zerstöre. Aus der ökologischen Kritik des inkonsequenten Materialismus erwächst so eine neue, wirklich radikale Analyse des Systems, die weit über und hinter Hypothesen und Anklagen wie die der >Entfremdung< die objektiven Wurzeln der Zerstörung bloßzulegen vermag.

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