1. Ökologischer Materialismus      Start    Weiter

     Die ökologische Systemkritik      

 

 

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Die Theorie/Praxis und die Wirtschaftsweise der sogenannten fortschrittlichen Weltteile (gleichgültig, ob unter kapitalistischen oder sozialistischen Vorzeichen) widerspricht den Prinzipien der ökologischen Vernunft absolut.

Eine Praxis der Zwecke, und zwar der ausschließlichen Zwecke, kann nie in Kreisläufe eingeordnet werden. Die einzige zweckfreie Prämisse der Theorie/Praxis aber ist das ausschließliche Recht des Menschen, die Welt zu verwenden, wie er das füf richtig hält; eine reine Annahme, und zwar eine falsche, eine schlechte theologische Annahme.

Das Deutsche dokumentiert sehr genau, welche Sicht solcher Praxis zugrunde liegt. So werden etwa Produktionsvorgänge, die Natürliches seiner Selbständigkeit entfremden und nur die sklavischen Eigenschaften der Verwendbarkeit übriglassen, als >Veredelung< bezeichnet, und der Stoff, der solcher zweckgerichteten Sklaverei noch nicht unterzogen wurde, wird Rohstoff genannt. Edel und roh: Besser als durch solche Unterscheidung läßt sich der Anspruch des Menschen, die Rangordnung des Materiellen nach seinen Bedürfnissen zu bestimmen, kaum bezeugen.

Ein weiteres Zeugnis sind zwei Vorsilben, die ebenfalls der Klassifizierung dienen. Materie, die entweder überhaupt nicht verwendbar ist, oder der jede Verwendbarkeit bereits entzogen wurde, muß die Vorsilben <Un> oder <Ab> erdulden: Unrat — Unkraut — Ungeziefer; Abraum — Abschaum — Abfall — Abwärme Abgas Abwasser.

Solche Einteilungen sind ökologisch bedeutungslos, ja irreführend. Für die Hausfrau, die abstaubt, mögen sie wichtig sein — aber die Hausfrau widersteht ja nur einer Tendenz der Natur, die unsere Zimmer nicht einer einzigen Spezies und ihrer bakteriellen Flora überlassen will, sondern ein etwas mannigfaltigeres Leben wünscht. Ähnliches gilt für unsere Bemühungen in Feld und Garten. Kraut ist Kraut, Geziefer ist Geziefer — und oft genug werden wir durch naturwissenschaftliche Einsichten gezwungen, die Klassifizierung von heute auf morgen zu ändern: aus Unkraut wird Nutzpflanze oder Gründüngung, aus Schädlingen werden Nützlinge und umgekehrt.

Und was ist Abfall? Materie wie jede andere — wenn nicht heute, dann morgen. Wir werden es noch oft erleben, daß der Abfall, der bereits einmal durch einen >Veredelungsprozeß< (wie etwa die aristokratische Verwandlung in Konservendosen oder Klodeckel) gegangen ist, wieder zum wertvollen Rohmaterial wird.

Abwärme ist Wärme wie jede andere; nur heizt sie statt unserer Küchenherde oder Zentralheizungen die Atmosphäre auf und verdirbt den Wyhler Winzern ihren Prädikatswein.

Über das Weiterwirken von Abgasen in natürlichen Kreisläufen können uns Bodenforscher, Landwirtschaftsexperten (wenn sie nicht von den falschen Leuten bezahlt werden), Krebsforscher und Lungenspezialisten einiges erzählen.

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Der radioaktive Abraum wird (ob uns das gefällt oder nicht) unser gesellschaftliches und politisches Leben verändern und den Polizeistaat unausweichlich machen. Das leugnet nicht einmal die Kernenergielobby mehr.

Das, was man Umweltbelastung nennt, ist also nicht die Folge einer Praxis, wenn auch einer unzweckmäßigen, letzten Endes unpraktischen Praxis — sondern die Folge einer falschen Klassifikation, die diese Unzweckmäßigkeit verschleiert, nicht wahrhaben will. Umweltbelastung als Folgelast würde zu einem großen Teil überhaupt nicht existieren, wenn es der Zweckmensch nicht darauf anlegte, sich laufend, punktuell und willkürlich von seiner Umwelt zu entlasten. Wenn Materie Rohstoff bliebe, oder wenn sie so restlos genützt wird wie zum Beispiel der Bison samt Haar und Haut und Knochen von den Prärie-Indianern, gibt es solche Folgebelastungen nicht: den winzigen Rest inerter Materie, der nicht verwertet wird, kann man ohne Kosten und zusätzlichen Energieaufwand den natürlichen Kreisläufen zurückgeben.

Paradoxerweise steigt also die Umweltbelastung, steigen die Folgelasten in dem Maß, in dem der Mensch die Natur immer gründlicher und vor allem immer rentabler auszubeuten, also zu verwenden glaubt. Ja, diese Lasten steigen sogar schneller an als die Produktion des Verwertbaren. Materie wird Schmutz; und zwar in dem Sinne, in dem ein geistreicher Engländer den Begriff definiert hat: dirt is matter in the wrong place — Schmutz ist Materie am falschen Ort.

Falsch ist der Ort solcher Materie entweder auf Grund einer menschlichen Entscheidung, daß bestimmte Arten von Materie an einen bestimmten Ort oder bestimmte Orte nicht hingehören (daher die endlosen Arbeitsstunden mit Wäscheschleuder, Staubsauger, Rehleder und Unkrauthacke) oder auf Grund der Tatsache, daß die Materie durch einen sogenannten Produktionsprozeß gegangen und somit als Abfall aus gebrauchten Produkten oder als >Abfall< vom Rohmaterial gelten muß. Der Produktionsprozeß läßt also Abraum entstehen — und zwar, wie die Industriegesellschaft täglich und stündlich beweist, nicht nur materiellen, sondern gesellschaftlichen, psychischen, menschlichen Abraum.

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Solche Folgelasten wachsen heute bereits quadratisch im Verhältnis zur eigentlichen Produktion: sie stellen also paradoxerweise das >eigentlich<, das vorrangig Produzierte dar. Aufschlußreiche statistische Kurven ließen sich erstellen, auf denen etwa der steigende Prozentsatz von Ausgaben für Müllbeseitigung, Aufräumungstätigkeit jeder Art, Sanierungen (materieller >Abraum<), für Strafvollzug, Sozialarbeit, ambulante und stationäre Behandlung von Zivilisationskrankheiten bis hin zur unverzeihlichsten Krankheit der Gegenwart, nämlich dem Alter (menschlicher >Abraum<) dieses tatsächliche Produktionsverhältnis klar belegen und widerspiegeln würde.

Der Stein, den die Bauleute nicht brauchen können und wegwerfen, wird damit zum Stein des Anstoßes. Das Gift, das in chemischen Produktionsprozessen übrigbleibt, wird zum Alptraum der Kommunal- und Regionalbehörden. Die tatsächliche Kosten-Nutzungs-Rechnung des Automobils (einschließlich aller Abfälle, Abgase, Abwässer, in den Kliniken oder Friedhöfen liegenden Abmenschen) wird grundsätzlich nicht aufgemacht — sie wäre, wie man heute so schön sagt, nicht >durchsetzbar<. Ebensowenig aber kann oder darfeine echte Schadensrechnung des menschlichen Abraums in Kliniken, Gefängnissen, Sonderschulen, Altersheimen aufgemacht werden — der Maßgebende, der dies wagen würde, könnte seinen letzten Augenblick in der politischen Arena leichter vorausberechnen als alles andere.

So laufen unsere Wirtschaftsformen und unser way of life nicht nur den ökologischen Prinzipien und Erfordernissen diametral zuwider: Sie bringen sich selbst in immer größeren Gegensatz zu diesen Prinzipien und tragen damit den Zusammenbruch bereits in sich. Die Frage, die sich stellt, lautet längst nicht mehr: Läßt sich dies oder jenes an unserem System zurücknehmen? Sie lautet vielmehr: Wie können wir den Schaden, der beim unweigerlichen Zusammenbruch des Systems entsteht, möglichst klein halten? Wie können wir das Ausmaß an menschlichem Leid verringern, das mit ihm verbunden sein wird?

Spätestens hier wird der linke Leser protestieren. Gut, so wird er zurückfragen, die Kritik aus dem ökologischen Ansatz mag berechtigt sein; aber was hat er an wirklichen Ratschlägen zu bieten?

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Was soll, vor allem, aus dem Menschen werden, wenn man ihm verbietet, die Natur zu beherrschen? So realistisch dieser Ansatz auch sein mag, ist er nicht zutiefst unmenschlich, widerspricht er nicht allen Grundsätzen und Verkehrsformen des Humanismus, die wir uns, trotz allem, im Laufe der Jahrtausende angewöhnt haben?

Wenn wir, so könnte das linke Argument weiterlaufen, schon dazu verurteilt wären oder sind, als Spezies das Schicksal jener vorzeitlichen Blaualgenart zu teilen, welche in ihrem eigenen Exkrement, dem Sauerstoff, erstickte — sollten wir dann nicht wenigstens das Bekenntnis zu unserem historischen Herrschaftsauftrag ablegen, dem wir unterlagen und unterliegen — mit anderen Worten, sollten wir nicht wenigstens zu diesem Irrtum stehen, der schließlich ein heroischer Irrtum ist?

Sollten wir nicht, in solch heroischer Solidarität, wenigstens dafür sorgen, daß die Milliarden unserer Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfahren in relativer Gleichheit, in relativer Gerechtigkeit zusammen mit dem ökologischen System untergehen? Und wäre dann solche Gleichheit und Gerechtigkeit nicht der nachträgliche Sinn der Geschichte überhaupt: der Sinn von Religiosität, Christentum, Sozialismus — der kurze, wenige Jahrhunderte, das heißt wenige Augenblicke währende Sinn einer Geschichte von Ungetümen unter ewig gleichgültigen Himmeln?

Dieses Argument, dem man sehr gelegentlich begegnet (im allgemeinen ziehen die linken wie die rechten Humanisten herzwärmende Blindheit, das heißt Informationsverweigerung vor...), ist sicherlich das redlichste und sauberste Argument gegen eine mögliche ökologische Konsequenz und eine mögliche, ökologisch konsequente Politik.

Gottlob ist es so nicht richtig.

Es ist nicht richtig, daß dem Menschen keine Alternative geboten wäre, als entweder das bewußtlose Dasein des Wirbeltiers inmitten anderer Fresser und Opfer — oder das Bündnis mit der Wüste gegen den Rest des Lebens. Es ist nicht richtig, daß die Grenze zwischen Humanismus und Antihumanismus die Grenze zwischen Naturversklavung und Naturunterworfenheit wäre.

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Und damit ist es - dreimal gottlob! - nicht richtig, daß der Menschheit keine andere Alternative bleibt, als entweder Untergang mit dem Ökosystem — oder Sturz in tiefstes vorkapitalistisches, vielleicht vorfeudales, vielleicht tribalistisches Elend.

 wikipedia  Tribalismus 

Daß diese Alternative nicht stimmt, läßt sich historisch erhärten. Ehe wir darangehen, die Szenarios für die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft zu prüfen, und ehe wir dann versuchen, einen eigenen, tatsächlich humanen und humanistischen Weg der Zusammenarbeit mit dem ökologischen System zu skizzieren, ist es also angebracht, eine Retrospektive vorzuziehen. 

Wir sollten die Geschichte unserer Art daraufhin untersuchen, ob ein Humanismus, der auf perfekte Naturbeherrschung gründet, tatsächlich die Logik und sei es die tragische Logik — der Artgeschichte für sich hat.

Tatsächlich ist — um dies vorwegzunehmen — das Gegenteil der Fall. Auf die Dauer schlug jeder Humanismus, der die Einbettung des Menschen in seine natürlichen Gegebenheiten außer acht ließ, in einen krassen Antihumanismus um. Einem Menschen oder einer menschlichen Gruppe, die versucht, die Natur zu versklaven, ist es nie möglich, die Abgrenzung Mensch-Natur, die solcher Praxis angeblich prinzipiell zugrunde liegt, aufrechtzuerhalten — und dann folgt logisch nicht die Humanisierung der nichtmenschlichen, sondern die Entmenschlichung der humanen Umwelt. Das Problem des Unkrauts, des Ungeziefers, des Abraums und Abschaums wird zum Problem der zwischenmenschlichen Beziehungen — zum anorganischen, zum chemischen, zum organischen Müll tritt zwangsläufig auch der menschliche, der dann auch als solcher behandelt wird.

Wieder spricht die Sprache für sich: Es gab und gibt kein sogenanntes zivilisiertes Zeitalter, das nicht seinen eigenen Abschaum, sein eigenes Ungeziefer, seinen Menschen— Unrat hervorbrachte, bezeichnete und behandelte. Wir sind sprachlich etwas zimperlicher geworden — aber nur scheinbar. Wir sprechen immerhin noch von Randgruppen — und welcher Rand ist damit gekennzeichnet? Der Rand des Produktionsprozesses natürlich.

Die Vokabel erfaßt die Alten, die Asozialen, die Hilflosen, die Konsum- oder Produktionsverweigerer in dem Augenblick, wo sie, eben vom gesellschaftlichen Bulldozer erfaßt, an den Rand des zivilisatorischen Müllberges geschoben werden.

Es wird uns also im folgenden aufgetragen sein, auch unsere historische Sicht — die Sicht eines inkonsequenten Materialismus — zu überprüfen und umzustülpen, wenn und wo es nötig ist. Es wird zu zeigen sein, wie die Loslösung von den natürlichen ökologischen Existenzbedingungen unserer Gattung (mochte sie auch unausweichlich scheinen) jeweils ihre eigenen Randgruppen-, Abschaum-, Ungezieferprobleme mit sich brachte und bringt. 

Es wird aber auch zu zeigen sein (tröstlicherweise zu zeigen sein), daß es das ökologische Paradies, das primitive oder paraprimitive, von dem heute so viele Ökopartisanen schwärmen, nie wirklich gegeben hat. Jede zeitweilige Stabilität war das Werk einer kollektiven, einer gesellschaftlichen Anpassung, eines Prozesses, der menschlich, ja human war. Er war ja eine Abfolge von Versuch und Irrtum. Und auch uns ist es aufgegeben, aus unseren Versuchen und Irrtümern zu lernen.

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 # 

Kassandra und das trojanische Pferd (links unten)

 

 

 

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