2 Retrospektive
Versuch und Irrtum - Krise und Entfremdung
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Die ökologische Geschichte des Menschen — kann sie geschrieben werden? Sicherlich nicht mit den bisherigen historischen Methoden. Diese haben ja einen Zeitabschnitt aus der Geschichte der Art untersucht, der grotesk kurz ist: 5-6000 von vermutlich 900.000 bis zu 2 Millionen Jahren; sie haben das winzige Fragment einer Zwischen- oder Nacheiszeit isoliert, in dem wir leben, und sie haben sich innerhalb dieses Fragments auf Quellen beschränkt, die zunächst kaum etwas anderes waren und sind als das geschriebene Wort.
Sie haben an Hand dieser <Quellen> den Lauf von Ereignissen zu rekonstruieren versucht, die immer oder doch fast immer einseitig, verzerrt, propagandistisch verfälscht dargestellt wurden.
Die Epochen, in denen die Menschen es fertigbrachten, über sich selbst und vor allem über ihre Mächtigen auch nur die bescheidensten Wahrheiten niederzuschreiben, sind erstaunlich kurz, sind Lichtblitze in einer schwülen Nacht des Wunschdenkens, der mythischen oder ideologischen Verkleidungen, der unrekonstruierbaren Gedanken- und Gefühlssysteme und -konstellationen, mit denen das Unerträgliche jeweils erträglich, das Widersprüchliche jeweils kohärent gemacht werden sollte.
Nein, weder der Zeitraum noch die Aussagen und Ergebnisse der klassischen historischen Methode können für unseren Zweck genügen.
Nun sind gottlob seit einiger Zeit neue Methoden der geschichtlichen Forschung im Gange. Die Grenzen zwischen Archäologie und Historie, zwischen Vor-, Früh- und eigentlicher Geschichte sind fließend geworden, verwischen sich. Taucher ergänzen unser Wissen über die Schiffahrt der Griechen, Römer und Byzantiner; Datenberechnung aus den Jahresringen verarbeiteten Holzes (die sogenannte Dendrologie) erlaubt die Aus- und Auffüllung der Baugeschichte unserer europäischen Dome ebenso wie die der indianischen Pueblos.
Dazu kommen immer exaktere Methoden der Auswertung von <indirekten> Quellen: Die Wirtschaftsrechnungen alter Archive, die Personalangaben der alten Pfarrbücher, die neu ausgewerteten Zeugnisse der Kunst erlauben immer präzisere Aussagen über die materielle Geschichte unserer Vorfahren.
Aber bringt uns dies den entscheidenen Schritt weiter, den wir hier tun müssen?
Zunächst, so will es scheinen, hat eine <materialistische> Geschichtsschreibung den Gesichtskreis eher verengt als erweitert. Daran ist nichts verwunderlich: Die rapide materielle Beschleunigung in den letzten vierhundert Jahren liefert eben entsprechende Berge materieller Daten, und das führt wiederum zur Konzentration der <materialistischen> Methoden auf diesen Zeitraum. Gerade dieser Zeitraum aber ist der des Regiments des inkonsequenten Materialismus, von dem wir sprachen. In seinen Quellen steckt viel über Budgets, über Weizenpreise, Sterblichkeitstabellen, Finanz- und Handelsbewegungen, aber wenig oder nichts ist zu finden über die Erde, auf der sich solche Produktionsverhältnisse entfalteten.
Zudem läßt die dogmatische Konzentration auf <Produktionsverhältnisse> vorläufig immer nur den einen großen Grundraster zu, das Begriffsgitter, an dem sich der <historische Materialismus> emporrankt: von Jägern und Sammlern zu Stammeswirtschaften, von denen zu Ackerbaudespotien, von der Sklavenwirtschaft zum Feudalismus, von dem wiederum zum Kapitalismus und dann, natürlich, zum Sozialismus: Mit Ausnahme der letzten zweihundert Jahre war das alles doch vorwissenschaftlich, mythisch, <bewußtlos> — ein Sammelsurium mehr oder weniger grotesker Barbarei und mehr oder weniger gefährlichen Aberglaubens.
Vergleicht man die Geschichte mit einer nächtlich beleuchteten Straße und setzt man eine Bogenlampe für jeweils ein Jahrhundert an, so ist die <materialistische> Geschichtsschreibung eigentlich nur an den letzten zwei oder drei Abständen zwischen ihnen interessiert — dahinter, in den Jahrtausenden und Jahrzehntausenden tatsächlicher Artgeschichte, ist vielleicht noch eine schwach leuchtende Perlenschnur auszumachen, und dann folgt Nebel — bestenfalls bläulich schimmernder Nebel.
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Einem solchen — durchaus üblichen — Geschichtsbewußtsein ist schroff die ökologische Geschichtsschreibung entgegenzustellen.
Für sie wären die Jahrzehntausende der Artbildung und der sozialen Ausformung mindestens ebenso interessant wie die letzten zwei oder drei Jahrhundertabstände. Für sie ist zentral die Wechselwirkung zwischen Natur und Geschichte. Die wäre also weder eine reine »klassische< Menschheitsgeschichte noch eine Naturgeschichte der Spezies, sondern die Beschreibung der Wechselwirkung beider: die methodische Erforschung und Darstellung dessen, was der Mensch mit der »Welt«, aber auch dessen, was die Welt mit dem Menschen getan hat.
Sie wäre Naturgeschichte als Sozialgeschichte, aber auch als politische Geschichte; Politik als Schicksal der Natur, aber damit auch schon wieder Schicksal der Gesellschaft. Es wäre die Geschichte von ständigen Krisen und Irrtümern, von wenigen geglückten und stabilen Epochen, von Allianzen mit dem Leben, mit anderen Arten und gegen andere Arten und, zuletzt, Allianzen mit der Wüste.
Keine Art, so stellt der Naturforscher fest, schreckt davor zurück, sich auf Kosten anderer auszubreiten. Das ist natürlich Ausbeutung, ist Herrschaft — besser gesagt: der Versuch zur Herrschaft. Denn sie ist im natürlichen, das heißt im vormenschlichen Gang der Dinge, nie wirklich erfolgreich. Die blinden Ambitionen der einzelnen Arten heben sich gegenseitig auf. Im Endeffekt: Die Populationen mit den besten Eigenkontrollen gegen ungezügelte Ausbreitung und Vermehrung schneiden am stabilsten ab, sie generieren aus sich selbst die wenigsten Katastrophen — das heißt, sie nehmen das natürliche System der checks and balances weitgehend in die eigene Art hinein.
War der Urmensch, der Hominide im Grau der Artgeschichte, noch diesen checks and balances unterworfen? War diese Unterwerfung — bewußt oder unbewußt vollzogen vielleicht sein Paradies, sein Goldenes Zeitalter — und damit das Paradies der Menschheit überhaupt, vielleicht ihr einziges?
Viele vertreten heute diese Ansicht. Gerade im Schlagschatten unserer planetarischen Instabilität, angesichts der unermeßlichen Drohungen, denen wir gegenüberstehen, lassen wir uns gern zu einer solchen, wenn auch sterilen Paradiesvision überreden, die uns wenigstens den bittersüßen Geschmack unnützen Heimwehs auf die Zunge gibt.
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Und die meisten über Primitivkulturen bekannten Tatsachen scheinen wirklich auf unermeßliche Stabilität hinzuweisen. Man hat in der Nähe von Ahrensburg Rentierskelette gefunden, die auf Opferrituale schließen lassen: Im Brustkorb war ein Stein versenkt, und so waren die Tieropfer in den Teich geworfen worden. Moderne Testmethoden haben ergeben, daß dieser Brauch Zehntausende von Jahren geübt wurde; ein Rekord religiöser Kontinuität, der jede heutige Hochreligion vor Neid erblassen lassen muß.
Ähnlich positiv wie die sozio-kulturelle Stabilität der Ahnen sieht man ihr Verhältnis zur natürlichen Umwelt; und in der Tat bietet sich der Vergleich mit den uns bekannten und so genannten <Primitiven> an. (Freilich ist der Ausdruck für die alten homogenen Stammes- und Sippenkulturen völlig falsch.)
So konnte man sehr genau die Lebensgewohnheiten der Digger-lndianer erforschen, einer der ärmsten Indianerkulturen überhaupt. Es waren Sippen, die auf den großen Prärien umherwanderten und es nie zu richtigen Stämmen brachten, weil die Lebensbedingungen dafür zu schlecht waren. (Die klassischen Prärie-Stämme Gerstäckers, Karl Mays und anderer, die Pawnees, Komantschen, Dakotas, gehörten ja erst der Roß-und-Reiter-Zeit, also der Epoche nach 1780 an.)
Die Digger-lndianer kannten jede Wurzel, jedes Kraut, jede Lebensäußerung in ihrem Sammelbereich aufs genaueste. Dutzende von medizinischen Kräutern, Dutzende von Rauchkräutern waren ihnen bekannt, alle mit ihren speziellen Eigenschaften, fast jeder der Sammler konnte sie aufzählen. Ihre Lebensweise könnte man (ökologisch definiert) ins Unendliche der Vollzeit zurückverlängern. Aber seltsamerweise war das nicht der Fall — gerade in Amerika nicht.
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Die Jagdmethoden der ersten zwischeneiszeitlichen Jäger, die nach Amerika vordrangen, waren nämlich durchaus nicht umweltfreundlich. Noch ist die Kontroverse darüber im Gange, ob es diesen Jägern aus eigenem Vermögen (und Unverstand) gelang, die äußerst reichen und reichhaltigen Großtierfaunen auszurotten, die damals den Kontinent erfüllten. Bei der geringen Zahl dieser Jäger, die noch nicht einmal den Bogen kannten, scheint eine solche Annahme grundsätzlich grotesk; aber gerade die primitiveren Jagdmethoden sind extensiv und verschwenderisch.
So ist (wie wir aus amerikanischen und aus französischen Funden wissen) eine der ältesten Jagdmethoden die Treibjagd; und zwar hetzten die Jägerhorden riesige Herden von Pferden oder von Bisons steilen Felsabstürzen zu, über welche die Tiere hinausschossen und im Abgrund zerschmettert wurden. Von den so vernichteten Tieren wurde oft nicht einmal ein Zehntel ausgeschlachtet. Der Schleuderspeer und, später, der Bogen sind dagegen wesentlich umweltangepaßter: Sie erlaubten intensivere Jagd, gründlichere Verwertung. Aber der Bogen ist, so glaubt man heute zu wissen, kaum älter als 25.000 Jahre: eine sehr kleine Zeitspanne in der Geschichte der Art.
Doch wann und wie hub sie an, diese Artgeschichte?
In den letzten Jahrzehnten mußte man das Datum dieses Anfangs immer weiter in die Erdgeschichte zurückschieben — was vor einer Generation noch Jahrhunderttausende waren, sind heute schon Millionen. Was für Wesen waren diese ersten Hominiden, die kaum vierzig Kilo wogen und kaum einen Meter groß waren? In kleinen sozialen Verbänden waren sie bereits zusammengefaßt. Waren sie die pathologischen Killer, welche die Schädelhaufen in der Olduwai-Schlucht und anderswo vermuten lassen? (Der Forscher Dart, gefragt, welcher von seinen Australopithecinen eines natürlichen Todes gestorben sei, düster: »Keiner.«)
Waren sie immer von jenen Ängsten gepeitscht, welche ihnen befahlen, die Köpfe von Frauen und Kindern, wohl vorher erschlagenen, mit Ocker zu bemalen und zu Pyramiden eines dumpfen Rituals zu türmen?
Wohl keine stereotype Antwort ist erlaubt. Innerhalb der Spanne der europäischen Steinzeit stellt man heute eine Oszillation fest — ein Auf und Ab von Freundlichkeit und Mißtrauen, von offener Siedlungsweise und frenetisch verteidigten Höhlen, von Mordepidemien und jahrtausendelanger bukolischer Ordnung.
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Amerika ist, weil spät besiedelt, das Schulbeispiel eines langen, schmerzlichen Lernprozesses, der vor, nicht nach der Bildung der sogenannten primitiven Kulturen liegt. Nach dem Aussterben der Großfaunen (mit Ausnahme des Bisons) werden die Funde rar, die Evidenz menschlicher Tätigkeit und menschlichen Vorhandenseins dürftiger. Nach den Orgien der Treibjagden, den freizügig genossenen Mammutlebern und Bisonnacken ist Not da, Hungersnot, das ist evident. Aber damit ist auch Diversifikation fällig, das heißt die Entwicklung mannigfaltiger Eß- und Produktionsgewohnheiten, das Anschmiegen ans karge Angebot, die gemischte Nahrung und die Erzeugung von Hilfswerkzeugen zu dieser Lebensweise. Mahlsteine tauchen auf, Reste von kleinerem Getier, Ausnutzung von Knochen und Horn für mancherlei Bedarf. Die vielfältigsten Beziehungen zur belebten und unbelebten Umwelt, die derart nötig werden, bringen Erfahrung — und Erfahrung bringt das Bedürfnis nach Tradition.
Solche Tradition schlägt sich nieder in den animistischen legends, den Kennzeichen aller archaischen Stammes- und Sippenverbände. Kompliziert verschränkte Totems und Tabus; Heiratsregeln und -verbote; Liturgien und Traditionen: Das ist die Lebenswirklichkeit der »Wilden«, welche die weißen Entdecker im Amerika des 16. und 17. Jahrhunderts vorfinden.
Der Ausdruck »Wilde« oder »Primitive« ist allerdings für diese Kulturen ganz unpassend, und er wird auch von den Anthropologen nicht mehr verwendet. Keine ihrer Sprachen ist weniger kompliziert als die unsere — viele sind im Gegenteil stärker ausgebaut. Mögen Abstrakta (oder was wir so bezeichnen) vielfach fehlen — dafür ist die Semantik des sinnlich Erfahrbaren äußerst fein. Die Maoris kennen Dutzende von Wörtern für ebenso viele Nuancen von »rot«; in einigen Indianersprachen gibt es verschiedene Numeri für einige wenige, für mehrere Gegenstände; für Gegenstände links, für solche rechts vom Betrachter, für lebendige, für tote Gegenstände.
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Der so dokumentierten Sinnenschärfe der Steinzeitkulturen entsprach (oder entspricht, wenn sie noch funktionieren) die Zweckmäßigkeit des Lebensstils, das religiöse und praktische Arrangement mit der Umwelt, das sie — wenigstens soweit dies unserem Überblick gestattet ist — so beneidenswert stabil zu machen scheint oder schien.
Aber solche »Stabilität« ist, wie wir sahen, bereits Resultat kultureller Bewegung; Resultat eines Prozesses von Versuch und Irrtum, erfüllt mit Leid und Erfahrung; ein Resultat, für das der Preis hoch, sehr hoch war — es ging ja nicht nur immerfort um Leben und Tod für den einzelnen, sondern oft genug um das Überleben ganzer Gruppen, ganzer künftiger Nationen und Rassen — ja vielleicht um das Überleben der Art.
Vieles an dem so Erlernten erscheint uns heute überflüssig; aber nur deshalb, weil uns seine Notwendigkeit oder Nützlichkeit nicht mehr zugänglich ist. So verbringt der Mensch der archaischen Gesellschaft wesentlich mehr Zeit im Umgang mit Geistern, mit Riten und Beschwörungen als mit der sogenannten >notwendigen< Reproduktion. Das, was wir »Arbeitszeit« nennen würden, setzt der Amerikaner Marshall Sahlins, der eine Monographie über Steinzeitökonomie geschrieben hat, auf etwa vier Stunden täglich an; fast ebensoviel Zeit oder mehr wird der »Primitive« auf Zeremonien, Kulte, individuelle oder gemeinschaftliche »Religiosität« verwenden.
Darüber können nur noch Vulgärfortschrittler lächeln, die ihrerseits mindestens ebensoviel Prozente ihrer Zeit mit total Überflüssigem, wenn auch nicht mit so Kreativem vergeuden. (Kenner setzen den Prozentsatz tatsächlich produktiver Tätigkeit in unserem »arbeitsteiligen« System ohnehin auf vielleicht drei Prozent an.)
Das wichtigste »Überflüssige«, das uns diese Kulturen hinterlassen haben, ist wohl die Idee des Festes.
Ursprünglich war es Arbeit, genauso wie die Arbeit als solche nicht ohne weiteres erkennbar war. Der Kult sollte besänftigen, vereinen, Kommunikation herstellen, beschwören, bannen, erweitern — und das Fest war Kult von einer Intensität, wie sie nach der Stufe der »Primitiven« nie mehr erreicht worden ist. Das bißchen Fest, das wir uns heute noch erlauben, und das wir mit halluzinogenen Drogen wie Tabak und Alkohol mühsam anheizen müssen, ist schwacher Abglanz, Scherbe dieser primitiven Erfahrungen.
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Ärgerlich ist und bleibt für den Materialisten, daß ein Mehr des Menschseins gerade beim »Primitiven« dem Immateriellen gewidmet ist, daß die materielle Reproduktion keineswegs so im Mittelpunkt seines Bewußtseins stand und steht, wie dies bei uns Zivilisierten der Fall ist. Aber einem aufgeklärten, das heißt einem konsequenten, an der Ökologie orientierten Materialismus kann die Annahme dieser Tatsache nicht schwerfallen. Ehe die Welt ausgebeutete, besser: Ehe sie als Zeughaus und Spenderin des Lebensmittels erkannt und genützt werden kann, muß sie einmal erkannt werden — und dies Erkennen ist dem Menschen von Anfang an nur mit Hilfe von Hypothesen, von Arbeitsgittern möglich, die Erklärung des Zusammenhängenden und Ausmerzung von Widersprüchen gestatten.
Erst solche Hypothesen und Gitter schaffen Identität für Gruppe und Individuum — und auf der Stufe der Steinzeit werden sie allemal mythisch eingekleidet sein (ja, sie werden es bis in unsere Gegenwart hinein bleiben, auch wenn sie sich lachhafterweise als »wissenschaftlich« ausgeben werden). Und trotz dieser mythischen oder magischen Einkleidung war kein Erklärungssystem gegenüber der nichtmenschlichen Welt >korrekter< als dieses vorgeschichtlich-steinzeitliche der Jäger und Sammler.
Fassen wir zusammen:
Die sogenannten »Wilden«, die homogenen Stammeskulturen der steinzeitlichen Stufe, sind keineswegs Kinder des Paradieses, bewußtlose Erzeugnisse der Natur. Sie sind schon das Ergebnis von Lernprozessen, deren Dauer und Gefährlichkeit wir nicht kennen, aber vielleicht erahnen können. In diesen Kulturen sind schon zahlreiche Widersprüche präsent, sie werden rituell bewältigt oder beschwichtigt, durch Riten, Legenden, Bräuche umstellt oder aufgelöst. Das Corpus, das Ganze dieser Legenden und Bräuche ist bereits ein Filtersystem, das die vielen verwirrenden Daten, die auf den Menschen einstürmen (eine Verwirrung, die dem Kreischen sich überlappender Sendebereiche in einem altertümlichen Radiogerät vergleichbar ist), zu brauchbaren, sinn verbundenen Informationen ordnet.
To establish order from noise: Auf diese informatorische Notwendigkeit der Mythen, der Götter und -ismen hingewiesen zu haben ist das Verdienst französischer Anthropologen wie Edgar Morin, Pierre Auger und anderer.
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Da die soziale Organisation zweckmäßig, reich strukturiert, aber nie sehr kompliziert ist, und da der Status des einzelnen viel mehr durch immaterielle goods and bads als durch materielle bestimmt wird, leistet die Religiosität dieser Animisten außerordentlich viel; mehr wahrscheinlich, als dies den Hochreligionen gelang oder gelingt — zumindest was das stabile Verhältnis des Menschen zur belebten und unbelebten Materie betrifft. Darüber haben wir bereits gesprochen. Aber es ist mehr als wahrscheinlich, daß auch diese Religiosität bereits durch Versuch und Irrtum, Schock und Schmerz gegangen ist — und daß sie der eigenen Gefährdung keineswegs unbewußt gegenüberstand.
Unbezweifelt wird der Kulturschock beim nächsten, dem ökologisch bedeutsamsten Schritt der Menschheit: beim Übergang zum Ackerbau.
Der war sehr graduell, er ging und geht in kleinsten Schritten vor sich. Mischwirtschaftliche Formen; Arbeitsteilungen, welche etwa den Männern noch Pfeil und Bogen beließen, aber den Frauen Pflanzstock oder Hacke in die Hand drückten; nomadische Feldbestellung als Teilzeitbeschäftigung: Alle diese und manche andere Formen von Übergangswirtschaft sind bis in die Gegenwart hinein möglich gewesen und wurden und werden praktiziert.
Dennoch ist es legitim, sozusagen den Archetypus des Ackerbauern und der ackerbäuerlichen Kultur dem Typus des schweifenden Jägers und des Nomaden gegenüberzustellen — schroff und reinlich gegenüberzustellen, wie das ja auch die uralten Erzählungen der Menschheit tun.
Eine der wichtigsten ist der Paradiesvertreibungsbericht des Buches Genesis. Ich bin mit Leyhausen (und vielen Autoren vor ihm) der Ansicht, daß er ein ziemlich genaues Zeugnis dessen ist, was dem Menschen zustieß, als er zum Ackerbauern wurde. Wie so oft lohnt es sich, den Bericht eben nicht >entmythologisierend<, sondern praktisch-wörtlich aufzunehmen.
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Da steht geschrieben, daß der Mensch die neue Lebensweise als Fluch erfährt. Er fühlt sich vertrieben aus einem Paradies, dem Jäger-Sammler-Paradies — und zwar mit Recht.
Er, der Mensch, ein Wesen, das durch Jahrmillionen der Praxis zum freischweifenden Beutemacher konditioniert wurde, ist nun seßhaft; das heißt, er hockt zwischen den Grenzen seiner winzigen Anbauflächen fest. Sein Körper, der lange brauchte, bis er sich mit immer längeren Beinen, immer kräftigeren Waden, immer robusteren Gesäßmuskeln dem Jägerleben, dem Rennen, Spähen, Speerewerfen angepaßt hatte, stöhnt wieder unter der Anstrengung des Bückens, des Grabens und Wühlens: in der Tat wäre hierfür der Körperbau des Pavians oder des Schimpansen wieder wesentlich besser geeignet.
Der Bandscheibenschaden wird zum kollektiven Schicksal — wenn nicht des Bauern, so zumindest der Bäuerin; die verkrümmten Greisinnen werden zum Fluchsignum ungezählter Generationen von Bauernkulturen.
Wahrscheinlich macht diese neue Arbeits- und Lebensweise auch das Gebären schwerer und riskanter.
Dazu kommt neue Feindschaft mit Tier und Pflanze. Das Raubzeug bleibt als Gefahr und Nahrungskonkurrent, ja es wird potentiell gefährlicher, weil das hilflose Haustier ihm weniger gewachsen ist als das schnelle Reh oder die Antilope; und vollends das Federvieh lockt massenhaft Feinde wie Fuchs, Wiesel, litis und Habicht. Noch schlimmer für den Bauern aber ist die Feindschaft so vieler Pflanzen, der Kampf mit ihnen um die Frucht der Erde. Jetzt wird es notwendig, zwischen Kraut und Unkraut, zwischen Nutzungen und Schädlingen zu unterscheiden. »Dornen und Disteln soll sie dir tragen...« Das dirist wichtig in diesem Fluchvers, der reflexive Bezug: Natürlich hat es schon Dornen und Disteln zu Zeiten der Jäger gegeben, aber sie waren keine Feinde — höchstens lästige Hindernisse bei Marsch oder Waldlauf, aber auch willkommenes Versteck auf der Jagd.
Das Schlimmste aber ist die Arbeit.
Nicht nur verdoppelt und verdreifacht sich die Zeit der notwendigen Reproduktion, nein, in gewissem Sinne entsteht sie jetzt erst als das, was wir heute »Arbeit« nennen.
Geboren wird die Mühsal, die verfluchte Schinderei.
Ja, Schinderei: Nicht umsonst werden die Ausdrücke für die landwirtschaftliche Arbeit in fast allen Sprachen dem Bereich der Qual, der Folter entnommen. Laborwal das lateinische Wort für die Geburtswehen; arebeit bedeutet »Schmerz«, »Mühsal«; französisch travail, spanisches trabajo sind abgeleitet von tripalium, einem dreipfahligen Folterwerkzeug der spätantiken Justiz.
Dementsprechend war die tatsächliche Einstellung des Bauern zu seiner Arbeit. Sicher kannte erseinen eigenen Stolz, liebte sein Eigentum; aber der Arbeitsprozeß als solcher war für ihn keineswegs so romantisch, wie er in vielen Passagen der Literatur erscheint. Für jüngere Leser, die eventuell der nostalgischen Sicht auf ein vorindustrielles Europa erliegen könnten, das sie nie gekannt haben, darf der Verfasser aus eigener Erfahrung mitteilen, daß der März, der Pflügermonat, nicht so sehr vom herrlichen Schlag der Lerchen als vor allem von den endlosen Flüchen der pflügenden Bauern erfüllt war. (Vermutlich fluchen sie noch heute beim Pflügen, aber das Rattern des Traktors übertönt es.)
Eine mißgünstige Erde; ein widerspenstiger Körper; die dreifache Arbeit, ja, zum ersten Mal in der Artgeschichte die Arbeit an sich: War es ein Wunder, daß der exilierte Jäger, der verbannte Hüter der Gärten Gottes, den Fluch über sich schweben sah wie den niedergedrückten, den verweigerten Opferrauch des Kain, des ersten Ackersmannes?
Und doch: auch dies war nicht das Schlimmste — noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste, was dem Bauern zustieß, war weder die Leibesnot noch die Feindseligkeit der Natur — es war der Mitmensch. Genauer gesagt, es war der Mitmensch, der auf das aufmerksam wurde, was den Bauern am grundsätzlichsten vom Jäger und vom Nomaden unterschied: seine Seßhaftigkeit.
Seßhaftigkeit aber heißt Schutzlosigkeit. Seit der Mensch auf dem Acker sitzt, bedarf er des Schutzes. Seit er auf dem Acker sitzt, kann er geplündert werden — und er kann zum Untertanen werden. Seit es den Acker gibt, ist die Freiheit nie mehr das geworden, was sie einmal war: unmittelbares, konkretes Ergebnis des menschlichen Lebens selbst. Denn seit es den Acker gibt, gibt es die Herrschaft.
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