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       Die Herrschaft — ihre Geburt, ihre Kindheit und ihre Jugend        

 

 

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Über dem flachen Hügelrücken auf der Steppe werden die Reiter sichtbar — zuerst die Spitzen der Lanzen, die in der Sonne blinken, dann die Roßschweife, die unter ihnen wehen, dann die Reiter selbst, mit flatternden Mänteln. Unheimlich schnell werden sie größer, die Schwärme im Sturm ihres Galopps.

Hoch im Turm sitzt der irische Mönch, der Freund und Beichtvater der Bauern. Mit grimmigem Vergnügen blickt er in die Hagel- und Regenböen hinaus, die übers Meer herantoben, blickt er in die gischtende Brandung. »Wohl uns!« schreibt er in seine Chronik. »Wohl uns an diesem Tag der Heiligen Simon und Juda, daß es hagelt und stürmt — so kann der Wiking nicht landen, die Bestie der Meere. Möge der Herr seine Drachen verderben!«

Aus dem Unterholz des Waldrands spähen die ummalten Augen der Wilden. Keiner sieht sie, keiner hört sie — nur sie selbst sehen und hören die Vogelschreie, mit denen sich die kleinen Horden untereinander verständigen. Sie haben ihre Streitäxte und ihre Skalpmesser geschärft, aus zusammengekniffenen Lidern taxieren sie die Farbe des Himmels hinter dem dünnen Morgenrauch aus dem Kamin der Farm. Gleich wird es soweit sein.

War der Bauer immer wehrlos, mußte er es sein? 

Nun, es gab ein paar tapfere Bauernrepubliken, die sich selbst zu verteidigen wußten; ihre Zahl ist gering. In der Regel gelang dies nur, wenn sie mächtige geologische Verbündete hatten: einen unwegsamen Gebirgsstock wie die Schweizer, eine sturmumgürtete kahle Insel wie die Isländer. Der Bauer kann nicht fliehen wie etwa die Jägersippen, die beim Nahen eines überlegenen Feindes mit allem, was sie haben (es ist, im Vergleich zum Bauern, so gut wie nichts) in die Ferne der unbewohnten Räume verschwinden. 

Er lebt ja buchstäblich vom Prinzip des Vorrats: Er hat Investitionen zu beschützen, Vieh, Saatgut, Vorräte an Nahrungsmitteln und künftiger Arbeitskraft in Form von Frau und Kindern und Knechten. So muß er denn bleiben und die Plünderer erwarten — dumpf auf Gnade, wenigstens auf einen Anschein von Gnade, auf einige Überreste hoffend, mit denen er durch den Winter kommt, auf die Großmut der Plünderer, die vielleicht ihn und die Seinen nicht genug foltern, um ihm und ihnen das Versteck des Wertvollsten zu entreißen.

In der Regel erfährt er nicht allzuviel Gnade, wenn der Schlachtschrei von den Hügeln oder den Brandungswellen hallt, wenn das gellende Trillern der Wilden zum Himmel steigt. Das Kalkül, in dem er steckt, ist einfach: So und so viele Bauern sind imstande, so und so viele Plünderer mehr oder weniger bequem am Leben zu erhalten, ihre Lust auf Abenteuer zu befriedigen und, vor allem, sie vor dem Los zu bewahren, das den Bauern selbst überkommen hat: Seßhaftigkeit, Schutzlosigkeit, gekrümmter Rücken auf ewig. 

Plünderer, Räuber, Wilde: Das sind ja Leute, die sich auf Kosten des Bauern dem Fluch Adams entziehen. Sie dürfen das aufrechte Rückgrat behalten, das kühne, weitblickende Auge, sie dürfen bei den alten Geschicklichkeiten der Rasse bleiben und ihr Räuberleben noch in prahlerischen Liedern besingen. Und so verachten sie denn von Herzen den, von dem sie leben: den Bauern, den Gescherten — das heißt den Geschorenen, den Hörigen.

Was bleibt ihm, dem Gescherten? Wie vermag er sich zu helfen? 

Die Arbeit erlaubt ihm nicht, sich zusätzlich als Krieger zu verhalten, sie verlangt zwölf, vierzehn Stunden täglich, wenigstens im Sommer — einen Wachdienst, eine eigene Miliz kann er da nicht organisieren. Zudem: Der Feind hat alle Vorteile der Guerilla für sich, er kann angreifen, wann und wo er will. Das heißt, daß für einen Räuber mindestens sechs oder acht Verteidiger ständig unter Waffen stehen müßten.

So zahlt man denn Tribut. Man zahlt ihn entweder an die bequemer werdenden Räuber selber, welche die hohen Investitionen ihrer Beutezüge überschlagen und feststellen, daß sie mit einer regelmäßigen Erpressungssumme besser fahren. 

Solche Räuber waren bis ins 18. Jahrhundert hinein die Clanchefs der schottischen Highlanders; keinen höheren Lobpreis kannten ihre Barden als die Floskel vom »reichen Tribut aus dem Süden«.

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Sicherer scheint für den Bauern ein anderer Weg: Er wendet sich an einen Mächtigen, der ihn vor den Räubern schützen soll. Er verspricht ihm, daß er für die Ernährung des Mächtigen und seiner Gefolgschaft aufkommen wird — das Feudalwesen ist geboren, das erste und einfachste Prinzip jeglicher Herrschaft.

Natürlich bleibt, ökonomisch gesprochen, das Kalkül das gleiche. Der Baron, der Fürst, seine Soldaten, welche den Bauern schützen sollen, verlangen ihren Preis — ihren Tribut, ihre Steuern. Sie sind in der Regel kaum weniger räuberisch als die Räuber selber — das bißchen zusätzliche Interesse, das sie am Wohlergehen oder wenigstens am produktiven Weitervegetieren des Bauern haben, ist das Interesse des Parasiten an der weiteren Existenz seines Wirtstiers. Denn Parasiten werden die Beschützer in allerkürzester Zeit — institutionalisierte, bodenständige Erpresser. Sie treiben die unsinnigsten Steuern ein, sie legen härteste Lasten auf — Frondienste, Scharwerke; sie schwächen die Frauen und Töchter der Untertanen, ziehen dem Bauern (wie es im frommen Landsknechtslied heißt) das wollene Hemd vom Leibe, weil es ihm übel ansteht.

Damit, mit dieser Umkehrung, mit diesem vollständigen Rollentausch, ist Herrschaft komplett. Der ursprüngliche Arbeitgeber — nämlich der Bauer/Ernährer, der den Waffenhandwerker als Spezialisten anstellt — wird zum Knecht, und der Reisige, auf die Mehrwertbrosamen vom Tisch des Subsistenzbauern angewiesen, wird zum Herrn und Meister.

Solche Herrschaft offenbart ihre Perversität vollends dann, wenn sie ihren ursprünglichen Rechtsgrund, nämlich den Schutz der Nahrung der Gemeinschaft, auch noch durch Frondienst, das heißt durch erzwungenen Wehrdienst, auf die Bauern abschiebt. Sie werden dann drei, fünf, acht Jahre zu Militärknechten gemacht, in schlechtsitzende Stiefel gesteckt, durch Krautäcker gescheucht, von untergeordneten Parasiten mit »Bauernrammel« betitelt und mit Weinrebe, Stock oder Nagaika durchgeprügelt. Die römischen Päpste, alte Kenner des Feudalsystems, wußten genau, warum sie bis ins 19. Jahrhundert hinein strikte Gegner der Wehrpflicht waren: Sie sahen als erste und fast einzige, was dies den Grundlagen der alteuropäischen Ordnung antat.

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Mit der Wehrpflicht, von einem feudalen Staatswesen eingeführt, erledigt sich der Feudalismus von selbst — aber er hat damit den Begriff der Herrschaft erst restlos verabsolutiert und verselbständigt. Sie ist nun aus einer zweifelhaft-symbiotischen zu einer zweifelsfrei parasitären Gattung geworden; einem Parasiten allerdings, der fest davon überzeugt ist, daß seine Wirtstiere ohne ihn nicht lebensfähig seien, weil sie auf einer untauglicheren Stufe der Entwicklung stünden als er.

Wer, wie der Bauer, von Anfang an den Daseinsschaden hat, der braucht sich um gesellschaftlichen Spott nicht zu sorgen. Nur sehr alte und weise Kulturen wie die chinesische haben wenigstens theoretisch-kultisch den Bauern geehrt — sonst, vor allem im Feudalismus, wird er zum Hohnobjekt derer, die von ihm leben. Bauer, vilain, peasant, mushik: Das ist überall das verächtliche Wort für den Ungeschlachten, den Dreckwühler. Er kann nicht hübsch sein; denn das heißt ja so viel wie höfisch, ist also den besseren, parasitären Herrschaften vorbehalten. Und noch in den meisten Volksliedern wird diese Zweistufen-Ideologie verankert — denn auch die Lautenklimperer leben letzten Endes und indirekt vom bäurischen Mehrwert, der sie auf dem Umweg über die Huld eines Großen erreicht.

Solcher Spott, von Anfang an ungerecht, wird nur durch die rätselhafte Demut gerechtfertigt, mit welcher der Bauer sein Geschick durch Jahrhunderte ertrug. Sie verrät, daß er mindestens zum Teil seine eigene Einschätzung durch die herrischen Parasiten und ihre Hofschranzen teilte. Dafür gibt es eine logische Erklärung: der biblische Fluch auf den Ackersmann, die Erinnerung an die freiere Zeit des Jägerparadieses blieb allen bewußt — auch und nicht zuletzt dem Bauern selbst.

Eine der wichtigsten Indizien für dieses gemeinsame Bewußtsein ist die Jagd. Bis in unsere Tage hinein gilt sie als Ausweis des »Herrn« — noch das feudal verkitschte Seelenleben unserer Industriellen besteht auf der Jagdmöglichkeit und zahlt, wenn nötig, einige tausend gute DM für den ungarischen Zwölfender.

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In Hochzeiten, noch mehr aber in Zeiten des Niedergangs der Feudalaristokratie nahm die Jagd ausgesprochen pathologische Züge an: Die Riesenstrecken von Löwen, welche die Könige der Assyrer; von Hirschen, welche die Fürsten des Rokoko; von Gemsen, welche der österreichische Thronfolger Franz-Ferdinand; und von Wildschweinen, die der bayrische Prinzregent Luitpold zusammenmordeten — dieser ganze destruktive Aufwand für einen Sport (durch Jahrhunderte und Jahrtausende der erste und einzige Sport) muß einen existentiellen Grund haben

Er erhellt sich sofort, wenn man die genetische und soziale Erinnerung an das Jägerparadies als »ideologische« Daseinsentschuldigung für die Aristokratie ansetzt. Materiell völlig von der Notwendigkeit der Jagd gelöst, blieb sie mit allen Emotionen an diese Erinnerung gebunden — eine Erinnerung, die sie als älteren, als den ältesten Stand schlechthin auswies. Worum es dabei ging, das wußten die Bauern genauso. Wenn sie, im Spätmittelalter gemächlich zu einem ständischen Selbstbewußtsein erwachend, die Frage stellten:

Als Adam grub und Eva spann — Wo war da der Edelmann?

— dann hatten sie nur halb recht und wußten das auch: Adams Graben, Evas Spinnen sind ja schon die Folge der Ackerbaurevolution, des organisierten Mangels, vor dem jeder Freie ein Edelmann, das heißt ein Jäger und Abenteurer gewesen war. Der Bauer selbst, solange er noch einen Funken Freiheitsgefühl besaß (und in Europa besaß er den eigentlich immer), kämpfte erbittert um sein Jagdrecht: die Sage vom Großen Wilderer und vom Wild, das »Gottes freies Eigentum« sei (so heißt es in einem bayrischen Lied) zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Sozialgeschichte — und diese Wilderer, von Robin Hood bis zum Kneißl, waren immer die Helden des Volkes.

Jagd aber ist Waffenhandwerk, genau wie der Krieg. Jenseits — oder diesseits — aller Theologie war und blieb die Rechtfertigung für feudale Herrschaftsausübung die Annahme, daß der Bauer eben zum Waffenhandwerk, ob gegen Menschen oder Tiere gewendet, nichts tauge; eine Annahme, die dürftig genug war. 

Überall dort, wo es, vor Erfindung des Schießpulvers und des

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Drills, Königen einfiel, gegen ihre feudalen Feinde den bewaffneten Bauern (oder Bürger) mit seinen speziellen Geschicklichkeiten ins Feld zu stellen, ging die goldstrotzende Kavallerie der Burgherren unter. So war es bei Crezy und Azincourt, so bei Bouvines — und am schlimmsten war es dort, wo sich die Bauern selbst ermannten, ihre Eignung zum Infanteristen entdeckten und sich zu Regimentern drillten: Ihre Siege waren totaler als alle anderen. Das zeigten die Schweizer bei Morgarten und Nancy, die barfüßigen katalanischen Bergsöldner im Kopaissee in Griechenland, wo sie im 13. Jahrhundert die Blüte der französischen Ritterschaft des besetzten Hellas niedermetzelten.

Der Alptraum des Feudalzeitalters war daher der allgemeine Bauernaufstand, die Jacquerie; so wie der Spartakus —, der Sklavenaufstand der Alptraum Roms gewesen war. Bei der Niederschlagung von Bauernaufständen wurden deshalb alle Gebote der Ritterlichkeit außer Kraft gesetzt — der ganze Fehdekomment der feudalen Offizierschicht, der bis ins 19. Jahrhundert hinein zu funktionieren schien, war restlos vergessen. Der weiße Terror, die Angstgeburt einer Oberschicht, die ihre Herrschaft bis in die Tiefe der letzten, existentiellen Begründungen hinein erschüttert sieht, hat seine Vorgeschichte in der Reaktion der Feudalen auf den Bauernkrieg.

Die Herrschaftsverhältnisse der Feudalzeit waren also verhältnismäßig einfach. Dienstleistung, wirkliche oder vorgebliche, an der Landwirtschaft — oder Raub an der Landwirtschaft: Dies waren die einzigen Möglichkeiten, das Wühlen im Dreck zu vermeiden und das Lebensgefühl des freien Jägers zu bewahren. Und dennoch, trotz der Brutalität des Dorflebens, trotz der Härte, mit der die Tribute eingetrieben wurden, trotz der tiefen Armut des frühen Mittelalters, trotz der existentiellen Verstümmelung durch den Fluch der Genesis: Es ergab sich Mehrwert, es ergaben sich Traditionen und Kenntnisse, die vom Vater zum Sohn weitergereicht wurden, es ergaben sich Lernprozesse, unter anderem in und durch die Klöster. Es ergab sich, teilweise als Folge solcher Prozesse, eine ständige Verbesserung der Produktionsformen vor allem im Spätmittelalter, in dem eine der entscheidenden technischen Revolutionen stattfand — wir haben schon des öfteren darüber gesprochen.

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Der europäische Bauer von der spätmittelalterlichen bis zur Barockzeit hat den Gegebenheiten, auch denen der Ökologie, den einzigen echten Fortschritt abgerungen, den die Menschheit seit den Tagen der Steinzeitjäger zu verzeichnen hat: Er hat die Ernährungsbasis verzehn-, ja verzwanzigfacht, ohne faule Wechsel auf die Zukunft seiner Erde und seiner Enkel ziehen zu müssen. 

Trotz der Verschwendung der Bodenrentennutzer trat bescheidener Wohlstand ein, und es entstand das, was europäische Dorf kultur war (bis vor kurzem — heute ist sie zerstört). Mit Kindern und Gesinde, mit Getier und Pflanze, mit Haus und Stall und Stadel und Gerät, mit differenzierten, aber leicht reparierbaren Werkzeugen, mit einem entsprechend differenzierten Wortschatz — für dies alles gelang ein echter, aus der Quantität dichter Seßhaftigkeit resultierender qualitativer Sprung — und er gelang in voller Übereinstimmung mit der Welt der alten Fruchtbarkeitsgötter, der volkskirchlichen Schutzheiligen, gelang mit einem Corpus von neuen, immer noch halb magisch-mythischen, aber durchaus wirksamen legends. Die Welt der Dörfer war weithin zu einem locus amoenus, das heißt zu einem Ort geworden, in dem angenehm zu leben ist.

 

Die archaische Steinzeitgesellschaft der Jäger und Sammler — die intensive Dorfkultur: Auf zwei verschiedenen Stufen war es der Menschheit gelungen, ihren Frieden mit der sie umhüllenden Welt der Materie und des Lebens zu machen — sicher keinen Frieden ohne Konflikt, sicher keine paradiesische Harmonie, aber einen Frieden, der Dauer wenigstens als Möglichkeit in sich trug. Der erste Friede hielt einige Jahrzehntausende; der zweite nur wenige Jahrhunderte.

Dabei war das Dorf, ob in Europa oder in Asien, keineswegs der ehrgeizigste Versuch, zur ökologischen Stabilität in einer Welt des fruchtbaren Ackerbaus zu gelangen. Ein wesentlich ehrgeizigerer war vorausgegangen — ein Versuch, der sehr viel kostete, nicht nur der Menschheit, sondern auch der übrigen Welt des Lebens.

Der Ackerbau hatte sicher nicht nach 6000 v. Chr. eingesetzt — man hat Spuren von Hirseanbau aus dieser Zeit gefunden.

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Die Erfahrung des erschöpften Bodens, der abnehmenden Fruchtbarkeit bei ausbleibender oder mangelhafter Pflege — diese Erfahrung konnte schon früh gemacht werden. Und man mußte auch begreifen, daß dabei mehr auf dem Spiel stand als seinerzeit für die verschwenderischen Mammutjäger. Damals ging es um ein paar Arten höherer, das heißt leichter entbehrlicher Fauna; aber im Fall des Ackerbauern geht es um die Erde selbst. Wird sie verdorben, ausgehagert, entwässert; wird das Bodenleben zerstört — dann entstehen Verluste, die oft in Jahrtausenden nicht mehr reversibel sind.

Die frühgeschichtlichen Ackerbaureiche wurden gegründet, um solchen Verlusten vorzubeugen. Was sie erreichten, war das Gegenteil. Sie, die Erbauer der ersten Städte, waren auch die ersten massiven Verderber des Bodens — auch und gerade deshalb, weil sie eine bis dahin (und in weite Zukunft hinein) unerreichte Höhe der Organisation erreichten.

Wieder ist bezeichnend, was die Bibel berichtet: Kain, so steht da, ist der erste Ackerbauer, und er begreift, daß sein Opfer dem Herrn nicht wohlgefällig ist — mit anderen Worten: Er begreift, daß der Ackerbau in die Entfremdung führt. Er tötet seinen glücklichen nomadischen Bruder. Ihm wird dafür das Mal des Mörders aufgebrannt — aber er selbst wird nicht getötet, sondern audrücklich durch das Wort des Herrn: »MEIN ist die Rache!« für tabu erklärt. Er geht hin und — gründet die Stadt.

Sie bietet dem Dörfler eine straffe Organisationsform an; straffer, als sie das Mittelalter je kannte. Fast sofort entstehen alle Merkmale einer wirkungsvollen Bürokratie: Tempel-, später Palastarchive, Hierarchien von Priestern und Beamten, kodifizierte Gesetze an Stelle der alten legends. Alles ist sofort kompliziert, sehr kompliziert — und damit sind alle Voraussetzungen für eine Form der Herrschaft gegeben, wie sie weder der Steinzeitjäger noch der primitive Bauer für möglich halten.

Angesichts der Ambitionen und der Schwierigkeiten dieser Reiche ist das kein Wunder. Sie entreißen ja die Fruchtbarkeit buchstäblich der Wüste; sie muß organisiert werden, um überhaupt zu existieren. Die Schlüsselstellungen des technischen knowhow sind die Kanalsysteme der künstlichen Bewässerung. 

Und der Himmel der Götter ist voll neuer, bisher

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unbekannter und drohender Beziehungen — zwischen den Sternen. Wahrend in der Stammesgesellschaft nur die schamanische Begabung, die Bedeutung der Träume und Gesichte so etwas wie religiösen Führungsanspruch verlieh (ein Anspruch, der sich im Prophetischen erhalten hat), entsteht hier Himmelswissenschaft: Astrologie, Theologie. Es entstehen immer neue Kombinationen von Göttern und Ritualen, es entstehen Kasten von priesterlichen Sakralhandwerkern und Nekromanten, Sterndeutern, Vorzeichenlesern.

Damit aber ändert sich auch die ganze Ausrichtung der Religion. War sie bisher unmittelbar Leistung für das kontinuierliche Leben des Stammes in seiner Beziehung zur Außen- und Umwelt gewesen, so bezieht sie sich jetzt auf ein Zwischenreich, das ohne sie gar nicht existieren würde. Zuoberst steht der Despot, die radikal neue Figur dieser Bewässerungsreiche und -städte. Er zieht alles Mana, alle heiligen Kräfte der Welt auf sich selbst. Die Totems verschwinden oder werden in fabelhafte Kombinationen eingeschmolzen: Greife, Sphinxe, Harpyen. Eigentliches >Heil< aber ist von ihnen nicht mehr zu erwarten, sondern nur mehr von den Gottkönig-Dynastien, in denen sich irdische und himmlische Herrscher mischen und verfilzen. Das, was wir >Natur< nennen, hat damit nichts zu tun.

Die Stadt, das ummauerte Viereck, weist mit ihren Verteidigungsanlagen, ihren künstlichen Hügeln, ihren engen Straßen und ziegelgesäumten Prozessionswegen nicht nur den möglichen Feind, sondern auch die Erde schroff ab — die Erde, von der man lebt. Mittelpunkt ist die Opferpyramide der Tempel, das Observatorium, später die Agorä oder die Plaza; immer aber sind es Vierecke, Muster der Abstraktion, die man auf die Erde zeichnet — Muster, die der umgebenden Ackerbaugesellschaft demonstrativ widersprechen. Nur in der Form des Gartens für den König und andere Privilegierte findet die Natur wieder Zugang — in Babylon schon in hängenden, das heißt auf Terrassen angelegten Gärten — oder in der Form gestutzter Kugelbäume und Rabatten auf der Plaza: Natur als gezähmtes, lizenziertes Vergnügen des Städters, der über sie verfügt.

Dieser neue Städter ist immer mehr Spezialist. Er ist zwar, jeder Logik nach, auch dazu da, der Fruchtbarkeit des Bodens zu

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dienen, wenn auch indirekt; aber sein Selbstgefühl bezieht er davon längst nicht mehr. Er fertigt zierliche Votivgaben aus Ton oder Gold; er lernt durch Keilzeichen Gesetze und Epen in den weichen Ton zu schreiben, er wird Sandalenmacher, Aufseher, Tempelprostituierte — alles Berufe jetzt, das heißt Fertigkeiten, die Lehrzeit, Unterweisung erfordern. Seine Sinne werden stumpfer, aber dafür wächst sein Wissen. Ein gewaltiges Erklärungssystem für Götter und Menschen ist notwendig, um dieses komplizierte Leben zu bewältigen — Leben in wachsender Unfreiheit. Diese Unfreiheit aber, so weiß er, ist nötig; denn ihr entspricht nicht nur die göttliche Macht des Herrschers, ihr entspricht die ganze, immer größer und mächtiger werdende Heilswelt, die sich als neue bioökologische Gattung über ihrem kollektiven Wirt, der Stadt, türmt, um Heil sicherzustellen — ja, wessen Heil, welches Heil?

Doch gerade das leistet die Despotie nicht, vermag sie nicht zu leisten: ewiges, dauernd gesichertes Heil, das heißt Fruchtbarkeit der Reichsregion. Sehen wir einmal von den späteren Stürmen — den arabischen, den Mongoleneinfällen — völlig ab; zentraler für unsere Betrachtung ist die Tatsache, daß intensive Bewässerung subtropischer Böden unweigerlich zu ihrer Versalzung führt.

Es gibt heute über diesen Vorgang eingehende Untersuchungen; ich folge hier der von Professor Karl-Heinz Kreeb, die 1972 in Umschau in Wissenschaft und Technik veröffentlicht worden ist. Er stellt zunächst fest, daß sich die allmähliche Verschiebung der mesopotamischen Kulturkreise von Süden (Uruk, Ur) nach Norden (Uruk, Nippur, zuletzt Babylon) bereits als Ausweichen vor der Versalzung deuten läßt. 

Geschichtliche Quellen belegen, daß es schon im Altertum mindestens drei große Epochen der Versalzung gab, und zwar immer nach Blütezeiten: 2400-1700 v.Chr. — dann 1300-900 v.Chr. — und dann eine bis 1300 n.Chr. Die Erträge nahmen dabei ständig ab. Noch wichtiger als Indiz ist die Verschiebung des Verhältnisses zwischen Weizen- und Gerstenbau: Weizen ist nicht salztolerant, wohl aber Gerste, 3000 v. Chr. wurden Weizen und Gerste zu gleichen Teilen angebaut, schon 2000 v.Chr. verschob sich das Verhältnis auf 1:50, und ab 1700 v.Chr. wird nur noch Gerste angebaut. 

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Heute ist es in Südmesopotamien unmöglich, die durch künstliche Bewässerung der Jahrtausende eingetretene Versalzung zu beseitigen — sie beträgt schon 18 kg auf den Kubikmeter Boden. (Drohende Versalzung, so hört man, ist heute auch im sowjetischen Turkestan im Gange.)

So war es den alten Bewässerungsreichen nicht beschieden, ihr wirkliches Heilsziel — die ewige Fruchtbarkeit — zu erreichen; trotz der ungeheuren Opfer, die sie der Gesellschaft auferlegten, trotz der fast völligen sozialen Erstarrung, trotz des furchtbar drohenden Antlitzes der Despotie.

Einen gänzlich anderen Weg schlugen von vornherein die Griechen ein. Sie waren Rebellen; Kinder von indogermanischen Kriegernomaden. Mühsame Stabilität, die sanfte Idiotie des Landlebens (wie das ein paar Jahrtausende später der hellenisch gebildete Abenteurer Friedrich Engels nennen sollte) waren von vornherein nichts für sie. Sie hegten zu lebhafte Erinnerungen an das genetische Erbe der Menschheit: an das jägerische Abenteuer der Ferne. Sie dehnten es auf die See aus, sie kniffen die Augen gegen das Wetter zusammen, sie waren schnell, beutetüchtig. Die Standbilder ihrer Jünglinge bewahren die Harmonie sportlich und kriegerisch gestählter Muskeln. Ihnen, den Hellenen, war es vorbehalten, die Bürde des Bevölkerungswachstums mit dem Abenteuer zu kombinieren. Das wurde das Prinzip der Polis.

Erst in ihr ist die moderne Stadt vorgebildet; nicht in den starren Hierarchien der theokratischen Bewässerer. Anfangs, gewiß, war jede Polis eine autarke Ackerbaustadt, und in den ersten Verfassungen wird der Rang der Bürger noch durch die Höhe der jährlichen Ernteerträge bestimmt: Es gibt Fünfhundert-Scheffel-Männer, Dreihundert-Scheffel-Männer und so fort. Aber das ändert sich rasch. Die Polis wird zur ausgreifenden Macht, die Handel treibt und Kolonien gründet. Ökologische Entfremdung setzt ein — früh in mörderischem Umfang. Schon das klassische Athen hatte, wie wir von Piaton wissen, den Waldbestand Attikas erschöpft und holte sich das Holz für seine Land- und Schiffsbauten, ja die Nahrung für seine Menschen in immer größerem Umfang aus immer weiter ge-

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streuten Pflanzstädten und Handelsregionen. In den Schatzhäusern des Attischen Bundes, dessen Vormacht (und man kann ruhig hinzufügen: dessen Herrscherin und Ausbeuterin) Athen war, häuften sich die Schätze der Ferne und die Tribute der Unterjochten. Hermes, so drückte es die griechische Mythologie in schöner Offenheit aus, ist der Gott der Diebe, der Seeräuber, der Kaufleute. Schöne Menschen ziehen aus, Menschen mit lockigen Haaren und Barten, Menschen mit den schönsten Waffen und Vasen und Gedichten der bekannten Welt. Ihre Götter sind Menschen wie sie: ebenso schlau, ebenso heiter, ebenso traurig und verantwortungslos. Die Eule der Athene, die Kuhaugen der Hera erinnern noch von ferne an die alte animistische Verwobenheit alles Lebendigen — aber diese Erinnerung wird immer mehr zum rein künstlerischen Attribut, zur Identifizierungshilfe, nichts weiter.

Diese Hellenen handeln, sie beschwatzen aimylioisi logoisi, mit gleißnerischen Worten, wie es bei Homer heißt. Sie schließen Verträge, und wenn sie ihnen nicht mehr in den Kauffahrteikram passen, dann brechen sie dieselben, fallen wie die Raubvögel über eine alte Stadt her und lassen alles, Mann und Frau und Kind, über die Klinge springen, und ihre Dichter machen die schönsten Epen der Welt daraus. Überall sind sie gefürchtet — und geliebt. Ihr Geschmack ist noch mächtiger als ihre Waffen, er macht griechisches Design, vom Tempel bis zur Münze, zu einem der wichtigsten Exportartikel bis in den Beginn der Neuzeit hinein. Karthago ist, längst ehe es von Rom den Todesstoß erhält, diesem Monopol erlegen. Im Museum auf dem Byrsahügel zu Karthago sind Vasen griechischen Musters zu sehen, welche die desperaten Punier von etruskischen Firmen plagiieren ließen, um Karthagos (und Etruriens) Märkte im westlichen Mittelmeer halten zu können. Und die Münzen, die dort ausgestellt sind, stammen auch von Griechen (die Karthager selbst prägten keine) — es sind die schönsten Münzen der Welt, die Drachmen aus Syrakus mit dem Bildnis der Quellnymphe Arethusa und des springenden Delphins.

Aber folgen wir nicht weiter dem Gang der griechischen Geschichte (sosehr sie noch heute mitzureißen vermag)! Beschränken wir uns auf die Polis und ihr Verhältnis zur nicht-menschlichen Welt. Die Polis ist von Anfang an Ergebnis eines trade-off, eines Handelstausches, bei dem die Ernährungsbasis und die Rohstoffgewinnung nach außen verlagert werden. Die Handelsbedingungen aber, die terms of trade, werden zugunsten des städtischen Händlers, Plünderers, Kaufmanns, Räubers manipuliert. So können diese, wenigstens psychosomatisch, zu den herrlichen Zeiten der Jäger zurückkehren, Beute wartet hinter dem jeweils nächsten Höhenzug, wartet hinter den gekrümmten Horizonten der See.

Aber der Beutemacher löst sich endgültig von der ökologischen Basis seiner Existenz. Er dispensiert sich von ihren Kreisläufen, schiebt die Belastung den Unterworfenen oder den Übervorteilten zu, plündert ihre Wälder, wie er die seinen geplündert hat, nimmt ihnen das Erz, das Eisen, die Bronze ab, die er zu Hause nicht mehr vorfindet.

Dieses Muster erhält sich bis in unsere Tage hinein, bis in die Problematik der sogenannten Dritten und Vierten Welt. Die auf Kosten anderer befreite Polis aber wird selbst zum Kunstwerk — ein Erbe, das sie an die italienische Signorie des Mittelalters und der Renaissance weitergibt.

Äußerste Instabilität ist damit eingeleitet. Aber daß sie wirklich gefährlich in Gang kommt, daß, wie unsere modernen Beutemacher sagen, der Motor wirklich brummt — dafür ist noch eine weitere Entwicklung erforderlich, die ungeheuerlichste von allen: die Entwicklung der Zentralmacht.

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