Die Dialektik der Zentralmacht
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Die Bildung von Zentralmacht in jedem Sinne — politisch, militärisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich — ist in der historischen Evidenz einfach, einleuchtend, auch einleuchtend-brutal. Eine Nomadenhorde ohne ausreichende Weidegründe bietet sich in einer ackerbauenden Region als »Beschützer« an; ein starker Mann mit einer persönlichen Gefolgschaft bietet sich an, die Bauern vor diesen Beschützern zu beschützen, und er wird zum König gesalbt.
Eine Stadt errichtet einen Markt, gibt den Bauern Gelegenheit, ihre Waren, das heißt ihren Überschuß, zu veräußern — sie wird Zentralmacht in doppelter Weise: Erstens monopolisiert sie diese Dienstleistung und zahlt Beiträge, die ein Drittel bis ein Viertel des Endpreises für den Verbraucher darstellen (siehe noch heute die Preisschere zwischen Erzeuger und Lebensmittelgeschäft) — und zweitens versucht sie, andere Märkte zu verdrängen, zu beherrschen oder auszuschalten.
Solche Zentralmacht wird komplizierter, wird philosophisch-metaphysisch immer gewissenhafter untermauert, wird aber andererseits ökologisch immer verantwortungsloser. Die Stadt, die ihr eigenes Umland leergefressen hat, mausert sich zur Vormacht eines Handels- und Räuberbundes.
Der Stadtkönig, dessen Untertanen über ausgepowerte Felder, über Dürre wegen abgeholzter Wälder und Mißwuchs klagen, organisiert mit Hilfe einer Priester- und Beamtenschaft ein Bewässerungssystem, das ihn nicht nur zum Wohltäter, sondern zum unentbehrlichen Nervenzentrum des ländlichen Wirtsorganismus macht. Der König eines Landes, zu dem gehäufte Klagen über die Grausamkeit und Willkür der ursprünglichen Beschützer, nämlich der Feudalherren, dringen, schafft einen Apparat — eine Beamtenschaft, eine stehende Armee —, mit dem er die alten, einfacheren Parasiten entmachtet — dafür einen neuen, oft noch kostspieligeren Parasiten an ihre Stelle setzt.
Doch wäre es offensichtlich falsch, solche Entwicklung zur Zentralmacht einlinig und monokausal zu sehen und zu beschreiben. Neben der blinden biologischen Evolution zur nächsthöheren parasitären Ordnung wirkt ja — oft im Gegensatz oder doch in scheinbarem Gegensatz dazu — ein »überorganischer Faktor«, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die Hoffnung, alte Lebensordnungen gegen den Übermut der unmittelbaren Beschützer bzw. Plünderer zu bewahren.
»Herr, gib dem König deine Gerechtigkeit!« In diesem Gebet des Psalmisten läßt sich diese dialektische, aus dem Konflikt geborene Wirkung der Zentralmacht zusammenfassen. Die Gerechtigkeit des Königs soll die Gerechtigkeit Gottes sein; das heißt nichts anderes, als daß die zu höherer Anarchie gewordene Herrschaft der <älteren> und <kleineren> Parasiten gezähmt, wenn möglich gebrochen werden soll, um Gleichheit vor dem Gesetz zu schaffen.
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Solche Gerechtigkeit ist durchaus, wenn auch auf eine mythische Weise, mit dem Wohlergehen nicht nur des Menschen, sondern des Landes verbunden. Alle Sterndeuterei; alle chinesischen Kaisermodelle; aber auch der Gerechtigkeitsbegriff des Alten Testamentes, wenigstens der Königszeit, gehen davon aus, daß dem Walten irdischer Gerechtigkeit auch kosmische Huld entspricht oder doch entsprechen sollte. Die berühmte Prophetie vom Löwen, der neben dem Lamm liegen werde, geht von solcher Verknüpfung menschlicher mit allgemein irdischer und kosmischer Gerechtigkeit genauso aus wie die schon zitierte Stelle aus Menzius — der Rat an den König Hui von Liang.
Letzten Endes leitet sich alle »Metaphysik« der Zentralmacht, leitet sich ihr verinnerlichter Daseinszweck aus diesem — angenommenen — Zusammenfall von menschlicher und kosmischer Gerechtigkeit ab. Der Tatbestand der »Majestätsbeleidigung« ist überhaupt nur dann strafrechtlich sinnvoll, wenn nicht nur die jeweilige mehr oder weniger uninteressante Person des Königs, sondern seine kosmischbewahrende Kraft, der Fundus der »Gerechtigkeit« vor frevelhaftem Angriff geschützt werden muß. Und in voller Übereinstimmung mit solcher Gnadenkraft des Königtums (bis ins Mittelalter hinein lebendig in der Anschauung, daß die Berührung durch den König bestimmte Krankheiten zu heilen vermag) entstehen im Alten und Neuen Testament auch die entsprechenden Theorien der »Verwirkung«, sündigt der Herrscher, sündigt sein Haus selbst gegen den kosmischen Harmonie- und Gerechtigkeitsauftrag, ist seine Legitimität vor Gott verwirkt.
Es liegt auf der Hand, daß solche theokratische Verknüpfung den jeweiligen Trägern der Zentralmacht nicht ins Konzept passen konnte. Der Gefahr einer theologischen Absetzung durch Priester oder Propheten mußte daher stets besonders gründlich entgegengetreten werden. Mit anderen Worten: Das Prinzip der Tribute aus der Landwirtschaft und des Raubes an der Landwirtschaft, damit auch an der Erde, mußte möglichst in den Hintergrund gedrängt, möglichst überschattet werden, sobald der unmittelbare Anlaß der Zentralisierung, die »Gerechtigkeit des Königs«, seine zeitbedingte Legitimität zu verlieren drohte.
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So werden Probleme, die im Tribalismus, also in der alten Stammesgemeinschaft, ob sie nun aus Jägern, Nomaden oder schon aus Ackerbauern bestand, gar keine Probleme waren, zu den zentralen, ja den einzigen Problemen der Geschichtsschreibung und der Politik gemacht. Auf Tausenden von Historien- und Chronikseiten werden die äußeren und inneren Siege der Herrscher verewigt — alles vor einem selbstverständlichen und selbstverständlich verschwiegenen Hintergrund der Ausbeutung. Diese Ausbeutung betraf sowohl die landwirtschaftlich produzierende, überwältigende Mehrheit als auch den Boden, die Materie, denen man beiden keine eigene geschichtliche Potenz mehr zugestand. Herstellung von Macht gegen innere und äußere Feinde: Das ist die genaue Beschreibung dieses neuen Zentralthemas der Geschichte.
Am besten illustriert den Hintergrund, den logischen Hintergrund solcher Zentralisierung eine Geschichte aus der Frühzeit der römischen Republik. Die Plebejer, also doch die eigentlich produktive und wohl auch ursprünglich ansässige Mehrheit der Bevölkerung, ist des Regimes der Patrizier überdrüssig (vermutlich einer Klasse, die ihre Stammbäume aus der Zeit der etruskischen Oberherrschaft ableitet) und beschließt die Sezession. Sie zieht auf einen nahegelegenen Hügel und beginnt mit der Gründung einer eigenen Stadt.
Menenius Agrippa, ein vornehmer und geistreicher Patrizier, wird zum Retter Roms, was heißen soll des bisherigen Herrschaftssystems. Er sucht die Plebejer auf und erzählt ihnen die Fabel von den Organen des Körpers, die sich gegen den Magen, den Parasiten erhoben. Sie warfen ihm vor, auf ihre Kosten zu leben, und riefen den Antimagenstreik aus. Menenius Agrippa, so will es die Legende, hatte Erfolg mit seiner kleinen Geschichte: Die Plebejer ließen sich überzeugen, daß sie ohne Verdauungsorgan nicht existieren konnten, und kehrten in die Mauern der urbs zurück.
Eine der Folgen dieser kurzen Sezession war nach römischem Bericht das Volkstribunat — eine Einrichtung, welche weises Zurückweichen der alten Herrschaft in die Verfassung verankerte.
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Das bedeutet jedoch nichts anderes, als daß jede Macht (Rom war erst auf dem Wege zur Zentralmacht) ihre eigenen Folgelasten in Form von Randgruppen produziert, die erst dann gefährlich werden, wenn sie einen bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung umfassen — und sich politisch organisieren. Zu ihrer Besänftigung wird einerseits der Volkstribun — und andererseits die Metapher vom >Organismus< herangezogen, die wir weit bis in unsere Generation hinein als konservatives Argument kennen. Zur entscheidenden Rechtfertigung der Zentralmacht wird aber auch hier — das Gesetz.
Die christliche Königs- bzw. Kaiseridee war sicher einer der bewegendsten Versuche, die blinde, »freiheitliche« Wucherung der Ausbeutung durch ein übergeordnetes Gesetz zu bändigen. Witwen und Waisen zu schützen war ja die wichtigste moralische und politische Weisung Gottes an diese Kaiser und Könige — was bedeutet, daß sie vor allem Randgruppen, Abfall, Abraum zu schützen haben.
In der feudalen Praxis hat dies wenig genug bewirkt. Die Zentralmacht mußte sich, wie die Dinge lagen, letzten Endes doch immer mit den »Großen« arrangieren — und auch die vielgerühmten Anfänge westeuropäischer Freiheit, wie etwa die Magna Charta, waren zunächst und vor vielem anderen erfolgreiche Versuche, die königliche Zentralmacht an der praktischen Ausübung ihrer antiausbeuterischen Aufgabe zu hindern: Die Feinde des Königs, welche die Charta ertrotzten, waren ja keine Bauern und Gemeinen, sondern Lords Große des Reiches, die sich sehr merkwürdig vorgekommen wären, hätte man die Prinzipien dieses Papiers auf ihre eigenen Beziehungen zu ihren Untertanen übertragen.
Das reinste und gleichzeitig wirkungsloseste Beispiel hat der Beginn der Neuzeit hervorgebracht. Es waren die Nuevas Leyes, die >neuen Gesetze< Kaiser Karls V., die er in seiner Eigenschaft als König von Spanien und Herr der neuen Territorien in Amerika erließ.
Das Gesetzeswerk entstand unter dem unmittelbaren Eindruck, den die furchtlosen und erschütternden Berichte des Dominikaners Las Casas beim Kaiser hervorriefen. Sie sollten die weitere Ausrottung und Folterung der Indios verhindern. Über die Köpfe der Praxis und der Praktiker hinweg dekretierte Karl 1542 eine Schutzgesetzgebung, die erst Jahrhunderte später ähnlich >sozial< vorzufinden ist, etwa auf dem Höhepunkt des Industriezeitalters.
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Die neuen Gesetze erklärten die Indianer zu gleichberechtigten Untertanen, verboten die Frauen- und Kinderarbeit und setzten für die indianischen Arbeiter einen Acht-Stunden-Tag fest. Der erste Richter, den der Kaiser zur Durchsetzung dieser Anordnungen nach Peru schickte, war ein alter, eiserner Gerechtigkeitsfanatiker; nach seiner Ankunft bestand er darauf, nicht von einer weißen, sondern von einer indianischen Eskorte nach Lima begleitet zu werden. Die Ausbeuter schäumten; Alarmreiter fegten dem eisernen Richter voraus, allenthalben im besetzten Inkareich erscholl bei den Konquistadoren, die gerade dabei waren, es sich bequem zu machen, der Ruf: »Unsere Freiheiten sind in Gefahr!«
Unsere Freiheiten, tatsächlich. Die christlich gesalbte Schutzidee, das heißt die ethische Rechtfertigung für die Zentralmacht an sich, stößt in der Praxis immer wieder auf den erbitterten Widerstand jener, welche sich weigern, die Kosten für diesen Schutz zu tragen. In unseren Tagen und in unseren Breiten hat sich dieser Widerstand völlig konsequent auf Entwicklungshilfe und Umweltschutz verlagert.
Englische und andere Piratenhaie schlachteten die Silberflotten; Frankreich finanzierte Gustav Adolf, um Mitteleuropa den Spaniern zu entreißen. Dreißig Jahre lang wurde Deutschland zum Vietnam der Barockzeit, zum Schauplatz eines Kampfes zwischen Lebewesen, die längst jeden Zusammenhang mit dem tatsächlichen Leben (dem der Untertanen und ihrer ökologischen Umwelt) verloren hatten. Der Kampf fand vor dem Hintergrund der selbstverständlichen Verschwendung aller Ressourcen, einschließlich der menschlichen, statt: Das Überleben und Größerwerden der Zentralmacht war zum zentralen Anliegen geworden, und es ist dies bis in unsere Tage hinein, die Tage des Overkill, der >Sowjetmacht< und der bewaffneten Präsenz< der USA, geblieben.
Damit wird die Zentralmacht selbst zum Verbündeten der Wüste. Sie hat dies bisher am effektvollsten im Deutschland des Dreißigjährigen Krieges — und im Vietnam des dreißigjährigen Krieges unseres Jahrhunderts demonstriert.
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Es ist logisch, daß sich damit auch die Kennzeichen für politische und administrative >Tüchtigkeit< ändern mußten. Die beste Organisation war nicht mehr die, welche den Untertanen am meisten Wohltaten brachte oder die ökonomisch-ökologische Stabilität sicherte — es war vielmehr die, welche die Ressourcen des beherrschenden Territoriums mit den geringsten Reibungsverlusten durch die kürzesten Kanäle an die richtige Stelle, das heißt an den Hof oder die Zentralbürokratie, zu leiten versteht.
Dieser Hof, diese Zentralbürokratie verstanden und verstehen sich nun als die eigentlichen Subjekte der Geschichte — was immer man vor dem lieben Gott oder der Geschichte aus religiösen oder progagandistischen Gründen vorschützt, um diese neue Subjektdarstellung zu rechtfertigen.
Diese neuen zentralmächtigen Geschichtssubjekte stellten zunächst die erste Maschine her, die es im >modernen< Sinne gibt: das Heer. Sie hatte Bestandteile toter Materie: Bronze, Eisen, Stahl, Holz. Sie hatte vor allem einen stattlichen Prozentsatz an biologischer Materie, in Form von Zehntausenden von Gäulen, ohne die es nicht ging; vor allem aber bestand die neue Maschine aus Menschen — genormten Menschen.
Meist denkt man zuvörderst an das preußische Heer, wenn dieser Aspekt der Normung zur Sprache kommt; und in der Tat war die Maschine Friedrichs des Großen vermutlich die perfekteste des 18. Jahrhunderts. Aber vor ihm hatten sie andere zumindestens anzuwenden versucht: Karl XII. von Schweden etwa, oder auch die hannoveranischen Engländer. Gleichschritt im Gleichtakt; der Drill, der die alten Säfte der Panik, des Überlebenwollens, aber auch der unzweckmäßigen Bravour des Einzelkämpfers unterdrückt; Pawlowsche Reaktionen des zurechtgeschliffenen, genormten Maschinenteils auf den eingedrillten Befehl — unter solchen Umständen konnte jeder halbwegs gutgebaute Bursche, der die Prügel und den Stumpfsinn aushielt, als standardisiertes Teilchen in die Maschine eingebaut werden.
Damit erst war der Untertan als <Militärperson> interessant; vorher waren die Zentralmächte immer gezwungen gewesen, sich auf tatsächliche oder künstlich privilegierte Wilde zu stützen — entweder Söldner oder ihre eigenen Feudalen, welche die Tugenden, aber auch die höchst zweifelhaft-anarchischen Laster der Jägerzeit konservierten.
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Eines der besten Beispiele für die Art und Weise, wie der Drill die alten Kampfestugenden ablöste und erledigte, stammt übrigens nicht aus preußischen, sondern aus englisch-hannoveranischen Beständen. Der Aufstand von 1745/46 (in vieler Hinsicht ein Lehrbeispiel, das uns noch zu beschäftigen haben wird) verbreitete zum letzten Mal das Entsetzen vor den unwiderstehlichen Kelten des schottischen Hochlands. Ihr Schockangriff mit Pistole, Schild und Schwert triumphierte noch einmal — bei Prestonpans und Falkirk.
Das Hauptproblem war, daß der Einzelkämpfer mit Schild und Schwert das längere — also potentiell gefährlichere — Bajonett von vorn zu unterlaufen vermochte. William von Cumberland, der Sieger von Culloden, drillte nun seine Rotröcke auf indirekten Nahkampf. Jeder Mann in der vordersten Linie hatte nicht mehr seinen unmittelbaren Gegner zu bekämpfen, sondern den Mann rechts vor ihm, dessen Schilddeckung er umgehen konnte. Voraussetzung war allerdings, daß die Maschine funktionierte, das heißt, daß im Ernstfall die natürliche Panik, der Instinkt, sich gegen den unmittelbaren Angriff zu wehren, nicht den Sieg über den Drill davontrug.
Und der Drill siegte, die letzten Einzelkämpfer Europas verschwanden.
Die Standardisierung von Geräten kam also später auf als die Standardisierung von Menschen — und als sie kam, war sie bezeichnenderweise wieder eine Standardisierung von Waffen: in Amerika wurden die ersten Musketen im Teilstückverfahren nach vorgeschriebenen Abmessungen und Toleranzen fabriziert.
Aber nicht die Waffenproduktion wurde zum wichtigsten, zum entscheidenden Signum der Industrialisierung; dieses Signum lieferten vielmehr drei Erfindungen, die jede für sich betrachtet werden müssen, um die Größe und die Natur des Umsturzes zu erfassen. Es handelt sich um die Dampfmaschine, den Gin, das heißt die Baumwollentkernungsmaschine, und den mechanischen Webstuhl.
Die Bedeutung der Dampfmaschine ist klar.
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Sie verschiebt, wenigstens theoretisch, das Problem der Energieausbeutung und damit der wahrnehmbarsten Formen der Sklaverei in die sogenannte unbelebte Materie. Statt fünfzig Pferden hat man nun die 50-PS-Maschine (die Umrechnung stimmt nur mechanisch, aber das wird von nun an so bleiben) oder auch die 100-MS-(Menschenstärken)-Maschine: Eine Lieblingsverwendung von Strafgefangenen im frühindustriellen England, die Beschäftigung im Tretrad, wird sinnlos, das heißt unrentabel. Freilich entstehen fast sofort die neuen Folgelasten: die Verschmutzung der Städte und der Landschaft, der jäh steigende Bedarf an fossilen Brennstoffen und an Eisen und Stahl — und, langfristig das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit.
Der Gin gehört wenigstens der Definition nach in die älteste Kategorie nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeit: Er ist ein Angebot an eben diese Landwirtschaft. Er ermöglicht es einem bestimmten Produktionszweig, nämlich dem Baumwollanbau, sich zu kommerzialisieren. Sein Vorhandensein ermöglichte das Aufsteigen der südstaatlichen Pflanzeraristokratie in Amerika — und damit die Sezession.
Unmittelbar, aber doch wohl typisch wirksam, wurde dieses Angebot durch seine Vereinzelung, seine UnvoUkommenheit. Die Cotton-Produktion wurde nämlich nicht total, sondern nur partiell mechanisiert; die ideale Ergänzung, nämlich die Baumwollpflückmaschine, wurde erst anderthalb Jahrhunderte später anwendbar. Der Baumwollanbau, die zerstörerischste Monokultur, die bisher ihren historischen Weg gehen konnte, ist insgesamt eine Maschine, die fünf Generationen lang aus einer Kombination von mechanischen (Gin, Ölmühle) und menschlich-biologischen Teilen (den Baumwollpflückern) besteht.
Die menschlichen Rädchen der Maschine sind beliebig austauschbar, ihr Wert bestimmt sich ausschließlich aus der Verwendbarkeit und ihrem Arbeitsausstoß pro Tag oder Saison — ideale Voraussetzungen für die Sklaverei, die dann auch zum Schicksal des Südens wurde. Die prinzipielle Argumentation der Südstaatenideologie, nämlich das relativ sichere Los des agrikulturellen Sklaven, verglichen etwa mit dem des frühindustriellen Industriearbeiters im Yankee-Norden, war bereits Frucht und Resultat eines zurückgebliebenen Bewußtseins — des Bewußtseins nämlich, das seine Wurzeln im vorindustriellen Pflanzersüden hatte.
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Wer, wie der Verfasser, noch als einer der letzten manuellen Baumwollpflücker im alten Süden tätig war (1943/45), konnte feststellen, wie trügerisch dieses Selbstbewußtsein und dieses Selbstverständnis des Südens sich auswirkte. Vom mechanischen Teil der Maschine her, nämlich den Inhabern der Gins und Ölmühlen, wurde der vorindustrielle Teil, nämlich die alte Gesellschaft des ländlichen Südens, ruiniert — durch die Kapitalknappheit der Farmer gerieten sie zwangsläufig und immer schneller in die Peonage der Banken.
Der mechanische Webstuhl vollends führte in die eigentliche Problematik des Industriezeitalters hinein: die endgültige Loslösung der Produktion von den Bedürfnissen und Fakten des Menschen als eines Bewohners der Erde. Was der mechanische Webstuhl an menschlichem Entsetzen generierte (etwa die notorische Kinderarbeit, die lange für die mechanische Weberei kennzeichnend war), ist von besseren Autoren längst ausführlich dokumentiert worden. Hier interessiert ein anderer, nämlich der Konsumaspekt.
Die massenhafte Manufaktur von Baumwollgeweben schafft die erste scharfe Konkurrenz im Konsumbereich, und sie schafft das, was man die imperialistische Konsumstrategie nennen kann: die Perpetration des ganzen Planeten mit dem zunächst ganz rational scheinenden, in Wahrheit aber bereits künstlichen Massenverbrauch. Sie sagen Gott und meinen Kattun: Dieses bittere Wort eines deutschen Romanciers jener Zeit über die Engländer (im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde es weidlich von den Deutschen ausgeschlachtet, die ihrerseits längst Gott sagten und Krupp meinten) ist insofern sehr genau, als tatsächlich die Missionare, welche den prüden Zwang zur Blößenbedeckung über ahnungslose Kontinente verbreiteten, damit auch einen ständig expandierenden Markt für die Maschinen von Manchester und Birmingham schufen.
Damit werden nicht nur wichtige Teile der Primärversorgung (eben der mit Kleidung und Wasche) der kapitalistisch-industriellen Maschine eingegliedert und der individuellen oder handwerklichen Konsequenz entzogen: Es entsteht der künstliche Kreislauf des Reichtums. Immer größer wird der Prozentsatz, der Anteil dieses Reichtums an dem, was man heute als das Bruttosozialprodukt bezeichnet.
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Der künstliche Kreislauf erst löst das kollektive Bewußtsein von den Grundvoraussetzungen menschlicher Existenz ab — von dem ganz simplen Bewußtsein, das durch Jahrhunderttausende das Bewußtsein des Menschen gewesen ist: Daß nämlich letzten Endes alles auf die Erde und ihr laufendes Energieeinkommen, nämlich die Sonneneinstrahlung (als solche erlebt oder in Form von fossilen und ähnlichen Brennstoffen kapitalisiert) hinausläuft.
Zwar bleibt jede menschliche Produktion unverrückbar das, was Marx als »Stoffwechsel mit der Natur« bezeichnet; aber die sinnlich überschaubaren Einzelheiten dieses Stoffwechsels, die jeder Bauer jedes Erntejahr an den Erträgen seiner mehr oder weniger gut gedüngten Felder nachlesen kann und konnte, entziehen sich nun dem allgemeinen Bewußtsein. »Reichtum« wird nun überall dort generiert, wo produziert bzw. Produkte ausgetauscht werden (alles Nähere kann man den ersten Kapiteln des Kapital entnehmen) — und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Produktion einem tatsächlichen Gebrauchsbedürfnis entspricht oder ihm nur mittelbar bzw. überhaupt nicht zugute kommt.
Es ist hier nicht der Ort, Binsenweisheiten aus der Geschichte der neuesten Zeit zu wiederholen. Wichtig für uns ist, daß erst dieses Prinzip des künstlichen Kreislaufs die beiden ökologisch verderblichsten Praktiken der Menschheitsgeschichte erzwingt: das ständige Ziehen von Wechseln auf die Zukunft (in Form von Verschleuderung der Ressourcen) und das Entstehen eines neuen Menschentypus, des vierten nach dem Jäger, dem Bauern und dem Handelsstädter: des Proletariers.
Was >Proletarier< zu deutsch heißt und wie ihn Marx definierte, ist bekannt. Im Zuge unserer eigenen Betrachtungen können wir aber eine zusätzliche Definition geben, die vielleicht sogar den Vorteil größerer Trennschärfe für sich hat — zumal in unseren Tagen, wo das alte Kriterium der >Verelendung< immer weniger benützt werden kann.
Nach dem Jäger und Sammler, der in relativ stetiger, wenn auch immer gefährdeter und vom Mangel begleiteter Harmonie mit der nichtmenschlichen Welt lebte; nach dem Bauern, der diese Harmonie nur um den Preis körperlicher und psychischer Opfer erkaufen kann; und nach dem Städter und Händler, der sich eine trügerische psychosomatische Freiheit durch rücksichtslose Plünderung der Ressourcen einhandelt, ist der Proletarier der Typus, der alle Nachteile der vorhergegangenen Typen in seiner Lebensweise vereinigt.
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Er hat sich endgültig vom Boden gelöst — aber er ist dadurch keineswegs freizügiger geworden, im Gegenteil. Seine Tätigkeit ist körperlich wie psychisch völlig einseitig, und sie wird in dem Maße, in dem die Maschine, also die organisierte unbelebte Materie, in den Vordergrund der Produktion tritt, immer einseitiger. Die impulsive Kreativität des Städters alter Art, die sich aus der Anhäufung von Kommunikation und knowhow ergibt, ist ihm von vornherein verwehrt. Der alte Handwerker, oft genug an verrückte Kundenwünsche und starres Zunftwesen gebunden, war ein schöpferischer Gigant verglichen mit dem Mann, der Frau oder dem Kind am Webstuhl oder am Fließband.
Was an Kreativität in maschinenproduzierte Produkte eingeht, ist von vornherein arbeitsteilig völlig vom Arbeiter abgelöst, ist völlig an die bezahlten Spezialisten des Design, der Modelle, der Zeichenbüros abgetreten. Das Slumviertel, das Wohnquartier wird dem Proletarier zum Dorf mit seinen engen Grenzen, die Monotonie, oft genug die akute gesundheitliche Gefährdung am Arbeitsplatz wird ihm zu Dornen und Disteln — aber niemals ist ihm auch die Genugtuung gegönnt, die Frucht seiner Mühen als fertiges, sinnlich erfahrbares Produkt in die eigenen Scheuern zu fuhren.
Daß eine solche Produktionsweise nur durch Kapital organisierbar ist, dürfen wir, zumindest seit Karl Marx, als bekannt voraussetzen. Dieses Kapital wird zur nächsten und letzten, zur menschheitsgeschichtlich wirksamsten Zentralmacht überhaupt. Es ist deshalb nur konsequent, daß der Marxismus, das heißt die Schriften des frühen Marx, genau dort ansetzt, wo auch die konservative Kritik am Industriesystem immer angesetzt hat: am Problem der Entfremdung. Der Werdegang dieser Entfremdung; das welthistorische Verbrechen, das in der Hervorbringung des >vierten Typus< gipfelt, die moralische Widerwärtigkeit des Systems ist der Leidenschaftsmotor, der Marx ebenso antreibt wie die Frühsozialisten oder (um Namen zu nennen) die christliche Maschinenstürmerei der romantisch-restaurativen Epoche.
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Marxens entscheidender Fortschritt ist — ob das unsere heutigen Konservativen wahrhaben wollen oder nicht — seine konsequent historische Interpretation der Erscheinung; das Abrücken vom Moralisieren und das Denken vom Materialistischen her, also von der materiellen Produktion. Damit haben wir zum ersten Mal den entscheidenden Hebelansatz, den archimedischen Punkt der Kritik.
Aber — und damit wollen wir nur das Problem andeuten, das uns später noch zu beschäftigen hat — es entsteht mit diesem Ansatz sofort ein neues Dilemma. Es findet seinen Ausdruck in der sonderbaren Ambivalenz des Marxismus, vor allem der Ambivalenz seiner Imperative. Einerseits wird das System (wie wir meinen, zu Recht) in Grund und Boden kritisiert — andererseits wird der Entfaltung der Produktivkräfte als solcher das Privileg des entscheidenden Fortschritts durchaus eingeräumt.
Einerseits wird die neue Zentralmacht, das Kapital, zu Recht als unabdingbare Voraussetzung des neuen Zustandes analysiert — andererseits wird eine Produktionsform, welche aufs genaueste solcher zentralmächtiger Organisationsweise entspricht, nämlich die industriell-mechanistische, mit fast religiösem Pathos als Errungenschaft gefeiert und festgehalten. Einerseits wird mit einmaligem Scharfblick und ungeheurer Wirkung das immanente Elend des Proletariers beschrieben - andererseits wird die Wurzel seiner Entfremdung, nämlich die Produktionsform, der er unterliegt, der Erlösung in einem »qualitativen Sprung« für würdig und fähig erachtet, der bescheidenstenfalls eine psychologisch-seelsorgliche, meistens jedoch eine absolut religiös-metaphysische Größe ist. Darüber wird später, unter dem Titel der möglichen Perspektiven, noch ausführlicher zu handeln sein.
Runden wir unseren historischen Gang ab, indem wir den letzten, ebenso logischen wie irrsinnigen Schritt erwähnen: die Unterwerfung der natürlichen Reproduktionskreisläufe unter die Gesetzmäßigkeiten des künstlichen, des industriellen Kreislaufs. Das Schicksal des amerikanischen Südens war bereits eine vollwertige Lektion in dieser Entwicklung.
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Was wir zur Zeit in Europa erleben, nämlich den Tod des alten europäischen Dorfes, entspricht vollauf diesem Paradigma.
Das sogenannte Wirtschaftswachstum, in und von den Städten erfunden, getragen oder vielmehr gefordert von parasitärer Zentralmacht, bietet zunächst der Landwirtschaft ihre trügerische Hilfe an. Es bietet Märkte, Techniken, organisatorische Vorteile jeder Art, Kapitalausstattung an. Aber in dem Maße, in dem der trügerische Symbiont schneller wächst als das Wirtstier, die Landwirtschaft, wird der Vertrag immer einseitiger zugunsten der Stadt bzw. der Zentralmacht interpretiert und praktiziert, das politische und ökonomische Nervensystem des Wirtsorganismus, das Bauerntum, wird vollständig gelähmt oder eliminiert, und das sogenannte Gemeinwohl wird immer entschiedener nach den Erfordernissen des Parasiten definiert. Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist die notwendige Folge. Der Parasit legt seine sogenannten Produktionsgesetze, also die Gesetze eines künstlichen Kreislaufs der Akkumulation (zugunsten des Kapitals oder seiner bürokratischen Nachfolgeorganisation), dem Wirt auf.
Da dieser Wirt aber nicht so sehr das Bauerntum selbst als die Produktionskraft, das Produktionspotential der lebendigen Materie ist, sorgt der Parasit für seinen eigenen beschleunigten Untergang. Dieser wird zwar kaschiert, aber nur unausweichlicher gemacht durch die Organisationstechnik der Städte, die im mer eine solche der faulen Wechsel auf die Zukunft war. Jede, aber auch jede Ertragssteigerung der Landwirtschaft mit Hilfe des gegenwärtigen Systems läuft auf einen solchen faulen Wechsel hinaus, auf die Anhäufung einer wahnwitzigen Schuldenlast: Aushagerung der Böden, Verarmung der Artenpalette, Eutrophierung der Gewässer - all das sind unvermeidliche Folgen einer ländlichen Betiebswirtschaft, die auf dem industriellen Prinzip der augenblicklichen Ertragssteigerung (meist ohne Einkommenssteigerung) beruht. Wachstum in solchem Zusammenhang ist letzten Endes immer nur das Wachstum des Parasiten, während das Wirtstier, die Erde, zusehends verkümmert.
Die klassische Kontrollinstanz des demokratischen Zeitalters - besser gesagt: Seine Kontrollinstanzen, vom Parlament bis zu den Gewerkschaften, sind völlig außerstande, die historischen Schutzfunktionen der Zentralmacht wahrzunehmen, weil eine echte, das heißt mit Macht ausgestattete Interessenvertretung des Verletzlichsten (etwa des Bodenlebens) immer mit der blinden biologischen Ausbeutungstendenz der Parasiten rechnen muß.
Noch mehr gilt dies selbstverständlich von den modernsten, den parasitärsten Zentralmächten des Planeten: den großen Machtkombinationen der internationalen Politik und Wirtschaft. Zwischen ihnen, in trauter Zusammenarbeit zwischen Multinationalen und Weltentwicklern jeder Art (man denke an die Zusammenarbeit zwischen der deutschen Schwerindustrie und der UdSSR oder auch das 16-Milliarden-Dollar-Geschäft zwischen ITT und Moskau) wird der Planet zur Wüste gemacht, und zwar auch ohne das beschleunigende Eingreifen der interkontinentalen Atomraketen.
Zudem häufen sie - wegen der wachsenden Entfernung zwischen den sogenannten Machtträgern und den sogenannten >lokalen< Problemen - den menschlichen, psychischen, sozialen Abraum zu Bergen, die bereits drohend unsere gesamte politische und gesellschaftliche Landschaft umringen. Die bisherigen Regierungen und Administrationen, denen man diese Abfallproblematik zuschiebt, übernehmen immer mehr die Rolle der jeweiligen territorialen Gesundheits-, Wohlfahrts- und Müllbeseitigungspolizei. Dies gilt für die Regierung in Warschau oder Budapest nicht minder als für die in Bonn oder Brüssel.
Das Muster, das wir hier aus den Prämissen des ökologischen Materialismus zu entwickeln versuchten, hat keine glatte Absage an die bisherigen materialistischen Versuche zum Inhalt. Unser Muster sollte vielmehr wie ein auf transparentes Material gezeichnetes Design über die bisherigen Erkenntnisse gelegt werden, um ihnen eine neue, eben die ökologische Perspektive hinzuzufügen. Dennoch soll man sich nicht täuschen: Oft genug wird dies zu einer völligen Umwertung der bisherigen Wertungen führen.
Der beste Ansatzpunkt für solche Neu- und Umwertungen ist das Schicksal des jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, menschlichen Abschaums oder Abraums. Er ging nicht immer klaglos unter, verrottete nicht immer stumm und schweigend auf den Müllhalden der Geschichte. Immer und immer wieder versuchte er, sein Recht auf Eigenwert und Eigengesetzlichkeit geltend zu machen, immer wieder brach er aus seiner Wüste hervor und hat sich zu Wort und Mord gemeldet: Caliban für die einen, die neuen Verkünder des Fortschritts - Abel für die anderen, Schlachtopfer, erschlagen im Dienst des Molochs im Zentraltempel.
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