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Die Rache des Abschaums 

 

 

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Geschichte, so heißt es, wird von den Siegern geschrieben. Und so wurde auch die Geschichte der ökologischen Entfremdung des Menschen von denen geschrieben, die dabei Sieger zu sein glaubten, aber dennoch: Wie fragwürdig war und ist dieser Sieg immer gewesen, wie viele Zweifel und Ängste, ja Gewissens­bisse haben sich von Anfang an in den Becher des Sieges gemischt! 

Die Spuren dieser Ängste und Skrupel sind allenthalben in unserer Erinnerung vorzufinden. Und so ist es trotz allem möglich, die Geschichte dessen zu schreiben, was der entfremdete Sieger vernichtet zu haben glaubt: die Geschichte der Wüste, des Abraums, des Ungeziefers; die Geschichte derer, die scheinbar unterlagen und dennoch Rache nahmen und nehmen - oft eine höchst hinterlistige, indirekte Rache.

Für die Fortschrittsgläubigen, für die im wahren Geschichtsverständnis und damit im Verständnis ihrer eigenen ausbeuterischen Praxis jeweils Gefestigten ist die Geschichte des Abschaums zunächst ein Ärgernis, nicht viel mehr. Man ist überzeugt von der Berechtigung, diesen Abschaum zu beseitigen, und kommt sich noch tugendhaft vor, wenn man sich etwa statt des Genozids, das heißt der physischen Vernichtung eines Stammes oder Volkes, auf den Ethnozid, das heißt die Vernichtung seines Selbstbewußtseins und seiner Kultur beschränkt. Dennoch war und ist der Weg des Siegers durch die Leichenhaufen stets von Gesten der Beschwichtigung begleitet. Wichtig ist dabei, daß diese Gesten nicht allzuviel kosten und vor allem den sogenannten Fortschritt nicht aufhalten dürfen. 

In Zeitaltern, die sich noch als christlich empfanden, war das verhältnismäßig einfach:

Man schickte den tödlich Bedrohten, den schon vom Untergang Gezeichneten, Missionare, damit sie wenigstens ihre Seelen retten konnten. Höchstwahrscheinlich war der Zynismus, der uns in solcher Missionsarbeit (von den Tagen der Spanier bis in die Gegenwart) zu stecken scheint, objektiv kleiner als der, welcher heute in den Beziehungen zwischen sogenannten Hochentwickelten und sogenannten Primitiven herrscht. Denn immerhin war auch der Mehrheit der Aggressoren die Rettung der Seele subjektiv sehr wichtig und mochte einer Mehrheit tatsächlich als fairer Kaufpreis für das irdische Ungemach erscheinen, das man dem menschlichen Ungeziefer antat und antun mußte.

Heute sind an die Stelle der Missionierung die Propanda oder die sogenannten public relations getreten. Man gibt etwa im Amerika von heute den kläglichen Resten der Seminole-Indianer ein paar tausend Hektar Boden, denen der Utahs eine Ölquelle, denen der Natchez einen heiligen Baum zurück. Man weist in aufrichtigen Broschüren nach, daß das, was man treibt, nicht Ausbeutung und Entfremdung, sondern Verbesserung und Entwicklung sei. 

Und in der Tat:

Verbesserung und Entwicklung sind die beiden einzigen Kategorien, in denen altes, monokausales Fortschrittsdenken den Gang der Welt zu deuten vermag. Dies ist keineswegs auf die Gegenwart beschränkt - ihre manchmal tödlichen Formen der Entwicklungshilfe. Schon im England der Tudors waren die Landbesitzer der Meinung, daß ihre Vertreibung der Freibauern vom Land und die Anlage sogenannter enclosures, also weitläufiger Schafgehege, dem Nutzen des Gemeinwohls diene. Dreihundert Jahre später, in Schottland, folgten die sogenannten clearances, die Säuberung der Landschaft von keltischem Ungeziefer. Die Landlords, so etwa der notorische Sutherland, bezeichneten dies ausdrücklich als improvement, als Verbesserung, und zwar war die Landräumung die Voraussetzung für eine angemessene Bodenrente. Was bei solchem Veredelungsprozeß des vorgefundenen Landes an Menschen oder an Gesellschaften draufgeht, was sich nicht in das Veredelungsprodukt <Fortschritt> verwandeln läßt, ist dann eben Ungeziefer, Abraum, Abschaum.

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Differenzierter wird das Fortschrittsproblem in der Dialektik des Marxismus. 

Indem sie den Konflikt zum Werkzeug des Fortschritts ernennt, sieht sie zunächst zwei Partner, zwei Kräfte, die sich messen, und der Ausgang des Konflikts, die Synthese, ist die Aufhebung der beiden Kontrahenten in etwas Neues, eine fortgeschrittene Stufe der Entwicklung. 

So ist etwa, um das bekannteste Beispiel zu nennen, die künftige klassenlose Gesellschaft keineswegs als <Vernichtung> der Bourgeoisie zu verstehen, vielmehr als ihre <Aufhebung>, in der, zum Beispiel, die wichtigsten Errungenschaften des bürgerlichen Kulturerbes nicht nur bewahrt, sondern sogar erst auf ihren wirklichen Wert, ihren Begriff gebracht werden.

So weit, so gut. Aber wie sähe eine solche Dialektik in der historischen Praxis aus, wenn man sie konkret anwendet? Wie sieht sie de facto dort aus, wo es Minoritätenprobleme, und zwar solche mit echtem zivilisatorischem Gefälle, in den kommunistisch regierten Staaten gibt?

Es gibt, um gleich konkret zu werden, im sowjetischen Machtbereich kein einziges Minoritätenproblem, keine Nationalitätenfrage, keine Frage der Seßhaftmachung alter Nomadenstämme oder der <Weiterentwicklung> alter, religiös bestimmter Kulturen, die nicht im Sinne der alten monokausalen Fortschrittspraxis, also entweder durch Genozid oder durch Ethnozid gelöst worden wäre oder würde. Es gibt trotz Lenin (des frühen Lenin, muß man hinzufügen) keine bleibenden Grundsätze, welche ein marxistisches System daran hindern könnten, eine Minderheit so zu behandeln, daß sie zumindest als kulturelle Entität zu bestehen aufhörte.

Es gibt ferner auf der ganzen Welt keine Genozid- bzw. Ethnozid-Praxis, die von sozialistischen Staaten und ihren propagandistischen Helfern nicht stillschweigend geduldet, ja kalt gerechtfertigt würde, wenn es um die unmittelbaren Eigeninteressen oder um Interessen von augenblicklichen Verbündeten ging oder geht.

Ist alles bei solchen Kreuz- und Quersprüngen der dialektischen Propaganda reiner Zynismus? 

Nun, eine gute Portion ist natürlich dabei, aber es wäre falsch, darin nichts anderes zu sehen. Die Unsicherheit liegt im Prinzipiellen. 

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Nehmen wir, nur des Arguments halber, einmal einen Sozialismus mit hundertprozentig menschlichem Antlitz an - einen Marxismus, der sich als strikten Humanismus versteht und ihm mit Hilfe seines Geschichts- und Praxisverständnisses gerecht zu werden versucht.

Dieser Marxismus hätte sich, wie wir alle, mit einer Welt zu befassen, in der mehrere Millionen oder mehrere hundert Millionen täglich und stündlich mit dem Hungertod rechnen müssen, in der andererseits am Amazonasstrom und anderswo noch Stämme leben, deren Lebensweise eine Maximaldichte von ein bis zwei Menschen auf den Quadratkilometer erlaubt. Nach jeder Regel des Fortschritts und der Menschlichkeit wäre ein solcher Zustand unerträglich. Die Schaffung von Reservaten würde daran nicht viel ändern, weil die Reservate entsprechend großgehalten werden müßten, um den Stämmen ihre bisherige Produktionsweise und damit ihre Identität zu garantieren.

Die Antwort wäre also auf jeden Fall Ethnozid; und es wäre kindisch, es anders zu nennen. Man würde die Indianer oder Samojeden oder um wen es sich sonst handeln mag, mit mehr oder weniger sanften Mitteln zu einer anderen Lebensweise überreden müssen. Da solche Stämme in der Regel sehr hartnäckig sind und zudem meist den Tod verachten, wird es sich meist um weniger sanfte Mittel handeln. Der zünftige humane Marxist würde also kaum um einen Deut anders handeln als sein kapitalistischer Vorfahr dies in Amerika, oder als sein kosakischer Urgroßvater dies in Sibirien tat; jedenfalls nicht im Prinzip. Einige >menschliche Härten< ließen sich vielleicht vermeiden; sie liefen in der Praxis auf den Unterschied zwischen Schlachtung mit oder ohne Betäubung hinaus - auf eine humane Tierschutzgesetzgebung. Die Schlachthöfe blieben stehen.

Dies wäre keineswegs ein rein praktisches Problem, es ist vielmehr die notwendige prinzipielle Folge der marxistischen Geschichtsbetrachtung. Wieder wird die Ambivalenz lebendig, die wir schon im vorigen Kapitel besprochen haben: Wenn man zwar herrschaftsfreie, ausbeutungsfreie Verhältnisse anstrebt, aber den einzig möglichen Durchgang zu solchen Verhältnissen in der <Entfaltung der Produktivkräfte> sieht, muß diese Entfaltung der Produktivkräfte - und zwar ihre globale Entfaltung in der Weise der materiellen Produktionssteigerung - an der Spitze aller Erfordernisse stehen.

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Nun verurteilt aber solche Entfaltung, wie wir gesehen haben, alle Betroffenen unweigerlich zur nächsten Stufe der Entfremdung; die Widerstandskräfte, die sie einsetzen - traditionelle, regionale, nationale, kulturelle, religiöse Widerstandskräfte -, sind nichts anderes als das Resultat dieses unerträglichen Bewußtseins.

Dieser Widerstand aber, das ist bereits Rache des Abschaums - Rache aus der jeweiligen Wüste. Gegen ihn muß Macht eingesetzt werden - ob es sich nun um >Sowjetmacht< oder die Siebte US-Kavallerie handelt.

Zunächst wird dieser Widerstand zum militärischen Problem für die Entwickelten. Da diese bereits einen Schritt weiter von der Natur entfernt, das heißt entfremdet sind, ist das militärische Problem häufig von beachtlichem Ausmaß. Da der Wilde, der Steppenreiter, der Barbar weder Etappe noch ernsthafte Nachschubprobleme kennt; da er immer Krieger ist, und zwar ein Krieger, der in hervorragender Angepaßtheit an die Umwelt -ans Terrain, seine Ressourcen und Eigenheiten - operiert, da er um vieles bedürfnisloser, härter, schneller und todesgewandter ist als der Gegner, ist seine Abwehr oder seine Ausmerzung stets kostspielig.

Für die Römer war er sozusagen ein konstantes Problem, das in der konstanten Form des Limes gelöst werden sollte. Wie bekannt, hat er nicht allzu lange gehalten. Die Legion, die ursprünglich an die Effizienz moderner organisatorischer Todesmaschinen heranreichte, erwies sich als zu kostspielig und zu kostbar für den ständigen Grenzkrieg; und Rom verfiel auf den Ausweg, der immer und immer wieder versucht wurde: Es kaufte sich Wilde. Es kaufte sich Goten, Wandalen, Sueben, Stämme, die untereinander ohnehin verfeindet waren, und konnte nur hoffen, daß es den Barbaren nie einfiel, sich auf Kosten der zahlenden Zentralmacht zu vereinigen. Als die Gefahren sich vervielfältigten, die Inflation Westroms unbesiegbar wurde, blieb nichts anderes mehr übrig, als die Barbaren aus der eigentlichen Reichssubstanz, nämlich mit Reichsland, zu bezahlen. Die bekannte Folge dieser Ausverkaufspolitik war die Völker­wanderung.

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Die Bezahlung natürlicher oder künstlicher Wilder war und blieb das zentrale Mittel zur Zivilisationsverteidigung gegen die Barbarei. Ebenso blieb es beim römischen divide et impera, das heißt bei der Methode, die Kleinverbände der Wilden politisch gegeneinander auszuspielen.

Darin besteht ein Paradox dieses ersten, klassischen Widerstands aus der Wüste: Die ökologische Angepaßtheit und damit Gefährlichkeit des Wilden setzt eine geringe Bevölkerungsdichte und einen damit verbundenen Unwillen zur Schaffung einer starken Führungsgewalt voraus. Die notorische <Freiheitsliebe> kleiner Stämme ist also eher das Resultat als die Voraussetzung solcher ökologischer Bedingungen. Nur wenn es einer überragenden charismatischen Figur gelingt, große Scharen von Jägern oder Reitern unter ihrem Befehl zu einigen, werden die Söhne der Wüste oder der Steppe unwiderstehlich und zur Geißel der Seßhaften. Man kennt ihre Namen aus den Geschichtsbüchern. Man weiß aber auch, daß die Bedingungen des ökologisch intakten Raumes einer Kontinuität solchen Widerstands, ihrer erblichen oder konstitutionellen Festigung, nicht günstig sind. 

Weder Dschingis Kahn noch die Kalifen wurden zu Gründern langlebiger Zentralreiche.

Die Regel aber war eine andere. Die Regel war die Verwendung der Crow-lndianer gegen ihre Erbfeinde, die Dakotas und die Cheyennes; war die Ausspielung des protestantischen Clans Campbell gegen die katholischen MacDonalds oder Frazers; war die Bewaffnung der Waräger oder Petschenegen gegen ihre Nachbarn, die Bulgaren. So siegte in jahrhundertelangem, bedächtigem Vormarsch die immer weiterentwickelte Zentralmacht der Seßhaften über die zerstreuten Kinder der Wüsten und Wälder - siegte über sie, indem sie immer mehr Tribute und Dienstleistungen von denen einzog, die sie angeblich beschützte.

Wurden diese Tribute und Dienstleistungen groß und zahlreich genug, konnte man auch gelegentlich zur nächsthöheren Stufe der Abwehr übergehen; zur Schaffung künstlicher Wilder. 

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Im Grunde ist noch heute jeder Soldat ein solcher: Er wird aus dem sogenannten >normalen<, das heißt zivilisierten Leben herausgenommen und zu höchstmöglicher körperlicher Härte erzogen, auf eine Kondition gebracht, die es ihm erlaubt, wenigstens annäherungsweise an die Effizienz des Wilden heranzukommen. Alle Versuche, diese Effizienz durch hochentwickelte Waffen zu ersetzen, haben diese Notwendigkeit nicht völlig beseitigen können. Selbst in den Militärmaschinen der Moderne sitzt noch irgendwo der künstliche Wilde - der <Bürger in Uniform> ist und bleibt insofern ein Paradox.

Die Traditionen des Soldatentums haben diesen Status des <künstlichen Wilden> immer stillschweigend anerkannt. Noch im Verhältnis der zahmen Kasernierten von heute, sagen wir zur Zivilbevölkerung, vor allem der weiblichen, wirkt dieses Privileg nach. Eine Mischung aus Verachtung und Mitleid (wobei etwa bei den Chinesen die Verachtung, in der alten deutschen Tradition das Mitleid überwog), die sich im Kriegsfall in Furcht verwandelt, und zwar eine Furcht, die den <Eigenen> meist ebenso gilt wie den <Fremden>, bestimmte und bestimmt das Verhältnis des Bauern und Bürgers zum Soldatenstand. Letzten Endes ist das Soldatentum eine Konzession an die Barbarei; es kommt nur darauf an, wie realistisch sich die Praxis - etwa die Militärgesetzgebung, das Standrecht und ähnliche Organisationsversuche - an diese Tatsache anpaßt.

Die manchmal wehmütige, ja nostalgische Erinnerung sogenannter Veteranen an ihre Soldatenzeit widerspricht dem überhaupt nicht, ja bestätigt die Grundbefindlichkeit. Man muß nur das vierte oder das fünfte halbe Bier abwarten, um zum nervus rerum zu kommen: zu den zerschlagenen Fässern in Feindesland, zum erotischen Abenteuer, zur Indianergeschichte. Hier erhebt sich, aus der Brust abendländischer Kriegsteilnehmer, so etwas wie ein grotesker Paradiesmythus: der Mythus vom Felde, in dem der Mann noch was wert war.

 

Aber haftet nicht letzten Endes jedem Paradiesmythus dieser Ruch des Vor- und Frühzeitlichen, des Wilden und Freien an? Gewiß: Der echte, der redliche Paradiesmythus hat wenig oder fast nichts mit blutiger Gewalt zu tun, im Gegenteil. 

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Aber er ist immer die Vision einer menschenleeren, einer naturwüchsigen Welt ohne Werkzeuge. Er ist das Bild einer Welt unkomplizierter, harmonischer Beziehungen zwischen Mensch und Tier; einer Welt der Nacktheit, das heißt der minimalen Bedürfnisse; einer Welt des Edlen Wilden.

Man hat nun, auf dem Höhepunkt zeitgenössischen Fortschrittsglaubens, versucht, dieses menschliche Allgemeingut, diese Paradiesvorstellung sozusagen wie einen Handschuh umzudrehen. Man hat den Traum von der Paradiesheimat als einen Sehnsuchtsentwurf in die Zukunft hineininterpretiert, einen Entwurf, dem wir erst nachzuleben, den wir erst einzuholen hätten. Paradies, das wäre demnach Endverheißung, nicht Heimweh nach dem verlorenen Ursprung.

Daran ist viel Interessantes - und wohl auch viel Wahres. Vorgebildet, sicherlich, und eingeprägt hat sich diese Zukunftsfunktion des Paradieses durch die christlich-jüdische Tradition. Ihre Eschatologien entsprachen und entsprechen einer chronologischen Aufteilung des Paradieses in Ursprung und Verheißung: Am Anfang steht der Garten Eden, am Ende der Heilsgeschichte wird der neue Himmel, die neue Erde stehen.

Aber rechtfertigt dies die totale Uminterpretation? Ist der Garten Eden von vornherein nichts anderes als eine mehr oder weniger geglückte Projektion des Ziels, der >Heimat< Ernst Blochs etwa, in die nur noch geahnte, aber niemals so wirkliche Vergangenheit?

Das >Material< des Paradieses oder der Paradiese spricht gegen solche Annahme. Dieses Material ist so konkret von Gegebenheiten menschlicher Frühzeit bestimmt; ist so innig mit uns bekannten Tatsachen ursprünglicher Wildheit verbunden, daß seine Interpretation als reine Ziel- oder Wunschvorstellung einfach eine glatte Vergewaltigung darstellt. Nacktheit; korrekte Beziehungen zur Natur; Abwesenheit von Herrschaft - und von Spannungen, die durch Herrschaft erzeugt werden; Bedürfnislosigkeit; Gleichmut; das sind, in einer oder der anderen Kombination, immer die Bausteine des Paradiesbildes. Und vor allem: Sein Ende wird immer als Katastrophe geschildert, als Abstieg oder Vertreibung. Nein, hier ist tatsächlich Heimweh am Werk; Bewußtsein des Kainsmals auch, das man durch Erschlagen des schlichteren Bruders - des menschlichen oder tierischen -

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erworben; Haß gegen das Werkzeug, Haß auch gegen die Organisation, der wir in unserer Unvollkommenheit bedürfen. Ja, Werkzeug und Organisation, Voraussicht und Augenblicksentbehrung im Dienste der Zukunft: Das sind immer die Bösewichte in der Geschichte der Paradiesvertreibung: Folgen, Garanten, oft auch Ursachen des labor improbus, der den Menschen an die Scholle fesselt und die Materie, vor allem die lebendige Materie, unheilig mißbraucht.

Das klingt sentimental - aber sentimental sind die echten Paradiesgeschichten nie gewesen, dafür stand in ihnen zuviel auf dem Spiel, ganz wörtlich genommen. Und sprechen wir auch das Komplizierte daran aus - jenes Komplizierte, das sich in den Geschichten des paradiesischen Endreichs verkörpert: Ein echtes Paradies der Rückkehr ist, das weiß dieses ganze Heimweh, endgültig versperrt. Was noch gelingen kann, allenfalls, das ist ein Paradies unter Hereinnahme dessen, was man durchgemacht hat als Menschheit: Ein neuer Himmel, eine neue Stadt - kein neuer Garten Eden; herrschaftsfreie und klassenlose Gesellschaft nach Entfaltung der Produktivkräfte - keine Rückkehr zu Rousseaus Edlem Wilden. 

Denn (und das ist sicher bezeichnend): Die Wilden, die man kennt, kommen in keinem Paradiesmythus als Modell, als sozusagen von vornherein Ausgesparte und Erlöser vor. Dazu waren alte Bauern- oder Hirtenkulturen schlechthin nicht fähig. Den Mörder, der an den Grenzen der Mark lauert, als den ursprünglichen Adam anerkennen? Ein offenbarer Wahnwitz. Da saß nicht der Adam von Genesis Eins oder der Edelmensch des Goldenen Zeitalters. Da saß der Wilde, der Waldmensch, le sauvage (vom lateinischen silvaticus), der Beduine (vom arabischen bedu, die Wüste); Mörder und Lügner allesamt, in denen man nichts zu sehen vermochte als Gewürm (varmint, wie die weißen Amerikaner ihre indianischen Nachbarn nannten). 

Sie waren alle schlicht als Geißel zu betrachten, als Pest, als Naturkatastrophe. Höchstens, wenn sie aufhörten eine Gefahr zu sein, mochte man sich, etwas scheu angesichts ihrer vorzeitlichen Begabungen, auf eine Art Koexistenz mit ihnen einlassen: mit den rätoromanischen salvangs, den Bergwaldmenschen der Dolomitensagen oder den Erd- und Heinzelmännchen der Deutschen.

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Nein, das Modellbild des Edlen Wilden hat mit den ursprünglichen Paradiesen wenig zu tun. Es stammt aus einer anderen, einer Spätzeit, der Zeit einer städtischen oder höfischen Romantik, die viel distanziertere Bewußtseinszustände voraussetzt.

Zunächst ist festzustellen, daß solche Romantik meist auch das Bäuerliche bereits ins Paradiesmaterial einbezieht. Sie hat mit einer korrekten Beobachtung des Jäger- oder Bauerndaseins allerdings nichts zu tun. Romantisch erklärtes einfaches Leben, romantisch illuminierter Ahnenwald oder romantisch beleuchtete Beduinenwüste sind ausgebeutete Szenerien - ausgebeutet als Gefühlsvorlage, zu einem bestimmten Unterhaltungs- und Erbauungseffekt. Sie sind von allen Realitäten der Arbeit, des Schmerzes und des Todes gereinigt, und sie dienen zunächst einer aristokratischen Oberschicht, dann einer rentenschweren Bourgeoisie als Gefühlsvorlage. Vom locus amoenus der antiken bukolischen Dichter (dem angenehmen Plätzchen unterm Feigen- oder Olivenbaum neben der gefaßten Quelle und dem Thymianstrauch) über die naiv von den Alten abgeschriebenen Gärtlein, die hortuli der mittelalterlichen Kloster-Pandekten, über dieses champetres der Rokokohöfe bis zum folkloristisch aufgebügelten Sardinien (oder Oberbayern) der modernen Reichen zieht sich diese unverbindliche Romantik.

Daneben aber wird ein neuer Ton hörbar - ein politischer Ton. Er klingt schon in der Tendenzschrift Germania des Tacitus an und wird mit Rousseau zum politisch-gesellschaftlichen Radikalprogramm. Dieses Programm, das des Edlen Wilden, ist zunächst nur Denunziation: Anklage der eigenen überkomplizierten, parasitären, verderbten Zivilisationsstufe durch Vergleich mit einem einfacheren Dasein in Frömmigkeit, Kraft und Würde.

Solche Denunziation ist in vielfacher Form in die neueste Geschichte eingedrungen. Man mache sich einmal klar, daß sie (natürlich in sehr vielen Varianten) sowohl dem anarchistisch-frühsozialistischen wie dem Blut und Boden-Credo der Nazis zahlreiche Stichworte geliefert hat. Beide Zweige der Jugendbewegung, der rechte wie der linke Zweig, haben solche Stichworte aufgenommen und vermittelt.

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In einer bestimmten Formulierung, nämlich in der Schrift von Friedrich Engels über den <Ursprung von Ehe, Staat und Eigentum>, treten die Irokesen Amerikas an die Stelle der taciteischen Germanen. Auch in dieser Heranziehung der Indianer (die übrigens auf Grund einer einzigen Quelle, also ziemlich falsch, beschrieben werden) steckt noch ein gutes Stück Rousseauscher Wildenromantik.

Freilich, in ihr war zu diesem späten Zeitpunkt schon viel verzweifelte und echte Erkenntnis am Werk. Nicht nur die Jägerstämme, sondern auch das Dorf war ja bereits dabei, zum Abraum zu werden - und die Bauern zur Randgruppe. Das war nicht mehr die psychosoziale Deklassierung des Bauern durch das Feudalzeitalter; jetzt ist die ganze Landwirtschaft erkrankt, seit das Rentabilitätsprinzip die Märkte beherrscht. Der Subsistenzbauer, das heißt der Bauer, der sich und die Seinen aus den vielfältigen Erzeugnissen seiner Hofstelle ernährt, steht im wirtschaftlichen Zwielicht, das in unserem Europa des 20. Jahrhunderts zur Nacht wird - eine Nacht, die wir nun unsererseits auf die Milliarden Hackbauern der ganzen Welt ausdehnen wollen.

Diese Krankheit verläuft nicht ohne politisches Fieber, nicht ohne politischen Widerstand. Im Gegenteil: Der Widerstand des Dorfes gegen das neue Rentabilitätsprinzip und seine Handlanger wird eine Konstante der neueren europäischen und amerikanischen Geschichte. Aber auch diese Geschichte wird (oder wurde) von Siegern geschrieben oder doch von solchen, die es werden wollen: Der jahrhundertelange, herzbrechende Kampf der Dörfer gegen das Industrieprinzip wird so interpretiert, wie das vorkopernikanische Weltbild gewisse Ähnlichkeiten der Planetenbahnen interpretierte: Als groteske rückwärtsgewandte Schleifen und Schlenker in einem sonst rationalen und vernünftigen Lauf. Bestenfalls mochte man diesen Reaktionen der Jacquerie und der Vendee, des Tiroler Bauernaufstandes oder des amerikanischen Bimetallismus noch einen gewissen >dialektischen< Wert zugestehen - wobei der Lorbeerkranz der >Synthese< in solch immer möglicher dialektischer Parteilichkeit nie den Unterlegenen gereicht wurde -, sonst wären es eben keine Unterlegenen.

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Das Dorf litt in diesem Kampf von Anfang an unter dem gleichen Handikap, das vorher die Wilden gegen die Zentralmacht unterliegen ließ: Die ökologischen Bedingungen der ländlichen Siedlungsweise erschwerten eine rasche, effektive Organisation. Zudem mußte der Wille des Dorfes, wenn er sich selbst organisieren wollte, immer höchst mühsam von dem organisatorischen Monopol der Parasiten abgelöst werden - ein ungeheuer schwieriger Prozeß.

Die Bauern, ohnehin meist traditionsbewußter als ihre Gegner, suchten mit diesem Problem oft dadurch fertig zu werden, daß sie Verbündete bei alten Fahnen, alten Prätendenten, alten Ständen suchten, die ebenfalls ihre Schwierigkeiten mit der neuen Zeit hatten, aber organisationsgewohnter waren (oder doch sein sollten) als sie. Der Prätendent, der Prinz, der richtige oder falsche, als Kristallisationskern der Bauernrevolte spielt deshalb in der Geschichte eine Rolle, die ebenso wichtig wie für >progressive< Geschichtsschreibung ärgerlich ist. Ebenso wichtig und ärgerlich wie der falsche Demetrios, der Bonnie Prince Charlie, der verdächtige Großneffe ist etwa die Allianz der todgeweihten deutschen Ritterschaft mit den Haufen des Bauernkrieges.

Diese Bündnisse waren keineswegs nur von Zweckmäßigkeit bestimmt (soweit >Zweckmäßigkeit< überhaupt ein Kriterium echter Volksbewegungen sein soll und darf). In der rückständigen Buntheit alter Verhältnisse, dem Festhalten an vertrackten alten Wappen und Fahnen, drückt sich der selten artikulierte, aber trotzdem berechtigte Verdacht der Rückständigen aus, daß ihnen im Namen des FORTSCHRITTS das Fell über die Ohren gezogen wurde und wird; daß in ihrem way of life, in ihrem Festhalten an unrentablen, aber relativ freundlichen Verkehrsformen, ein wirkliches Anliegen des Menschen, des ganz konkreten Menschen, verborgen ist - eben sein Anliegen, nicht zum Abraum von heute und morgen zu werden.

Wie schon erwähnt, teilte sich dieses Bewußtsein auch durchaus den Führern der Gegenseite mit - des sogenannten Fortschritts. 

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Wie sonst wäre es zu erklären, daß kein Gegner mit den brutalen, repressiven, an Genozid heranreichenden oder diesen Tatbestand erfüllenden Mitteln bekämpft wurde, wie die Rebellion der >Rückständigen<? Deutscher Bauernkrieg, Vendee, spanische Guerilla, Tiroler Volkserhebung, Highlander-Aufstand von 1715 und 1745: Bei diesen Gelegenheiten galten keine der Konventionen und zivilisierten Kriegsregeln, auf welche die Parasiten sonst so stolz waren:

Der gleiche William von Cumberland, der seinen französischen Offizierspartnern auf dem Schlachtfeld von Fontenoy die Ehre der ersten Salve anbot, ließ die Stuart-Rebellen von 1745/46 aufs viehischste niedermetzeln, exekutieren, in Gefangenenschiffen verrotten, ausdärmen, durch Plünderung ihrer Subsistenz­grundlage und massive Enteignung zugrunde gehen.

Die gleiche Französische Revolution, welche eben die Menschenrechte verkündet hatte, erkannte sie systematisch den Aufständischen der Vendee und den spanischen Guerilleros ab.

Die russische Revolution, die unter der Parole von Brot und Frieden, also mit Hilfe der Bauernmassen, gesiegt hatte, schritt zum systematischen Kulaken-Massaker.

Sowohl was die Häufigkeit und die Tapferkeit der Kämpfer, aber auch was die Blutrünstigkeit der Repression betrifft, erreichen diese Aufstände der >Gestrigen< einen Rekord, welcher den der geglückten oder mißglückten >fortschrittlichen< Kriege und Revolutionen weit übertrifft.

In den Republiken und Verfassungsmonarchien der neuesten Zeit taucht eine neue Form dieses Kampfes auf - und zwar in dem Augenblick, wo es den Subsistenzbauern möglich ist, sich politisch zu formieren. So entsteht der Populismus im engeren Sinne: eine der zweideutigsten, interpretativ unangenehmsten Erscheinungen der Parteiengeschichte. Hier seien drei seiner typischen Ausprägungen erwähnt: der Popularismus in Amerika, in Bayern und in Osteuropa.

Die Weißen des Mittelwestens, durch die zweifelhaften Segnungen der Zentralmacht vom Indianerterror befreit, wurden flugs zu Opfern der übelsten kapitalistischen Spekulation. Freie Homesteader, die mit Blut und Schweiß ihre Farmen erkauft hatten, fanden sich über Nacht als Hintersassen irgendeiner Eisenbahnlinie, deren Aufsichtsräte (meist gleichzeitig Bankiers) eben die entsprechenden Gesetze in Washington durchgeboxt hatten. 

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Die Würgeschlinge des Kredits und der anderen undurchsichtigen Machenschaften der Ostküste traten an die Stelle des Tomahawks und des Skalpmessers.

Nun waren diese bisher freien Farmer der lächerlichen Meinung, daß die amerikanische Republik auf die Prinzipien der Mayflower und der Verfassung, also auf die Freiheit und Gleichheit der Landbesitzer, aufgebaut sei und daß die neue Entwicklung solche Prinzipien zur Farce mache. So wurde der Populismus der Farmer und des ganzen Mittelwestens geboren - ein Populismus, ohne den man, gerade als Europäer, entscheidende Aspekte der amerikanischen Innenpolitik nie verstehen wird.

Sein gewaltigster Führer wurde der irische Politiker und Demokrat William Jennings Bryan, der das ungeheure Wort hinausschrie: »You shall not nail the people to a cross of gold - Ihr sollt das Volk nicht an ein Kreuz aus Gold nageln!« Seine Rhetorik und der Impuls der Bewegung trugen ihn auf wenige Schritte ans Weiße Haus heran.

In diesem Farmer-Populismus war und blieb viel Rückständiges am Werk - viel alter Bibelfundamentalismus, viel undurchdachtes und unausgesprochenes Ressentiment. Bryan selbst ist dafür ein gutes Beispiel: Er beging als alter Mann politischen Selbstmord, indem er gegen die Einbeziehung der darwinistischen Abstammungstheorie in den Schulunterricht polemisierte.

Noch illustrativer für den Zeitgenossen ist der Name McCarthy, der von zwei Politikern des modernen Mittelwestens geführt wurde und wird: Mißtrauen gegen die Finanzer und >Liberalen< des Ostens gebar so protofaschistische Erscheinungen wie Joe McCarthy, den Kommunistenjäger und Verschwörungs­theoretiker - aber auch jenen Eugene McCarthy, der einer der Gründer der <Independent Farmer-Labor Party> von Minnesota war und zum Bannerträger des wahrhaft progressiven, jugendlich-demokratischen Widerstandes gegen den Vietnam-Krieg wurde.

Eine der besten Zusammenfassungen dieser Ambivalenz der populistischen <Rückständigen> als Ferment der amerikanischen Politik stammt übrigens von Norman Mailer, aus einer seiner großen Reportagen über eine republikanische Parteikonferenz: 

* (d-2014:)   wikipedia  William_Jennings_Bryan  1860-1925

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Er beschreibt dort die Grundstimmung der Wut über den Untergang eines einfacheren, freundlicheren way of life, der von den glatten, stromlinienförmigen Maschinen der amerikanischen Wirtschaft und Politik allzu rasch und allzu hartherzig als Abraum weggeschoben wurde, und der nun als Gift des Ressentiments in den Innenräumen vor allem der beiden großen Parteien weiterwirkt.

Das gilt übrigens - genauso bis in unsere Tage - für den bayrischen Populismus. 

Das junge Königreich, ein gänzlich anderer Staat als das Kurfürstentum vor 1806, trat unter dem Zeichen des Fortschritts an: Code Civil, Verwaltungsgerechtigkeit, Gewerbefleiß - kurz, die einer strengen Obrigkeit akzeptablen Seiten des Fortschritts der Französischen Revolution sollten von oben, das heißt von einer aufgeklärten hohen Beamtenschaft, in den Körper des Landes eingeführt werden. Diese Konstellation blieb über ein Jahrhundert lang bestimmend: eine liberale, später >schwarz-weiß-rot<, also kleindeutsch-antiklerikal gesinnte, hohe Beamtenschaft gegen eine populistische Opposition, die sich lange unter den altmodischen Verfassungszuständen gar nicht formieren konnte, aber im üblich gewordenen Wortsinn >rechts< von der Regierung stand. 

Im Schoße dieser rechten, klerikal definierten Opposition bildete sich ein bayrischer Populismus unter der Führung des sogenannten >Bauerndoktors< Heim. Seine Basis waren die kleinen, von der Rationalisierung bzw. der Rentabilität bedrohten Subsistenzbauern, und seine unversöhnlichsten Gegner waren nicht etwa die Sozialdemokraten oder die Liberalen, sondern seine eigenen Parteifreunde. Erst in einer sehr schwierigen Synthese gelang es dem Parteiestablishment des Zentrums, diesen Populismus an die Kette zu legen, dessen Virulenz bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein erhalten blieb; ergänzt durch die Reste des antiklerikalen, halb anarchistischen Bauernbundes, der bis in den Mai 1919 hinein einen Vertreter in der Münchener Räterepublik stellte.

Die Verfolgung und Ermordung der Bayernpartei durch die CSU-Maschine beweist, für wie gefährlich man dort noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die populistische Wut hielt - eine Wut, die aus dem dumpfen Bewußtsein zerstörter Lebensqualitäten und dem legitimen Unverständnis für die Ansprüche der politischen und ökonomischen Zentralmacht geboren war.

* (d-2014:)  wikipedia  Bayernpartei  

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(Selbst der sentimentalste Schlenker des kleinbayrischen Patriotismus, die Anhänglichkeit, die weitgehend unverdiente, an das Haus Wittelsbach, weist auf den Typus der Prätendentenaufstände vergangener Jahrhunderte zurück.)

Was die großen Bauernparteien Osteuropas betrifft (ihre Geschichte hat ihre Höhepunkte zwischen den Kriegen), können wir uns kürzer fassen. Auch dort ist die Ambivalenz bezeichnend: die unbestimmbare Stellung zwischen den dort möglichen Faschismen (vor allem in Rumänien, aber auch anderswo) und den orthodox-linken, meist sehr kleinen marxistischen Gruppierungen. Über ihren Untergang im Rahmen der >Gleichschaltung< nach 1945 müßte gesondert gehandelt werden.

In letzter Konsequenz ist für uns, die Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts, eine Tatsache noch wichtiger: die Tatsache nämlich, daß in unserem Jahrhundert mindestens zwei große, erfolgreiche Bauernrevolutionen stattgefunden haben - die russische von 1917 und die chinesische von 1943/49.

Daß beide eben das waren - Bauernrevolutionen und kaum etwas anderes - wird von der offiziösen marxistischen Geschichtsschreibung - sagen wir einmal - uminterpretiert. Im Falle Chinas ist das allerdings kaum mehr möglich. 

Trotz Lenins taktischer Raffinesse von 1917 (er übernahm damals, zum Entsetzen der alten Genossen, die bauernfreundlichen Friedensparolen der Sozialrevolutionäre) setzte die junge UdSSR in China prompt auf die falsche Karte, nämlich die orthodox-progressive, und verlor ebenso prompt dabei, während Mao auf die traditionelle, schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden vorhandene Karte des Bauernaufstandes setzte und gewann. 

Was in China (und danach in zahlreichen geglückten Aufständen und Kriegen in Ostasien) geschah, war aber eine neue Variante des Bündnisses, das eigentlich noch nie wirklich versucht worden war: des Bündnisses zwischen den <Kadern>, also einer harten, kleinen, letzten Endes nomadischen Kriegerhorde, die mobil aus den Tiefen des Raums operiert, mit den konservativen Subsistenzbauern. (Seine bekannteste Metapher ist die Maos vom Wasser und den Fischen.) 

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Es wird vielleicht die entscheidendste Menschheitsfrage seit Einführung des Ackerbaus werden, ob aus dem Sieg dieser Kombination eine forcierte Industrialisierung oder ein anthropologisch wie ökologisch vertretbares Bündnis nicht nur zwischen Partisanen und Subsistenzbauern, sondern zwischen ihnen und einer als Basis künftiger Generationen respektierten Erde folgen kann und wird.

Einer letzten Rache der Wüste an den Fortschrittsproduzenten muß noch gedacht werden: 

Der Rache des Abraums an den großen Metropolen. Was wir heute in New York, in Kalkutta, in Tokio, aber mutatis mutandis auch in Moskau oder Frankfurt oder Paris erleben, ist das galoppierende Ansteigen der Folgelasten bis zu ihrem Umkippen; und zwar wieder nicht nur der materiellen, sondern der psychischen, der sozialen, der anthropologischen im weitesten Sinne. Die >Verarbeitung< der Probleme gelingt nirgends mehr, aus der Absicht der Sanierung erwächst die Realität der Destruktion. Rom steht vor dem Bankrott, New York ist bereits mitten drin.

Aber auch sonst wachsen die Wüsten, wachsen die Quadratkilometer totaler Unwirtlichkeit, werden ganze Zonen unpassierbar - oder werden Habitat einer neuen Fauna, die aus Ratten und Rockern besteht. (Dies ist überhaupt nicht abwertend gemeint: Der Ausgang des Endkampfes zwischen ras und Homo sapiens ist noch ungewiß, und die Entstehung von jugendkriminellen Banden ist einerseits die Folge der Unverwendbarkeit wachsender Prozentsätze der Bevölkerung durch das Industriesystem, andererseits der meist völlig blinde Versuch von Teilen dieser Unbrauchbaren, sich auf der niederen Stufe einer frühen barbarischen Feudalmoral zu reorganisieren.)

Damit können wir diese kurze und notwendig flüchtige Retrospektive abschließen. Viele der Fakten, die sie berührt hat, sind allgemein bekannt; es ging hier nur darum, die Einbettung dieser Fakten in die ökologischen Tatbestände unserer menschlichen Existenz aufzuzeigen. Es war zu zeigen, daß die Folgelasten eines inkonsequenten Materialismus, der von einem anthropozentrischen Weltbild ausgeht, höher sind als die Resultate an sogenanntem Fortschritt.

Es war zu zeigen, daß die neuen Formen der sogenannten Evolution, die kollektiven Organisationsformen, meist in sehr kurzer Zeit zu Parasiten, das heißt zu ausbeuterischen Gebilden eigener Art werden. Das blinde biologistische Bündnis dieser Parasiten mit der Wüste, die Lebensfeindlichkeit dieser Strukturen ist am Ende. Wir werden unser politisches und gesellschaftliches Leben nach Gesichtspunkten ordnen müssen, die gerade dieses Bündnis in Zukunft unmöglich machen.

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