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    Raum, Zahl und Zeit als Faktoren der ökologischen Perspektive   

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Die Gefahren, die der Zukunft der Menschheit drohen (wenn man einmal von der Suizidtendenz der Art absieht), sind bekannt genug. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sie sich nach dem Schema aufzählen, das schon der Club of Rome 1972 gewählt hat: Bevölkerungswachstum - Erschöpfung der Rohstoffe - Verknappung der Energie bzw. überhöhte Energiefreisetzung - Verschmutzung - Erschöpfung der Ernährungsreserven.

Die ökologisch relevanten Faktoren, um die es dabei geht, sind die Faktoren von Raum, Zahl und Zeit.

Erstaunlicherweise waren es gerade diese Faktoren, auf deren Berücksichtigung und Bewältigung der materialistische Triumphalismus der Epoche so ungemein stolz war und ist. Rechnen, Quantifizieren, Gleichungen aufstellen; damit wird wissenschaftlich und technisch operiert, damit sollen die Versorgungsfragen der Menschheit — und nicht nur sie gelöst werden. Völlig logisch glaubt auch heute noch die Technokratie, daß mit der exakten und leidenschaftslosen Weiterführung dieser rechnerischen Methode auch die heute anstehenden Gefahren gemeistert werden können. 

Der Haken daran ist lediglich, daß der Mensch, als biologisches und gesellschaftliches Wesen, nicht in diese Gleichungen hereingenommen wurde — jedenfalls nicht im ursprünglichen technologischen Ansatz. Er, der Operateur der Rechenmaschine, wird abstrakt als DER MENSCH gesehen, der sich einer nichtmenschlichen Welt gegenübersieht und diese nichtmenschliche Welt zu bewältigen hat — wobei die höchstmögliche Höhe der Abstraktion das bestmögliche Ergebnis vorwegnehmen muß. In Wahrheit aber ist die Lage des Menschen ganz anders.

So ist biologischer, ökologischer Raum etwas grundsätzlich anderes als etwa der halb oder ganz abstrahierte Raum der Physiker, insbesondere der Astrophysiker. Raum im biologischökologischen Sinn ist der vierdimensionale Ort einer Biozönose, das heißt einer raumzeitlich definierten Form des Zusammenlebens von menschlichen und nichtmenschlichen Arten in ihrem Habitat, ihrer Behausung. Es ist der Raum (noch) übersichtlicher Kreisläufe der belebten und unbelebten Materie, von welcher der Mensch ein Teil ist. 

Als körperliche Wesen sind Menschen von diesen Kreisläufen abhängig. Gewiß, sie können kraft ihrer überorganischen Möglichkeiten diese Kreisläufe bis zur Unkenntlichkeit verändern. Sie können Lebensmittel, Rohstoffe, Kernreaktoren in diesen Kreislauf einführen oder entfernen, sie können die Sauerstoffproduktion oder die CO2-Freisetzung erhöhen oder vermindern, sie können wenig, viel oder zuviel Energie loslassen. Aber mit jeder derartigen Veränderung zum Guten oder zum Bösen verändern sie den (regionalen) biozönotischen Kreislauf selbst und damit ihr eigenes Schicksal.

So wenig es eine geschlossene Grenze, eine Autarkie von Biozönosen gibt (selbst ferne Pazifikinseln sind noch dem Anflug von Kleinstlebewesen oder Sporen bzw. Samen erreichbar), so wenig können sie letzten Endes egalisiert oder globalisiert, also weltweit gemacht werden.

Dies war übrigens der Kern der ernst zu nehmenden Kritik, die an der ersten Studie des <Club of Rome>, dem Meadows-Bericht <Grenzen des Wachstums>, geübt wurde.

Die zweite Studie des Clubs, die Arbeit von Mesarovic und Pestel <Menschheit am Wendepunkt> (1974), hat denn auch diese Kritik beherzigt. Sie hat die Probleme bereits regionalisiert und die Wechselwirkung zwischen Regionen als das eigentliche Aktionsfeld ihrer Prognostik betrachtet und benützt. Ein konsequent ökologisch orientierter Entwurf ist auch diese Arbeit noch nicht.

Ein solcher Entwurf müßte in seiner Raum-Zeit-Organisation noch einen Schritt weitergehen. Er müßte die Einsicht fruchtbar machen, daß eine möglichst große Zahl von Zukunftsproblemen in möglichst überschaubaren Räumen analysiert und dann auch geregelt werden müßte. Die Relevanz dessen, was der Mensch innerhalb dieser Räume mit sich und der ihn umgebenden Welt anstellt, ist nicht nur höher als die Relevanz globaler oder großregionaler Aktion — sie ist auch größeren Mengen von Menschen leichter zugänglich — und damit ihren Entscheidungsprozessen.

 Pestel bei detopia      Meadows bei detopia  

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Nehmen wir ein Beispiel, das dem Autor (leider) sehr nahe liegt: 

Der Bau einer sechsspurigen Autobahn durchs dünnbesiedelte bayerische Inntal ist vielleicht im Sinn einer großräumigen >Planung< begrenzt sinnvoll — ökologisch ist er heller Wahnsinn. Gerade dann ist er heller Wahnsinn, wenn er zum Zweck der >Entlastung< des Ballungsraumes München erfolgen soll. Der Ballungsraum München, ökologisch schwerstgeschädigt, hat natürlich ein Recht darauf, entlastet zu werden; aber der sinnvolle Ausweg wäre der, dies nicht auf Kosten intakter Räume zu tun, sondern auf Kosten der Schädiger. 

Mit anderen Worten: Er kann nur von einer echten, das heißt auch die ökologischen und psychosozialen Faktoren einschließenden Kosten-Schadens-Rechnung des Automobils profitieren, die natürlich noch nirgends gemacht worden ist. Eine solche Bilanz würde die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eröffnen, nach dem Verursacherprinzip die echten globalen Kosten nicht zu Lasten irgendeines Habitats, sondern zu Lasten der Auto­mobil­benutzer zu verteilen. (Man würde staunen, wie schnell und gründlich dann der Raum München entlastet wäre; aber natürlich halten unsere Demoskoppolitiker eine solche Lösung für >nicht durchsetzbar ...)

Den Bewohnern eines ökologischen Habitats fällt aber nicht nur die Verantwortung für dessen Sanierung bzw. Gesundheit zu, sondern auch die Verantwortung für alle Eingriffe außerhalb seines Habitats. Dieser Einfluß auf fremde Biozönosen erfolgt politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Alle diese Einflüsse müssen schärfster Prüfung unterliegen; und vor allem sollte niemand davon ausgehen, daß ihm — oder ihnen — irgend etwas aus einem fremden Habitat zusteht. Weder steht einem überindustrialisierten Raum auf immer und ewig die Rohstoffzufuhr unterentwickelter Regionen zu (ein Irrtum, dem auch Herr Kissinger unterliegt) noch steht übervölkerten bzw. schlecht bewirtschafteten Räumen auf ewig der Nahrungsmittelzuschuß aus Überschußgebieten zu (ein Irrtum, dem so manche Regierung der Dritten Welt unterliegt).

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Im übrigen sind alle diese Kategorisierungen: >Überschuß<, >Rohstoff<-, >Industrie<-Regionen, nicht nur ökologisch wertlos, sondern Relikte der Vergangenheit: In der Welt von morgen werden die bisherigen ersten möglicherweise die allerletzten sein, unter anderem die Bundesrepublik Deutschland.

Läuft dies nun auf ideologisierte Hartherzigkeit hinaus? Auf den Abschied von jeder Hilfe für andere? Keineswegs — im Gegenteil.

Es ist bemerkenswert, daß eine Reihe der ökologisch sinnvollen Versuche, mit unserer eigenen Zukunft fertig zu werden, aus der Erfahrung der Entwicklungs­hilfe stammen. Jeder Versuch, den Hungernden und Notleidenden durch massive Übertragung unserer Wirtschaftsverhältnisse und Produktionsweisen zu helfen (der bekannte transfer of technology) ist bisher gescheitert, ja hat zur Bildung von neuen, höchst massiven Problemen geführt. Das Riesenstahlwerk irgendwo in den Tropen ruiniert Zehntausende von Handwerkerexistenzen, die vollautomatische Textilfabrik desgleichen. Die grüne Revolution — von ihr war schon die Rede: Sie ist sowohl sozio-ökonomisch wie ökologisch de facto zusammengebrochen.

Das Beste, was Europa bisher an Entwicklungshilfe angeboten hat, sind Entwicklungsprojekte, die unter dem Stichwort Intermediäre oder Sanfte Technologie bekannt wurden. Arbeitsintensive, leicht herstellbare und leicht reparierbare, also möglichst langlebige Geräte, die eine dezentrale ländliche oder kleinindustrielle Arbeitsweise ermöglichen, werden von einem ständig wachsenden Prozentsatz von Ländern der Dritten Welt bevorzugt. 

Knowhow und self-reliance — Geschick und Selbsthilfe, das sind die wahren und effektiven Lehren und Hilfen, die wir den Bauernmassen der Dritten und Vierten Welt vermitteln müssen. Leider (o Ironie der Geschichte) haben wir Europäer einen Industrialisierungsprozeß betrieben, in dem viel, fast alles von der alten Dorfkultur und ihrer Technologie, ihrem vielseitigen Wissen, verlorengegangen ist: Wir könnten sonst Massen von Bauernsöhnen, die heute keine Lehrstellen mehr bekommen, als das großartigste Kapital für Entwicklungshilfe anbieten. 

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Wir können nur hoffen, daß wenigstens einige Reste dieses Kapitals und vor allem die darunterliegenden Reserven an Neugier, Kreativität und Selbständigkeit noch so aktiviert werden können, daß sie für diese einzige wahrhaft globale Aufgabe nutzbar gemacht werden können. (Dies wäre nicht nur die beste Hilfe für eine hungernde Welt — es wäre auch eine der letzten überhaupt noch tragbaren Begründungen für Europas latenten kulturellen Hochmut.)

 

Ein weiterer Faktor des Raums, der für eine ökologische Zukunftspolitik entscheidend ist, ist der Faktor der sogenannten Brache.

Das Wort gehört zu den ökologisch sinnlosen Ausdrücken, die auf die Klassifizierung von Natur auf Grund anthropozentrischer Bedürfnisse zurückgehen. Brache, unbebautes Land, ist nie wirklich unbebaut, sondern die Heimat zahlloser Arten, denen wir sonst in unserer erschlossenem Landschaft keine Heimat mehr gönnen. Sie ist gewissermaßen ein Sanatorium für die Natur selbst; in ihr wäre nicht so sehr der individuelle Artenschutz als der Ensembleschutz vielfältiger Lebensgemeinschaften möglich.

Ich gestehe es offen, daß ich in dieser Frage sentimental bin.

Die Erinnerung an die unglaubliche Fülle von Schmetterlingsarten, die ich in meiner Jugend (in den zwanziger und dreißiger Jahren des Jahrhunderts) noch hier in Bayern erleben und sehen durfte, ruft in mir nicht nur freudige Erinnerung, sondern ohnmächtige Wut hervor; Wut auf eine Menschheit, die in blinder Allianz mit der Wüste so viele Gedanken Gottes zerstört hat. Aber rechnen wir — auch hier, auch auf diesen Seiten — mit der wachsenden Anzahl von Zeitgenossen, denen das Nicht-mehr-vorhanden-sein von Schmetterlings- und Vogelarten höchstens ein Gähnen entlockt, und die zu den atemberaubenden Mysterien ihrer Porsche-Innereien oder Wahlumfragen zurückkehren wollen. Ihnen sei gesagt, daß es nicht um Schmetterlinge oder Buchfinken geht, sondern um uns selber. So ist, zum Beispiel, das Verschwinden von zahlreichen Wildarten unserer Kulturpflanzen ein äußerst gefährliches Phänomen. 

Unser Mais, unser Weizen, unser Reis sind nervöse Gebilde, hochspezialisiert, auf ständige Spritzen künstlicher Nahrungsund Pllegemittel angewiesen. Bricht der Nachschub dieser

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Hilfen aus irgendeinem Grund zusammen — oder ändert sich, was abzusehen ist, die chemische Zusammensetzung des Bodens, ist es notwendig, auf >Brache<, das heißt auf die wildwachsenden Ausgangsformen der Art zurückzugreifen, um neu angepaßte Kulturpflanzen züchten zu können. Ist dies nicht mehr möglich, wird es reichlich gleichgültig sein, ob der nächste Landwirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland von der FDP oder der CSU gestellt wird.

Darüber hinaus gilt, daß eine Ökologie, eine regionale Biozönose um so stabiler ist, je mehr Arten sie umfaßt. Aber Artenreichtum ist nun einmal das typische Kennzeichen der >Brache<, während Artenarmut das stolze Ziel unserer sogenannten Landwirtschaft darstellt.

Wie groß muß nun der Bracheanteil in unseren Breiten sein? Leyhausen, ein führender Biologe, schätzt das notwendige Soll auf dreißig Prozent. Warten wir die fünf Minuten ab, welche für das nun anhebende Gelächter nötig sein dürften, und stellen wir nach seinem Abebben fest, daß Leyhausen damit immerhin die Größe des Problems angedeutet hat. Wenn heute schon düstere Prophetenrufe wegen des Geburtendefizits der Bundesrepublik hörbar werden, so ist es vielleicht nicht ganz unangebracht, darauf hinzuweisen, daß unsere Bevölkerungszahl nicht in Relation zu der der >Konkurrenten< (lies: benachbarter Zentralmächte) zukunftsentscheidend ist, sondern in Relation zu dem Raum, der uns zur Verfügung steht.

Damit aber sind wir bereits mitten im Problem der Zahl.

Das numerische Gleichgewicht einer Art, ihre Bevölkerungsdichte, pendelt sich bei fast allen Tierarten in mehr oder wen iger langen Zyklen ein. Manchmal hat diese Regulierung Katastrophencharakter; das bekannteste Beispiel dafür sind die Lemminge, aber auch die kanadischen Schneeschuhhasen und die von ihnen lebenden Raubtiere sind beträchtlichen über mehrere Jahre verteilten Schwankungen ausgesetzt. Geradezu elegant mutet dagegen der Regelmechanismus gewisser Mäusearten an: Ihre trächtigen Weibchen reagieren bis zu vier Tagen nach der Empfängnis auf den Geruch fremder Männchen mit einem Abortus — der Faktor der gegenseitigen Aufdringlichkeit bleibt damit nahezu konstant.

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Der Mensch — jedenfalls in seiner vor-, früh- und zeitgeschichtlichen Existenz — kennt solche Regulative nicht. Um so bemerkenswerter sind die gesellschaftlich vermittelten Begrenzungsmechanismen. Man hat lange Zeit angenommen, daß bei den Primitiven Hunger, Seuchen und Hordenkriege gewissermaßen bewußtlose Regulative der Bevölkerungszahl waren; heute sieht man das etwas komplizierter. Bevölkerungskontrolle (im positiven wie im negativen Sinn) ist bis in die primitive Genese der Menschheit hinein nicht nur das Resultat natürlicher Gegebenheiten, sondern auch sozialer Entschlüsse.

So kennen indianische und afrikanische Primitive die hohen Geburtenzahlen der Hackbauern nicht; die Regulierung erfolgt nicht nur durch natürliche Gegebenheiten wie etwa den äußerst niedrigen Fettgehalt der Körpergewebe (er soll die Fruchtbarkeit senken), sondern auch durch lange Stillzeiten und durch die weitverbreitete Kenntnis von Medizinkräutern, die empfängnishemmend oder abtreibend wirken. Darüber hinaus darf man, bei >echten< Primitiven, noch psychosoziale Einflüsse vermuten. Daß diese Primitiven auf Grund kollektiven psychischen Drucks der Sippe oder des Stammes einfach sterben, ist bekannt; ebenso bekannt ist es Anthropologen, daß in einigen afrikanischen Stämmen drei Jahre nach einer Geburt keine Empfängnis mehr erfolgt, und zwar ohne feststellbare Ursache. Die Auskünfte der Stammesangehörigen beschränken sich auf Magisches. Hierüber zu spekulieren ist müßig; immerhin sei darauf hingewiesen, daß es unter vielen gemeinschaftlich lebenden Tierarten das Phänomen der >psychischen Kastration< gibt — das heißt der scheinbar natürlichen sexuellen Desinteressiertheit der nicht territorienbeherrschenden Männchen.

Was sich davon bis in geschichtliche Zeit hinein erhalten hat, ist offen. Immerhin dürften medizinische Geheimkenntnisse auf diesem Gebiet eine Hauptstütze der Hexenkultur gewesen sein, die im Hochmittelalter blühte.

Brutalere Formen der Bevölkerungskontrolle bei Primitiven, bei Jägern und Bauern, sind ebenfalls bestens bekannt. Ein Jägerräuberstamm in Afrika tötete grundsätzlich alle Neugeborenen und reproduzierte sich durch Adoption, das heißt durch den Raub schon lauffähiger Kinder, um möglichst beweglich zu bleiben.

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Bei den Spartanern der Antike, den Boruzzen des Mittelalters und den Japanern vor Einbruch des Westens war Bevölkerungskontrolle durch Kindstötung üblich. (Bei den Japanern nannte man dies Ausjäten.) Im übrigen war Kindesaussetzung die ständige Praxis des Altertums; und nach einer mündlichen (aber vertrauenswürdigen) Quelle sind — noch in unserem Jahrhundert — überzählige Kinder im Böhmerwald zum Tollkirschenpflücken geführt worden.

Auch das Gegenteil — nämlich der Kinderreichtum — ist in vielen Fällen als Resultat sozialer Entschlüsse nachweisbar. Denn oft genug ist er mit möglichen sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen verbunden — mögen sie noch so kurzfristig sein. Bekannt ist die europäische Bevölkerungsexplosion im Zeitalter des Imperialismus: Die zweiten und dritten Söhne der viktorianischen Familien waren die Bauherren und Administratoren des Empire. Den Sozialhistorikern geläufig ist die Zunahme der Geburtenzahlen in Zeiten guter Ernten. Aber — und damit stoßen wir an ein, wenn nicht das Hauptproblem der Entwicklungsländer: Auch das Elend begünstigt unter bestimmten Voraussetzungen die hohen Kinderzahlen. Noch in den Höllen von Kalkutta soll ein Sechsjähriger durch Bettelei und einfachen Mundraub mehr für die obdachlose Sippe beschaffen, als sie für ihn tun kann. Die jahrtausendalte Altersversorgung durch Kinder ist geläufig, und die Bergbauern der Alpen haben oft genug viele Kinder gezeugt, um keine Knechte und Mägde bezahlen zu müssen — ja oft, um sich die Kosten für das Zugvieh zu ersparen.

Weder die eine noch die andere Praxis wird hier gewertet. Es geht nur um den Nachweis, daß es ein »natürliches« Verhalten der Reproduktionsweise beim Menschen nicht gibt und nicht geben kann, weil die entsprechenden instinktiven Steuerungen solchen Verhaltens fehlen. Spätestens an diesem Punkt wird der von Rom eingenommene >naturrechtliche Standpunkt zur Geburtenregelung fragwürdig. (Auf seine sonstigen, vor allem theologischen Schwächen braucht hier nicht eingegangen zu werden.) Extremes Bevölkerungswachstum ist, genau wie der Rückgang der Bevölkerung, nicht die Ursache, sondern die Folge eines sozialen oder anthropologischen Notstandes. 

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Im Fall der Bevölkerungsexplosion handelt es sich um eine Entscheidung, die zugunsten des ständigen Anwachsens der Spezies Mensch zuungunsten aller anderen Lebensformen gefallen ist — oder noch fällt. Die ökologischen Gefahren solcher Entwicklung liegen auf der Hand; weniger klar, aber deshalb nicht minder bedrohlich sind die humanen, gesellschaftlichen Gefahren. Bevölkerungsdichte über einen bestimmten Punkt hinaus bedeutet ja nicht nur wirtschaftliche Abhängigkeit — sie bedeutet auch die Abhängigkeit von immer mehr Kontrollinstanzen immer höheren Grades. Und diese Abhängigkeit wächst, verglichen mit der rein physischen, im geometrischen Verhältnis.

Nun ist überproportionales Wachstum der Abhängigkeiten für diejeweilige Zentralmacht überhaupt kein Problem, sondern zunächst nur ein Segen: ein geometrischer Zuwachs eben ihrer Potenzen. Schon immer haben deshalb die Zentralmächte mehr und mehr Menschen gefordert: als Gebärerinnen oder Rekruten, als Steuerzahler und Konsumenten, als belebte Materie, als Gläubige, als Götteropfer.

All dies wird verschwinden müssen, wenn wir ökologisch vernünftige Politik machen wollen. Eine ideale Bevölkerungsdichte gibt es dabei nicht — sie hängt von dem gesellschaftlichen Entwurf ab, von dem man ausgeht. Wollte man vom hundertprozentigen anthropologischen »Glück«, also einer frei schweifenden, zum Abenteuer zurückgeführten Menschheit ausgehen, dann dürfte man nicht mehr als dreißig bis siebzig Millionen auf dem ganzen Globus zulassen. (Dies wäre nicht nur unmöglich, sondern auch gegen alle Gesetzlichkeit der ökologischen Entwicklung.) Man könnte davon ausgehen, daß die optimale Bevölkerung Europas etwa in der Barockzeit erreicht war: Nach dem französischen Historiker Chaunu betrug damals die Bevölkerungsdichte im konzentriertesten Gebiet, der Rheinachse von Rotterdam bis Oberitalien, sechzig Einwohner auf den Quadratkilometer und fiel nach Westen wie nach Osten allmählich ab. Ökologen, die von der landwirtschaftlichen Kapazität her denken, haben für ein intensiv genutztes postindustrielles Europa mit Kreislaufwirtschaft aus laufendem Energie-

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einkommen eine Dichte von sechzig bis hundert errechnet. Herbert Gruhl gibt in seinem Buch Ein Planet wird geplündert als Zwischenzahl für eine einigermaßen stabilisierte Bundesrepublik (mit dem Lebensstandard etwa der Zwischenkriegszeit) vierzig Millionen Einwohner zu.

Was immer man an Normen setzen mag: Die Bevölkerungsdichte wird die Funktion sehr vieler Faktoren sein — und die wichtigsten dieser Faktoren sind menschliche, soziale, politische Entschlüsse. Stufen wir — und das ist bereits heute gebieterisch notwendig — die ökologische Stabilität höher ein als das sogenannte Wirtschaftswachstum, so muß unzweifelhaft die Abnahme der Bevölkerung gefordert werden — und zwar in wahrnehmbarem Ausmaß. Wenigstens in diesem Punkt fallen die privaten Voten von Millionen Mitteleuropäern zur Zeit mit denen der ökologischen Vernunft zusammen. (Ob dies auf die Dauer durch chemischen Betrug der Menschennatur nötig und möglich sein wird, ist eine ganz andere Frage.)

Aber es geht in einer ökologisch orientierten Gesellschaftspolitik nicht nur um absolute Zahlen — oder um Wohndichte auf den Quadratkilometer. Mindestens genauso wichtig ist die Frage nach den optimalen politischen und wirtschaftlichen Betriebsgrößen. Die Frage war eine Zeitlang völlig aus der Mode: Ständige politische und wirtschaftliche Fusion, bis hinauf zu Riesenreichen und Riesenkonzernen, schien nicht nur das Schicksal, sondern das erfreuliche, weil allen nützliche Schicksal der Menschheit zu sein.

Die ersten, die das besser wußten, waren die Manager. Zwar wachsen die Riesen weiter, aber die produktiven Betriebsgrößen in der Industrie gehen eher zurück. Immer wichtiger wird die Untersuchung der Reibungsverluste, die durch allzu viele Informations-, Steuerungs-, Befehlsvorgänge hinauf und hinab in den Nervenbahnen der Riesen entstehen und entstehen müssen. Diversifikation, Dezentralisierung, Humanisierung der Arbeitsplätze: All das ist bereits im Gange; und nicht, weil die Wirtschaftsführer, die großen Banker, die Manager so große Humanisten wären, sondern weil sich gewisse bisher unberücksichtigte Kosten in Mark und Pfennig niederschlagen.

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Da viele dieser Kosten noch nicht von den Verursachern, sondern von der öffentlichen Hand getragen werden, hat sich dieses Gesetz der Dezentralisierung noch nicht so ausgewirkt, wie es unbedingt nötig wäre. Die politischen Zentralregierungen, immernoch von den alten Grandeurvisionen der Rekrutenmassen geblendet, haben großenteils noch gar nicht begriffen, wie unrentabel sie heute arbeiten oder doch wenn es nach der Wirtschaft geht — arbeiten sollen. In früheren Zeiten ist die Frage nach der optimalen Größe eines Staates, einer Polis, einer utopischen Produktions- und Lebensgemeinschaft durchaus gestellt worden — von Aristoteles, von Campanella, von Thomas Monis, bis zum Frühsozialisten Fourier, der für seine phalansteres ganz bestimmte Größen forderte. Da, wie wir bereits betonten, die ökologischen Daten nur in der Funktionalität ihrer Kreisläufe sinnvoll quantifiziert werden können, sind solche starren Zahlenangaben natürlich nicht sehr förderlich; wohl aber ist die Feststellung erlaubt, daß sowohl im gesellschaftlichen wie im politischen Bereich die Frage der Betriebsgröße verdrängt worden ist und wieder ins Bewußtsein zurückgehoben werden muß.

Verdrängungen führen, wie Freud feststellt, zu psychischer Erkrankung, und dies gilt auch kollektiv. Was wir zur Zeit erleben, ist ja keineswegs das weitere Anwachsen der Zentralmächte (die sind in ihren Einflußsphären relativ erstarrt), sondern Fragmentation, Balkanisierung, Regionalisierung. Im Osten wie im Westen streben die kleineren Staaten aus der Vormundschaft ihrer »Beschützer« weg — Afrika wird, wie man lebhaft klagt, zunehmend >balkanisiert<, was nichts anderes heißt, als daß die künstlichen Grenzen, die der Kolonialismus zog, ihre Unsinnigkeit und Unwirksamkeit offenbaren — und, vielleicht das bezeichnendste Symptom: Die Renaissance uralter, kleiner, längst totgeglaubter Regionalismen und Nationalismen in den Gebieten Europas, die den Zentralismus seit Jahrhunderten praktizieren und praktizierten. Gegen Madrid erheben sich Katalanen und Basken, gegen Paris Bretonen und Okzitanier und Korsen, gegen London Iren und Schotten und Waliser.

Aber es sind nicht nur westliche Herren, die beunruhigt sind, auch der Osten hat seine Nationalitätenprobleme: Litauer und Esten und Ukrainer, Slowaken, Kroaten, Mazedonier. Werden mit der Sanierung dieser alten Wunden, mit der Zurückgabe alter Rechte an diese kleinen Völker die richtigen Betriebsgrößen erreicht sein?

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Schon reichen die Zweifel tiefer hinab in unsere politische und kulturelle Geschichte. Schon schlagen Kirchenmänner selbst vor, ein Missionsmoratorium einzulegen, um den angeschlagenen und mißhandelten Stammeskulturen Gelegenheit zu organischer Entwicklung zu geben. Ja, Kulturhistoriker legen sich die Frage vor, ob die Menschheit je eine zweckmäßigere Form des Zusammenlebens als den Tribalismus entwickelt habe. In einem Zwielicht des Relativismus stehen wir vor den Trümmerhaufen unseres einst so stolzen progressiven Selbstbewußtseins ...

Aber lassen wir die Ache-Indianer, die wiedererwachten Indianer Nordamerikas, die Krimtataren und Papuas einmal beiseite; konzentrieren wir uns auf unsere Region, unser Habitat, unser Europa. Es gäbe durchaus eine Möglichkeit, sein Selbstbewußtsein mit einer neuen Grundlage zu versehen: Die föderative Einigung des Kontinents, wenigstens seines westlichen Teils. Aber gerade die ist durch die alten Nationalstaaten blockiert.

Sprechen wir es einmal offen aus: Diese Staaten der Größenordnung von vierzig bis sechzig Millionen sind heute vielleicht die irrationalsten Gebilde der Weltpolitik. Sie klammern sich an eben jene Funktionen, die sie an eine europäische Föderation abgeben müßten, weil sie, die Nationalstaaten, um eben dieser Funktionen willen geschaffen wurden: Verteidigung — und Wirtschaft. Für beide sind sie heute entschieden zu klein — während sie für eine humane, stabile, nach dem Biozönoseprinzip zu organisierende Verwaltung und Gestaltung der Zukunft zu groß sind. Bestünde Westeuropa aus lauter Staaten der Größenordnung Luxemburgs oder der Niederlande, wäre die Föderation längst vollendete Tatsache.

Sprechen wir es noch offener aus: Der Weg in ein vereinigtes Europa, ganz gleich welcher Zusammensetzung, führt nur über ein gedemütigtes Paris, ein gedemütigtes London, ein gedemütigtes Madrid und ein gedemütigtes Bonn am Rhein. 

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Ein Europa aus, sagen wir, vierzig Bundesstaaten mit eigenen Aufgaben und regionalem, auch historischem Profil wäre sinnvoll — von der jeweiligen Betriebsgröße her gesehen. Ein Europa aus sechs oder acht großen Nationalstaaten wird nie entstehen.

Seine eigentliche Bedeutung würde dieses Europa aber erst dann enthüllen, wenn es dieses sein einzig mögliches Lebens- und Organisationsprinzip auch auf die wirtschaftlichen Raumgrößen anwenden würde. Die sogenannte Welthandelsverflechtung brachte ein paar Generationen lang diesem Europa Vorteile, die zuerst aus der imperialistischen Ausbeutung fremder Menschen, dann aus der Ausbeutung ihrer Ressourcen stammten. Der Rest der Welt war betrogen durch die terms of trade, von denen schon öfter die Rede war. Dennoch konnte ein durchschnittlicher Europäer noch im 18. Jahrhundert vom örtlichen Kirchturm aus die Fläche überblicken, aus der neunzig Prozent seines Lebensunterhalts stammten (Ivan Illich hat dankenswerterweise darauf hingewiesen).

Eine nicht nach rückwärts gewandte, nicht nostalgische, sondern wahrhaft fortschrittliche Organisation muß es ermöglichen, die alten Angebote der städtischen Zentren: Dienstleistungen, Techniken, Märkte für die tatsächliche Primärversorgung aus dem Umland bereitzustellen, wieder konkret sichtbar zu machen. Aber davon wird noch in der Diskussion der Modelle die Rede sein müssen, von denen wir ausgehen können.

Der wichtigste Faktor aber, der Faktor, der letzten Endes über alle Alternativen entscheidet, ist der der Zeit. Die wichtigste Frage, die wiruns stellen müssen, lautet: Wollen wir eine Lösung auf Dauer oder wollen wir sie nicht? Nehmen wir die kalte Wut und Verachtung unserer Enkel in Kauf, die (falls es sie noch geben sollte) unser Jahrhundert vermutlich als das dümmste der Geschichte einstufen werden — oder nehmen wir die Aufgabe der ökologischen Stabilisierung als ethische, politische, wirtschaftliche Aufgabe erster Ordnung, ja als die Herausforderung der Zeit schlechthin an?

Die Frage hat sich eigentlich noch keine Epoche vor uns stellen müssen — wenn auch die Antworten besser gegeben wurden als heute.

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Bisher half und hilft man sich mit dem sogenannten technologicalfix — der Patentlösung einer isolierten Frage, ohne Berücksichtigung der Umgebungs- und Folgelasten. Der verschmutzte Fluß wird gereinigt (mit hohem Energieaufwand und beliebiger Verteilung des giftigen Drecks); der Abraum wird irgendwo abgeladen, das verwüstete Braunkohlenrevier wird mit Badeseen dekoriert und leicht begrünt; und wenn schon keine unmittelbare schnelle Abhilfe sichtbar ist, rechnet man eben — oder tröstet sich — mit dem bevorstehenden technischen »Durchbruch«: die Psychologie eines Hochstaplers, der sich bei Kempinski Austern bestellt in der Hoffnung, in einer von ihnen die Perle zu finden, welche es ihm erlaubt, die Rechnung zu bezahlen. Bisher mochte dies genügen (es hat natürlich nicht genügt). 

Jetzt stellt sich unausweichlich die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Enkel und die Ungeborenen. Dieser Frage haben sich die Technokraten zu stellen, sie haben sie zu beantworten; und zwar offen, und zwar ohne Ausflüchte. Offen war jener brasilianische Militär, der einem mir bekannten deutschen Physiker auf diese Frage so Auskunft gab: »Man muß das so sehen: bisher haben Milliarden Menschen eben zeitlich hintereinander weggelebt — bald werden mindestens ebenso viele Milliarden nebeneinander leben. Ist da ein Unterschied?« 

Die unausgesprochene Folgerung: Die Apokalypse nach 2010 oder 2050 wird voll einkalkuliert. Und in der Tat lebt die sogenannte fortschrittliche Menschheit in der sadomasochistischen Erwartung dieses großen Knalls. Sie liebt die Welt nicht mehr, und sie haßt die Zukunft — eben jene Zukunft, für die man doch angeblich so viel tut und opfert.

Dieser Sadomasochismus, der kollektiv in der Wahnsinnsseele der weißen Menschheit und ihrer Nachahmer lauert, ist unser eigentlicher, schlimmster Feind. Er ist das Exkrement jener Parasiten, deren Todesangst das Krepieren der Menschheit dem eigenen Verenden vorzieht.

Aber selbst wenn der zum Leben entschlossene Teil der Menschheit, selbst wenn der zum Handeln entschlossene ökologische Materialismus dieser Herausforderung entgegentritt, bleiben noch genügend schwere Einzelfragen — und einige von ihnen haben sehr grundsätzlichen Charakter.

Eine dieser Fragen, bis zur Unerträglichkeit zugespitzt, stellte sich mit der Hungersnot in der Sahelzone. (Ich folge hier der Analyse von Michael Lohmann in der evangelischen Zeitschrift Radius.) Als diese gewaltige Region in die große Dürre, den großen Hunger geriet, mußte jede menschliche Regung uns veranlassen, den Opfern mit allen Mitteln zu helfen. 

Die FAO sowie unzählige karitative Organisationen haben denn auch Millionen Tonnen Getreide in afrikanische Häfen geliefert. Die ökologischen Folgen solcher Nächstenliebe sind katastrophal. 

Infolge der schlechten (oder völlig fehlenden) Infrastruktur und Verkehrserschließung der Region konnten die Betroffenen nicht damit rechnen, die Lieferungen im Hinterland zu Gesicht zu bekommen. Sie strömten deshalb in die Häfen und warteten, regungslos wie die weißen Mäuse von Massen-Behaviour-Tests, auf sonnenüberglühten Docks; warteten tage-, ja wochenlang auf das rettende Getreide, während das entleerte und wüste Hinterland sich selbst überlassen bleibt. 

Die alten Geschicklichkeiten der Nomaden, welche früher solche Katastrophen wenigstens teilweise überbrücken konnten, gehen verloren, je mehr sich dieses Modell der Hilfe von außen einspielt. Eine ganze Zone droht dem restlosen Ruin anheimzufallen und damit als (wenn auch noch so geizige) Ernährerin künftiger Generationen auszuscheiden. 

Wo liegt die Moral? Was fordert die Ethik — und welche Ethik? Kurzzeit- oder Langzeitlösungen? Jede der beiden Lösungsarten wird Entsetzliches von uns fordern — aber wir werden es nicht umgehen können. Auch dies ist die Folge des Fortschritts — eines Fortschritts, mit dem wir naiv gerechnet haben, ohne seine Folgelasten einzurechnen.

Dies also sind die Bestände. Das ist das Inventar, von dem wir auszugehen haben. Sehr viel Hoffnung bietet es nicht an. Aber wer stellt sich überhaupt der Herausforderung? Wer nimmt es auf sich, die ökologischen Faktoren Raum, Zahl und Zeit in einen Vorschlag für die unmittelbare und die weitere Zukunft einzubeziehen?

Sehen wir uns etwas um. Versuchen wir festzustellen, welche Wege oder Auswege man uns anbietet. Beginnen wir dabei mit der politischen Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland — nicht weil hier die Antworten so besonders überzeugend wären, aber weil uns gerade das Zusammenstoßen der Problematik mit dem äußersten Wohlstandsdenken an die radikalen Notwendigkeiten heranführt.

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