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Die reformistische Perspektive: das Elend der Lebensqualität

(über Galbraight, Eppler, Harich)

Von Carl Amery, 1976 (1985)

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Die politische Perspektive, unter der uns, den Bürgern der Bundesrepublik, das Problem der Ökologie nahegebracht werden sollte, war die Perspektive der Lebensqualität. Viel Schlimmeres konnte dem ökologischen Problem kaum zustoßen.

Das Wort Lebensqualität ist an sich nicht besonders neu. Der Systemanalytiker Forrester benutzte es, um einen Gegenbegriff zum »Bruttosozial­produkt« in die Hand zu bekommen. Für uns ist wichtig, daß das Wort bereits einige Jahre vor der eigentlichen Ökologiedebatte feste Konturen angenommen hatte. Das Verdienst daran trägt vor allem John Kenneth Galbraith. In seinem Buch <Die moderne Industriegesellschaft>, das 1967 erschien, arbeitete er sich auf dem Umweg über Wirtschafts- und Sozialkritik an die Bestandteile des Lebensqualität­syndroms heran. Wir dürfen hier zitieren, weil uns Galbraiths Argumente geradewegs ins Problem hineinführen:

»Mit steigendem Einkommen tauchen Probleme auf, die außerhalb des rein wirtschaftlichen Bereichs liegen. Nun muß man darüber nachdenken, wieviel an Schönheit man einer Produktionssteigerung zu opfern bereit ist, oder welche kulturellen Werte man für einen effektiveren Güterabsatz hingeben will... Wie weit will man das Bildungswesen den Bedürfnissen der Produktion und den Erfordernissen humanistischer Aufklärung anpassen? Welchen Teil an Disziplin darf man den Menschen zur Sicherstellung eines höheren Warenausstoßes zumuten?«

Noch eindeutiger wird Galbraiths Anliegen an anderer Stelle:

»Das ästhetische Erlebnis nahm einst einen weiten Bereich unseres Lebens ein — nach der Wertung des Industriesystems einen unvorstellbar weiten Bereich. Reisende aus den Vereinigten Staaten und den Industriestädten Europas und Japans besuchen jeden Sommer die Überreste der vorindustriellen Kulturen; sie tun es, weil Athen, Florenz, Venedig, Sevilla, Agra, Kyoto und Samarkand zwar im Vergleich zum Standard des modernen Nagoya, Düsseldorf, Dagenham, Flint oder Magnitogorsk unendlich arm waren, aber einen viel größeren Bereich der Ästhetik zum täglichen Leben zählten... Mit dem Begriff Ästhetik meint man im Industriesystem eine Mißfallenskundgebung. Ästhetische Leistungen entziehen sich nämlich dem Zugriff des Industriesystems und liegen mit diesem in einem ständigen Konflikt...«

In seinem Buch kritisiert Galbraith keineswegs nur die »ästhetische Lücke« des Industriesystems. Er weist durchaus auf so entscheidende Faktoren wie die Verkümmerung des öffentlichen Verkehrssystems, der Urbanistik im allgemeinen, des Gesundheits- und Bildungswesens hin — lauter Dinge, die ins Paket der Lebensqualität eingegangen sind. Trotzdem ist es klar, daß Galbraiths zentrale Erschütterung eine ästhetische Erschütterung ist.

Und in der Tat: Wer vermag ihm das nicht nachzufühlen? Wer vermag eigentlich noch im Zug durch eine Industrielandschaft zu fahren, ohne seine Nase in einem Buch zu vergraben? Die Landschaft selbst ist ja dazu angetan, jeden sensiblen Menschen vor Wut und Trauer verenden zu lassen. John K. Galbraith kämpft dagegen, er kämpft um jene Annehmlichkeiten einer »natürlichen«, das heißt ganz einfach vorindustriellen zivilisatorischen Existenz, die in wachsendem Maß unter den Stiefeln und Raupenketten des Systems verenden.

Für die Annehmlichkeiten gibt es im Englischen das hübsche Wort amenities. Die amenities umfassen nicht nur gute Sitte und Lebensart (gleichfalls Opfer des Systems...), sondern auch so konkrete Dinge wie Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Büchereien, Parks und Theater. Das Wort leitet sich vom lateinischen amoenus ab — ein Adjektiv, das wir hauptsächlich mit dem berühmten literarischen Gemeinplatz des locus amoenus verbinden.

Der <angenehme Platz> des antiken Dichters war genau das, was wir im Zusammenhang mit der romantischen Zivilisationskritik bereits erwähnt haben: erste Projektion eines <einfachen Lebens>, das dem Literaten Rückkehr in ein Goldenes Zeitalter wenn nicht verspricht, so doch wehmütig vorgaukelt.

  Forrester auf detopia   

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Ein Steinbänkchen unterm Olivenbaum neben der geschwätzigen Quelle; Duft der wilden Blumen und Würzkräuter; die Statue einer kleinen Nymphe oder eines flötenblasenden Fauns; der tönerne Weinkrug unter dem Sitz im Schatten — dieser Gemeinplatz unzähliger bukolischer Gesänge kam im Hellenismus richtig zum Blühen, in einer Zeit also, in der Machtkonzentrationen, Sklavenwirtschaft und die Fragwürdigkeit alles Politischen bereits die Szene beherrschten.

Nun, in einer Demokratie ist, auch mit diesem ästhetisch gefärbtem Anliegen, nichts politisch Anrüchiges angesprochen — im Gegenteil. Die Sorgen um die amenities in einer Welt der Häßlichkeit, des Lärms und der Vereinsamung soll und darf politisch wirksam werden und sollte sich ins Bewußtsein der Zeitgenossen drängen. (An diesem Anliegen hat übrigens die ganze konservative Kulturkritik jahrzehntelang ziemlich vergebens gearbeitet.)

Dennoch geriet der Begriff der Lebensqualität in der Bundesrepublik gerade zu dem Zeitpunkt in die allgemeine Diskussion, zu dem mit den gröbsten Mißverständnissen gerechnet werden mußte. In der Bundesrepublik Deutschland röhrte die Konjunktur. Sie brummte und röhrte so mächtig, daß selbst materiell Interessierte vor ihrer Überhitzung warnten.

Der Wahlkampf 1972 stand ins Haus; und da in unserer Demoskopokratie Parolen und Stichworte jeweils nur für längstens vier Monate ausgegeben werden, lag es nahe - leider nur allzu nahe -, aus dem Lebensqualitätpaket so etwas wie ein Maßhalteprogramm zu machen. Die ästhetischen und sozialkritischen Gegenstände des Pakets standen dabei im Vordergrund; außerdem hütete man sich, die Sache allzu drastisch zu formulieren.

Als Beispiel dafür stehe der klassische Versuch Erhard Epplers, das Paket als Zentralthema deutscher Innenpolitik zu lancieren. Die hier wiedergegebenen Formulierungen stammen aus dem April 1972, von einer Arbeitstagung der IG Metall in Oberhausen. Sie sagen tatsächlich fast alles — auch und gerade dadurch, was sie nicht sagen:

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»Wir bezweifeln, ob dies gut für den Menschen sei:

Man formuliere das alles einmal positiv als handfeste und konkrete Forderungen: kleinere, stabilere Autos auf schmaleren Straßen; weniger Energieverbrauch; Qualitätsanhebung, dadurch Langlebigkeit der Konsumgüter; Drosselung des Flugverkehrs; Übergang zum organischen, arbeitsintensiven Landbau; Bevölkerungskontrolle in globalem Maßstab. Das wäre ein Jahrhundertprogramm gewesen.

Aber selbst Erhard Eppler, allzeit bereit zum politischen Selbstmord, wagte das Paket nicht so, nicht so konkret zu verkaufen. Er verblieb im protest­antischen Predigerton: Er bezweifelte lediglich mild, ob es denn gut sei... (Vielleicht hätte er mehr gewagt, wenn er sein Schicksal vorausgeahnt hätte: zwei Jahre später als »Spinner« von den neuen »Machern« gestürzt zu werden.)

Nun war Eppler damals keineswegs der einzige, der die wirkliche oder vermeintliche Chance der Lebensqualität als Wahlkampfschlager zu erkennen glaubte. Hans-Jochen Vogel, keineswegs ohne eigene Macherbegabung, nagelte fast die gleiche Planke in seine bayrische Wahlplattform. (Der Vorgang verlief nicht ohne Beteiligung des Verfassers.)

Man stand auf der Höhe des Wohlstands, man hatte was, also war man wer, und das Barometer stand ohnehin auf Reform. Hilfe für Alte und Kranke, schönere Städte, reinere Bäche, klarere Luft, bessere Verkehrssysteme, mehr Kompassion: all dies waren zusätzliche Belohnungen für die tapferen Streiter der Leistungsgesellschaft, die sich nun seit 1948 so viehisch abgemüht hatten — oder, wenn man es richtiger, das heißt zynischer ausdrücken will: es war höchste Zeit, den Konsumaffen mit der Lebensqualität-Banane, die er ruhig als zusätzliche Prämie verstehen sollte, aus dem Urwald der Überproduktion zu locken.

 Eppler auf detopia      wikipedia  Karl_Steinbuch  1917-2005

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Aber trotz dieser sanften Verpackung, trotz des offensichtlichen Christkindlcharakters dieses Angebots witterten die »Konservativen« Unrat. Ein Sprecher der CDU erklärte das ganze Paket als eine Hintertür in den Sozialismus; Professor Steinbuch, nach flüchtigem Reformwillen durch den antiautoritären Eishauch auf den Hochschulen verbiestert, tat desgleichen, und F.-J. Strauß erklärte auf seinen Wahlreden 1972, die CDU/CSU-Regierungen hätten in zwanzig Segensjahren ohnehin einen bis dahin unerhörten Lebensstandard geschaffen — was wolle man eigentlich mit diesem neuen Modewort?

Ich halte F.-J. Strauß nicht für so gescheit, wie dies die meisten seiner Gegner tun; aber er ist als Taktiker sehr gut, und er mag eine taktisch völlig richtige Gelegenheit ergriffen haben. Indem er sich bewußt so stellte, als begriffe er nicht, worum es sich bei dem Wort <Lebensqualität> eigentlich handle, bewies er, daß er die Schwäche, die mangelhafte Trennschärfe der neuen Kampagne sehr wohl begriff. (Die Ereignisse ab 1973 haben ihm indirekt recht gegeben; wenn auch nur in diesem einen Punkt.)

F.-J. Straußens Lebensstandard, so verbrecherisch er auch unter der lebendigen und unbelebten Materie hausen mag, hat wenigstens einen Vorteil: Er ist leicht meßbar. Er ist meßbar nach Bankkonto, nach Länge und Breite des Schwimmbeckens, Kubikzentimeter des Hubraums und Preisklasse der Geliebten.

Lebensqualität ist nicht so meßbar; und es wäre paradox, wenn es anders wäre. Qualität ist eben Qualität und nicht Quantität, Beschaffenheit ist nicht Zahl.

Dennoch hat man auf dem Höhepunkt der Kampagne begonnen, sogenannte Indikatoren zu formulieren — etwa den Gesundheitszustand der Bevölkerung, statistisch erfaßbar; die Anzahl und Ausstattung der Krankenbetten pro zehn- oder hunderttausend Einwohner; die Quadratmeterzahl von Spielplätzen pro Kopf der kindlichen Einwohner; die Anzahl von Kindern pro Lehrperson in Schulen und Vorschulen; die Qualität bzw. Humanität des Arbeitsplatzes, gemessen oder meßbar im reziproken Verhältnis zum Prozentsatz der Krankfeierer.

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Aber all das will sich letzten Endes den Rechenschiebern der Betriebswirte nicht so recht fügen. Denn es läßt sich immer wieder etwas gegeneinander ausspielen.

Damit sind wir am Kern der Frage. Es ist die Frage nach der Rolle, die ein reformistisches Lebensqualitätspaket in unserer Gesellschaft spielt, zwangsläufig spielen muß. Lebensqualität ist eine Form des recycling.

Recycling ist die möglichst rentable Wiederverwendung bereits einmal veredelter Rohstoffe im Produktionsprozeß. In den USA ist das bereits eine sehr beachtliche Industrie geworden. Die wieder oder anderweitig verwendbare Natur, der nützlich verwendete Abschaum, der noch nicht überflüssige Opa: Trotz aller idealistischen und ästhetischen Ansätze läuft das auf eine reformistische Senkung der Folgelasten hinaus. Solange das Rentabilitätsprinzip überhaupt noch eine Rolle spielt — und das tut es offensichtlich —, ist Lebensqualität ein technologischer Fix, ein Rezeptbündel zur Linderung augenblicklicher Schwierigkeiten.

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Eppler und die anderen Reformer, die seinerzeit das Paket angeboten haben, dürften sich darüber nicht im klaren gewesen  sein. Sahen sie weiter (und die Diskussion innerhalb der reformistischen Linken deutet an, daß man allmählich anfängt, weiter zu sehen), ist es politisch nicht durchsetzbar, wie man so schön sagt.

Es war deshalb leider völlig logisch, daß die ganze Lebensqualitätformel platzte, als es wieder um Arbeitsplätze, um Steuern, um Bruttosozialprodukt und Exportquoten ging. Die Macher hatten und haben das Wort, und mit ihnen die Advokaten des garantierten ökologischen Selbstmordes. Das Szenario als Ganzes, die reformistische Perspektive, ist vorläufig nicht mehr opportun.

Darin liegt eine fürchterliche Ironie. Die Rezession war jedenfalls in ökologischer Sicht — eine Chance; eine Chance nämlich, die höchst konkreten, meßbaren, zukunftsrelevanten Seiten des Problems wahrzunehmen. Offizielle Blindheit ist dazu nicht imstande.

Ist damit, mit dem Slogan von der Lebensqualität, auch die Sache des ökologischen Materialismus am Ende? Es gibt Symptome dafür — höchst interessante Symptome —, daß dem nicht so ist. Aber darüber werden wir später zu handeln haben.

 

   Marxistische Perspektiven: die Vertagung der Freiheit 

 

Nichts zeigt klarer den Wendecharakter, und zwar den Jahrtausendwendecharakter unseres Weltmoments an als die Verwirrung des Marxismus durch die ökologische Krise.

In der Tat gibt es überhaupt keine <marxistische> Reaktion auf die Krise, sondern nur die Äußerungen verschiedener Marxisten, Parteinahmen, die genauso kunterbunt durcheinandergehen wie die im sogenannten kapitalistischen oder reformistischen Lager.

Nur der Übersicht halber, ohne Anspruch auf exakte Grenzziehungen (die ohnehin nicht möglich sind), seien hier drei Reaktionsarten unterschieden, die am besten am Beispiel der Stellungnahmen zum MIT-Bericht* und zum <Club of Rome> illustriert werden können:

* (d-2014:)  gemeint ist wohl das Forrester-Buch 1971

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Fraktion Eins: die marxistischen Wachstumsfetischisten, in der Theorie überproportional vertreten durch die DDR, aber in der Praxis die dominierende Gruppe. Ihre Bejahung des Industriesystems ist im Grunde kritikloser als die der Kapitalisten. Folgerichtig »entlarvt« diese Gruppe, soweit sie theoretisiert, den <Club of Rome> als einen besonders gefährlichen Haufen: Handlanger einer faschistischen bzw. faschistoiden Unterdrückungsideologie, die verzweifelt versucht, die immanenten Widersprüche des Kapitalismus durch ein Austerityprogramm zu verschleiern.

Fraktion Zwei: Eine Zwischengruppe, welche das ökologische Problem in seiner vollen Größe anerkennt, aber es ausschließlich als Folge kapitalistischen Wirtschaftens betrachtet. Für diese Fraktion ist der <Club of Rome> kein Buhmann, sondern sozusagen der Offenbarungseid des Systems, das nun schleunigst durch den Sozialismus abgelöst werden müsse.

Diese Fraktion geht sehr oft ohne erkennbare Grenze in die dritte über — in die Fraktion Drei, welche die Genese der Krise ebenfalls dem Kapitalismus anlastet, aber bereit ist, zuzugeben, daß im marxistischen Dogmenbestand ebenfalls revisionsbedürftige Widersprüche stecken, welche von der Krise illustriert bzw. aufgedeckt worden sind. Nur aus dieser Fraktion geht etwas wie ein eigenes, in sich stimmiges Konzept für eine ökostabile Zukunft hervor.

Die Fraktion Eins können wir verhältnismäßig leicht beschreiben: Es gibt nicht viel, was sie, aus der Sicht des ökologischen Materialismus, von ihren kapitalistischen Wachstumsvettern unterscheidet. Ihr Programm sind die Sätze, die im <Lehrbuch der Politischen Ökonomie> der DDR aus dem Jahre 1965 stehen:

»Im Sozialismus ist die ununterbrochene Erweiterung der Produktion eine objektive Notwendigkeit, da es unmöglich ist, ohne sie das stetige Anwachsen der Konsumtion des Volkes zu gewährleisten... Die bewußte Ausnutzung der ökonomischen Gesetze im ökonomischen System des Sozialismus hat zum Ziel, kontinuierlich eine hohe Steigerung der Arbeitsproduktivität zu sichern. Das ist der Dreh- und Angelpunkt für die ökonomische und damit für die politische Stärkung des Sozialismus. Von der Steigerung der Arbeitsproduktivität hängen ab das Wachstum der Produktion und des Nationaleinkommens, das selbst wiederum Grundlage der erweiterten Reproduktion und der zunehmenden Möglichkeiten der Befriedigung der gesellschaftlichen und individuellen Konsumtionsbedürfnisse darstellt.«

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Dazu ist wenig zu sagen; hier wird mit der erfreulichen Offenheit etwa des <Deutschen Industrie- und Handelstages> der Bundesrepublik Deutschland die Fortsetzung des planetarischen Plünderungs- und Selbstmordkurses als zentrale Forderung des sozialistischen Wirtschaftens proklamiert.

Lassen wir die munteren Toten der Fraktion Eins ihre Toten begraben und wenden wir uns der Fraktion zwei zu.

Die ist im Westen, wo die »Springquellen des Reichtums« fließen, stärker und einflußreicher als im sozialistischen Herrschaftsbereich. Diese Fraktion hat die Dimensionen des Problems und die Kernfragen der Wachstums­debatte fast voll begriffen. Sie ist infolgedessen äußerst unzufrieden mit der Reaktion der Fraktion Eins auf den MIT-Bericht, den sie grundsätzlich anders beurteilt.

Lassen wir einen Sprecher der Fraktion selbst zu Wort kommen, Henrich v. Nussbaum, den Herausgeber des Sammelbandes <Die Zukunft des Wachstums — kritische Antworten zum Bericht des Club of Rome>. (Der Band erschien 1973.) H. v. Nussbaum schreibt in seinem grundsätzlichen Nachwort:

»Das Gefecht, das die alte und neue Linke den Grenzhütern von MIT und <Club of Rome> geliefert hat, erinnert vertrackt an die Schmähreden eines Jünglings, der erfährt, daß die von ihm in keuscher Manier Angeschmachtete nach Jahren vergeblicher Erwartung einem anderen sich hingab. Statt die Kehrtwendung der Marktwirtschaftler — und sei sie noch so scheinheilig — für die eigene Strategie auszuschlachten, verhöhnt man ihre Brüche und Unvollständigkeiten und verliert wiederum das Gehör der jetzt erstmalig aufgeschreckten Massen. Bewußtseinsveränderung ... in eine verkarstete Gesellschaft zu bringen, war das Ziel, an dem man sich jahrelang einen Bruch hob. Nun, da sie von der falschen Seite kommt, verschmäht man diese Bewegung in koketter Prüderie...«

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Die Position ist klar, die Fraktion Zwei sieht gerade das, was Fraktion Eins nur zu liebend gern aus dem Kapitalismus übernehmen möchte, nämlich seine »Entfaltung der Produktivkräfte«, als die zentrale Schurkerei eben dieses Kapitalismus. Sie ist unbefangen genug zuzugeben, daß »bürgerliche« Theoretiker einen entscheidenden Schritt in der Analyse des kapitalistischen Verbrechens weitergekommen sind, und sie ist auch bereit, das Thema zu übernehmen und — v. Nussbaum schreibt es wörtlich — auszuschlachten. Die nötigen Klassikerzitate hierzu liegen immer parat. Nur der Marxismus wird imstande sein, der Analyse den wahren Begriff zu geben und damit einer politisch-revolutionären Lösung näher zu kommen.

Doch welcher Lösung?

Wie wird eine Produktion aussehen, die die selbstmörderischen Fehler des alten, inkonsequenten Materialismus vermeidet und nichtsdestoweniger auf »Entfaltung«, auf »Erweiterung« gestellt bleiben muß?

Dies bleibt vorläufig im Nebel marxistischer Fundamentaltheologie. Sie produziert dann Sätze wie die folgenden:

»Sobald die Produktivkräfte nicht mehr von kapitalistischen Produktionsverhältnissen einerseits gefesselt, andererseits als Destruktivkräfte entfesselt werden, können sie eine völlig andere Richtung einschlagen... Wenn der politische Kampf um die Aufhebung der Warenproduktion gewonnen ist und die Produktivkräfte im Sinn einer gesamtgesellschaftlichen Vernunft gelenkt und entwickelt werden, wird sich auch das Verhältnis des Menschen zur Natur qualitativ ändern...«

Diese Sätze stammen aus dem Beitrag <Marx und die Ökologie> von Elisabet und Tor Inge Romoren im <Kursbuch 33>; einem Beitrag, der keineswegs geistlos ist. Gerade deshalb aber tritt hier der marxistische Utopismus in seiner ganzen verzweifelten Abstraktion hervor — einer Abstraktion, die nicht zuletzt durch den gescheiten Verzicht auf konkretisierte Hoffnungen entsteht. In dieser Abstraktion bleiben sämtliche Subjekte künftigen Handelns verschleiert, nebulos: Wer gewinnt den Kampf gegen die Warenproduktion? Etwa die Arbeiterklasse, die davon lebt? Wer dolmetscht den »Sinn einer gesamtgesellschaftlichen Vernunft«, die ja wohl uninteressiert, ja gegen vitale Interessen der lebenden Generation gerichtet sein müßte? Und wer wird dann im Sinne dieser Vernunft lenken und entwickeln?

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Zudem ist, so wie die Dinge liegen, das Kernstück der Utopie selbst in Frage gestellt, nämlich das Ende der Not. Von ihr kann vorläufig auch in einer sozialistischen oder kommunistischen Welt keine Rede sein. Die große Erfüllung, das Jüngste Gericht des Marxismus rückt damit zunächst in unerreichbare Ferne. So formuliert es denn auch H. M. Enzensberger mit dem letzten Satz seines eigenen Beitrags im genannten Kursbuch:

»Was einst Befreiung versprach, der Sozialismus, ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je.«

Damit sind wir bereits bei der Problematik angelangt, welche die Fraktion Drei hervorgebracht hat (H. M. Enzensberger gehört ihr, so möchte ich meinen, wenigstens untergründig an).

Diese Fraktion mag sehr, sehr klein sein — aber sie hat einen bedeutenden Chefideologen. Und damit kommen wir zu der interessantesten marxistischen Theorie, welche die ökologische Krise bislang hervorgetrieben hat.

 

Wolfgang Harich ist 1975 mit einem Buch vor die westdeutsche Öffentlichkeit getreten: <Kommunismus ohne Wachstum; Babeuf und der Club of Rome>. Einige Monate früher hatte er ein Interview für das rororo-Magazin <Technologie und Politik> gegeben, das die wesentlichen Gedanken des Buches vorwegnahm und zusammenfaßte.

Harich ist ein sehr gewandter und konsequenter politischer Operateur. Ohne Federlesens bekennt er sich zu den Warnungen des <Club of Rome> — ja, er hält diese Problematik für das Zentralthema künftiger Politik überhaupt. Ohne Federlesens macht er Front gegen die SED-Anschwärzer des MIT-Berichts; er stellt ihre tiefe innere Verwandtschaft mit den kapitalistischen Wachstumsfetischisten fest, die bis in die verbale Übereinstimmung geht:

»Man stelle sich vor: Gefahren, die nach dem ebenso einhelligen wie kompetenten Urteil bedeutender Gelehrter, auch aus der Sowjetunion, die Menschheit in naher Zukunft mit Vernichtung bedrohen, werden in der westdeutschen reaktionären Unternehmerpresse aus Sorge um den Profit als Hirngespinste Lieschen Müllers bagatellisiert... und SED-Genossen schämen sich nicht, aus dieser Gosse Munition für die Dreckschleudern zusammenzuklauben, die sie gegen jene Gelehrten [die Systemanalytiker des MIT; C. A.] richten zu müssen glauben.« 

* (d-2014:)  W.Harich bei detopia      H.Enzensberger bei detopia

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Unbewußte — oder bewußte — Kollision mit dem Klassenfeind: Der neue Schachzug ist ausgezeichnet. Aber Harich, ein gewiegter Spieler, hätte ihn nie gewagt, wenn es die erwähnten sowjetrussischen Gelehrten nicht gäbe.

1972 fand ein Symposium in Moskau statt, das den harmlosen Titel <Der Mensch und seine Umwelt> trug; an ihm nahmen Wissenschaftler, vor allem Naturwissenschaftler, und Ideologen teil. Das lange Protokoll, das in der veranstaltenden Zeitschrift <Woprossy Filosofii> erschien, zeichnet sich durch eine meisterhafte Taktik der Verwischung und Harmonisierung gegensätzlicher Standpunkte aus.

Dennoch lassen sich die Ansichten der Teilnehmer aus dem Text ohne größere Mühe extrapolieren. Sie waren nicht einheitlich; vor allem waren ausgesprochene Wachstumsfetischisten nur schwach vertreten. Dennoch wird klar, daß die Mehrheit der Naturwissenschaftler die Schlüsse des MIT-Berichts verteidigte, wenigstens im Grundsätzlichen — und zwar wärmer und entschiedener, als dies im Westen der Fall war und ist. Die Partei der Wachstums­befürworter scheint dagegen mehr Anhänger unter den Ideologen bzw. den Gesellschaftswissenschaftlern und -theoretikern zu haben.

Damit weiß Harich einen mächtigen Bundesgenossen hinter sich: NAUKA, die allseits und fast religiös verehrte Naturwissenschaft. Er hält seine Argumente meist auf dem rein theoretischen Feld, aber er gibt damit wenigstens implizit zu, daß sich die Produktionspraxis in den sozialistischen Ländern vorläufig nicht von der im kapitalistischen Westen unterscheidet. Sein Rezept ist denn auch sehr radikal: sofortiger Übergang zum Kommunismus.

»Es ist notwendig, das Wachstum anzuhalten, weil andernfalls die Biosphäre zerstört wird. Und es ist notwendig, das, was schon gewachsen ist und was, auch nach Meadows' Urteil, in den Grenzen einfacher Reproduktion weiterhin nachwachsen soll, von nun an gleichmäßig zu verteilen — gleichmäßig, zwischen armen und reichen Ländern, gleichmäßig innerhalb jedes einzelnen Landes. Mit einem Wort: Wir müssen auf der ganzen Welt zum Kommunismus übergehen. Das sagen Meadows' Empfehlungen nicht... aber die Konsequenz gerechter Verteilung hat aus ihnen der Sozialdemokrat Mansholt gezogen. Und Kommunisten... müßten sie, sollte man meinen, erst recht und noch radikaler ziehen. Warum nennen sie sich denn Kommunisten, wenn ihnen diese Lösung nicht als erstes einfallt?«

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Ein asketischer Verteilungskommunismus wird also proklamiert: gerechte Verteilung des Mangels. Und Harich hat für dieses Programm auch den historischen Ahnherrn zur Hand:

»Kommunismus heißt: Gerechte Verteilung, konsequent, radikal durchgeführt. Darüber war sich schon zur Zeit der Französischen Revolution einer der ruhmwürdigsten Vorläufer von Marx und Engels, der Revolutionär Gracchus Babeuf, Führer der Verschwörung der Gleichem, im klaren...«

Babeuf war ein finsterer Puritaner. Daß er angesichts des furchtbaren Elends der unteren Klassen in Frankreich auf einen solchen radikalen Verteilungsplan verfiel, ist nicht verwunderlich. Aber man sollte doch glauben, daß die philosophische und politische Arbeit des Marxismus, die ja wesentlich später einsetzte, über die Prämissen des ruhmwürdigen Vorläufers weit hinausgegangen ist.

Harich schiebt mit einer Handbewegung ganz wesentliche Fragen der marxistischen Theorie beiseite. Sein Verteilungskommunismus, der in der Praxis auf eine globale Zwangswirtschaft nach dem Muster totaler Kriegswirtschaften hinausliefe (einschließlich der Dislozierung ungeheurer Menschenmassen, das erwähnt er ausdrücklich, wenn auch beiläufig), erfordert Behörden, zentralistische Behörden mit ungeheuren Vollmachten. Er erfordert den ewigen Polizisten an der ewigen globalen Brotschlange. Und vor allem fordert er Verzicht, totalen, sofortigen Verzicht auf das vornehmste Herzstück der marxistischen Ethik: auf seine eschatologische Hoffnung, das Ende der Entfremdung.

Das stalinistische System, mit dem nachträglichen Lorbeer heroischer Gerechtigkeit gekrönt, wird zum Dauerschicksal der Menschheit. Es wäre sonderbar, wenn dieser gescheite Mann das selbst nicht begriffen hätte.

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Zwar spart er alle Fragen der Staatlichkeit, der politischen Realisierung aus seinem Programm aus und redet nur sehr verwaschen von künftiger »Brüderlichkeit«, aber in seinem eigenen Denkhaushalt wird er sich schon entsprechende Vorstellungen gebildet haben. Harich ist, wie wir wissen, ein Freund stählerner Institutionen; nicht umsonst hat er seine tiefe Verbundenheit mit Arnold Gehlen hervorgehoben und Schriftsteller in der DDR, die »avantgardistische« Ansätze versuchen, verspottet und denunziert. Wolfgang Harich ist, um es vorsichtig auszudrücken, nicht eben ein Menschenfreund, sondern eher ein Freund der Ordnung — einer Ordnung, die ohne weiteres mit der Formel law and order umschrieben werden kann. Hier liegt die eigentliche Gefährlichkeit seiner Theorie.

Selbst ein Mann, der existentiell so wenig von Mitmenschen versteht wie er, muß sich darüber im klaren sein, daß eine Menschheit, die aller Hoffnung auf Fülle und Freiheit beraubt und an die extremsten modernen Produktionsweisen, das heißt aber an ihre extremste Entfremdung gekettet bleibt, durch eine massive Produktionsverweigerung Rache nehmen wird. Diese Rache — oder dieser Versuch der Rache — wird wiederum extremste Formen der Unterdrückung erzwingen.

Es ist natürlich völlig weltfremd von Harich, zu erwarten, daß der Westen sozusagen plebiszitär zu einer solchen Wirtschaft übergehen wird — das Zitieren von gelegentlichen Jungarbeiterstimmen ist kaum mehr als ein winziges Feigenblatt.

Die Forderung nach babouvistischer Verteilungsgerechtigkeit könnte vielmehr eines Tages — zum Beispiel nach einem ökonomisch-ökologischen Zusammenbruch des Industriesystems — die zentrale Rechtfertigungsideologie für die letzte, die globale Zentralmacht darstellen. Die einzige Schwerindustrie, die dann noch nötig wäre — nämlich die Rüstungsproduktion von Panzern, Hubschraubern und Flammenwerfern für den permanenten Weltbürgerkrieg — ließe sich auf dieser Basis auch rechtfertigen, und das ewige Überleben des letzten, des globalen Parasiten wäre auch theoretisch gesichert. Denn auf permanenten Weltbürgerkrieg liefe das hinaus oder zumindest auf permanenten Betrug, permanente Schiebung, permanente Begünstigung derer, die gleicher sind als die babouvistischen Gleichen.

Damit ist dieses Modell der Fraktion Drei — wenn wir es einmal so nennen wollen — nicht nur moralisch, sondern auch anthropologisch gerichtet. Während es einen ökologischen Vorwand benützt, um eine unbegrenzte Zentralmacht zu fordern, läßt es die entscheidenden anthropologischen und ökologischen Einwände gegen die Produktions- und Organisationsformen der Zentralmächte einfach beiseite. Hier wird, in einem Scheinexorzismus, wirklich ein Dämon vertrieben, der garantiert mit einem Dutzend seinesgleichen zurückkehren und schlimmer hausen wird als vorher.

Aber abgesehen davon ist es auch höchst unwahrscheinlich, daß sich dieses Modell realisieren läßt. Während es — im Endresultat — ungeheuer unmoralisch ist, verlangt es zu seiner Herbeiführung eine heroische, letzten Endes übermenschliche Moral. Die Milliarden der Erde sollen sich überzeugen lassen, daß die planetarische Verteilungsgerechtigkeit, das geduldige Anstehen um die Brot- oder die Reisration, in würdiger und »niveauvoller« Armut (Harich gebraucht tatsächlich dieses scheußliche Wort) auf ewig — daß dieses Szenario der guten alten Beutemacherei, der barbarischen Landnahme, dem imperalistischen Raubzug auf Kosten anderer vorzuziehen sei. 

Theoretisch, auf den ewigen Tafeln eines marxistischen Sinai, mag das sogar stimmen. Aber wie die Geschichte beweist (und was schon damals, im Kampf gegen den Faschismus, die Marxisten nicht begriffen haben), ist in extremen Lagen die Barbarei nach wie vor attraktiv.

Ihre modernste Form, und gleichzeitig ihre konsequenteste, verwirklichte Adolf Hitler. Es ist deshalb notwendig, die Hitler-Perspektive im Licht der ökologischen Erkenntnis zu betrachten: Leider ist es sehr wahrscheinlich, daß der Mann ein Vorläufer war.

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