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Die Perspektive Hitlers: Geschichte als Naturgeschichte  

 

Von Carl Amery 1976

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Es ehrt Karl Marx, daß ihm, einem deutschen Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, die Option für die Barbarei in Gegenwart und Zukunft unvorstellbar blieb — auch wenn er sie theoretisch zuließ. Seine Jünger, die ihn zusätzlich noch als Deterministen des Fortschritts mißverstanden, hätten im Deutschland der Weimarer Republik diese Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen sollen. Sie taten es nicht — oder doch nicht in genügender Weise. Kein Marxismus der Welt war damals so aufgeräumt, so ordentlich, so gebildet wie der deutsche — und die Folgen sind bekannt.

Den Kern der Hitler-Botschaft hat der Marxismus damals nicht verstanden — und er versteht ihn heute noch nicht, wie die einschlägigen marxistischen Publikationen beweisen. Indem man — mit mehr oder weniger gescheiten Differenzierungen — den Faschismus einfach als eine Spezialform der Kapitalisten­herrschaft und die Diktatoren als ihre Lakaien hinstellt, verfehlt man nicht nur seine damalige Attraktivität, sondern gibt auch jede Möglichkeit auf, die äußerst wichtigen Unterschiede zwischen den einzelnen Faschismen zu analysieren.

Reinhard Kühnl, Herausgeber eines solchen typisch linken Bändchens bei <rororo aktuell> mit dem Buchtitel Formen bürgerlicher Herrschaft / Liberalismus — Faschismus (schon der Titel ist bezeichnend für einen Haufen von Mißverständnissen) wagt sich zwar an dieses Ärgernis heran und versucht es richtig zu definieren: »Daß die Massen einer solchen Ideologie folgten, die offensichtlich ihren elementarsten Interessen widersprach, mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen...« Aber er fährt dann treuherzig fort: »Es ist aber zu bedenken, daß die Herrschenden über wirksame politische und geistige Machtmittel verfügen, um das Volk an der Einsicht in seine eigenen Interessen zu hindern.« 

Das kann man Kühnl und den Marxismus allgemein nur fragen, warum nach anderthalb Jahrhunderten sozialistischer Bewegung die Massen immer noch so dumm sein können oder, anders herum, warum der Marxismus in anderthalb Jahrhunderten nicht die entscheidenden Gegengifte entdecken konnte.

Könnte es nicht so sein, daß sich die Interessen der Massen unter bestimmten Voraussetzungen ganz anders definieren lassen, als dies damals in der Weimarer Republik geschah — und wie es durch die Linke auch heute noch geschieht?

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Gehen wir anders, etwas empirischer vor und fragen wir: welche Botschaft hat Adolf Hitler eigentlich verkündet?

In der Tagespolitik war er ein Chamäleon, er versprach fast jedem, was er hören wollte, er schmeichelte der Industrie und schmeichelte den Bauern, nannte seine Partei eine Arbeiterpartei und verfolgte die organisierten Arbeiter, nannte sich einen positiven Christen und verfolgte die Kirchen, integrierte den wirren kleinen Nationalbolschewisten Goebbels und die Herren Wirtschaftsführer. Aber in einem blieb er sich selber treu; blieb sich treu von den Tagen seiner ersten öffentlichen Äußerungen bis zum Testament im Bunker. Hitler war und blieb Vulgär-Darwinist.

Seine Verachtung für das Recht und seine Ablehnung demokratischer Gleichheit, die teilte er durchaus mit allen anderen Faschismen, vor allem denen der Romania. Aber die westlichen Faschismen, auch der nie zur Macht gelangende französische, waren im wesentlichen etatistisch.

Sie waren, bis zu einem gewissen Grade, Rechtshegelianer, der Staat, das Imperium als Verkörperung des Weltgeistes war, wenn sie überhaupt eine Zentral­vorstellung hatten, ihr politisches Ideal. Hitlers Schlüsselbegriff war nicht der Staat und war nicht die Nation, sondern das Volk, noch genauer: die Rasse. Nicht der Staat ist die Verkörperung des Weltgeistes, sondern dieser hat sich ein für allemal biologisch auf die Rasse festgelegt.

Ja, es gibt diesen Weltgeist als solchen gar nicht — Herrin ist vielmehr die Natur. Er nennt sie in <Mein Kampf> die »grausame Königin aller Weisheit«. Sie herrscht in einer Welt des Fressens und des Gefressenwerdens. Jede Art von Humanismus, ganz gleich ob jüdischer, christlicher oder liberaler Herkunft, ist Hitler deshalb von vornherein verdächtig. Humanismus ist für ihn die »krankhafte Vorstellung feiger Besserwisser und Kritiker der Natur«. Die gesamte jüdisch-christliche Tradition einschließlich des Marxismus ist deshalb als Widernatur zu verwerfen und bis aufs Blut zu bekämpfen — nicht zuletzt deshalb, weil sie eine <gefährliche> Seite des Menschen selbst anspricht: »Der Mensch allein, unter den lebenden Wesen, versucht, den Gesetzen der Natur zuwiderzuhandeln« (<Mein Kampf>).

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Das Hitlersystem, die Hitler-Botschaft ist also nichts anderes als die Verweigerung jeder Sorte von Transzendenz, auch der weltimmanenten des Humanismus. Geschichte ist Naturgeschichte: das überorganische Potential des Menschen ist genauso Biologie wie der Reißzahn oder der zersetzende Virus. Wer auf Zivilisation angewiesen ist — so zum Beispiel die heimatlose Gruppe der Juden —, ist damit von vornherein verdächtig, ja notwendig krank und krankmachend. Die jüdisch-christlich-plutokratisch-bolschewistische Weltverschwörung: Das war nichts anderes als das Konglomerat derer, die mit unlauteren Mitteln versuchten, der grausamen Königin, der Natur, die als Insektengöttin zwischen kalten Sternen thront, zu entrinnen oder ihr ein Schnippchen zu schlagen.

Mit solcher Botschaft hebt sich Hitler eindeutig von seinen faschistischen Zeitgenossen ab — und dem entspricht, daß er Christen und Juden verfolgte, was weder Mussolini noch Franco taten. Am ehesten entsprachen der Hitler-Botschaft noch die kurzlebigen Tyranneien des europäischen Ostens, etwa die des Ante Pavelic — bei ihnen war die Erinnerung an alte Stammesbarbarei noch lebendig genug, um zielstrebig an die neue Barbarei des Adolf Hitler anknüpfen zu können.

Denn Barbarei war natürlich die politische Konkretisierung dieses Programms. In einer Dekade tiefer Verzweiflung, unfähig, den langen internationalen Marsch auf sich zu nehmen, den der Marxismus von ihnen verlangte, entschieden sich die Massen in Deutschland zu einer viel älteren, viel attraktiveren Form der Abhilfe. Zentrales Zeichen der Barbarei ist die Begrenzung der Vokabel Mensch auf die eigene, die Wir-Gruppe: Es ist aus der Philologie bekannt, daß Namen wie Eskimo, Bantu, Cheyenne und so fort die Bezeichnung für Mensch, Menschenwesen waren und sind. Dies erklärt zwanglos den Snobismus, ja den Größenwahn, der für solche Völkerschaften charakteristisch ist: Mochte auch zwischen einzelnen Stammesangehörigen große Ungleichheit herrschen, im Vergleich zu den anderen, den Nicht-menschen war man eben Mensch, Mensch schlechthin.

Daher rührt die große, die unverminderte Attraktivität der Barbarei. 

* (d-2014:)  etatistisch     Ante Pavelic

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Das Selbstbewußtsein der Wir-Gruppe löst auf seine, vielleicht nie mehr ganz erreichbare Weise das schmerzlichste Dilemma des menschlichen Bewußtseins: Das Streben nach Freiheit und Gleichheit in einer Welt genetisch bedingter und intraspezifisch verstärkter Unfreiheit und Ungleichheit. Innerhalb barbarischer Gruppen herrscht egalitäres Verhalten und egalitäres Bewußtsein selbst dann vor, wenn (wie zum Beispiel in den schottischen Clans vor 1745) das Gefälle zwischen dem steinreichen Clanchef und dem bitterarmen Crofter nach unseren Begriffen längst unerträglich war. Noch immer aber sang der Barde — und war der Zustimmung der Seinen sicher:

Es gibt keine Kraft außerhalb des Clans MacDonalds, 
Kein besseres Geschlecht gibt es auf Erden... 

Einen solchen Herrenvolk-Größenwahn glaubte nun Hitler in Deutschland erzeugen zu müssen. Die Tatsache, daß weder er noch die meisten seiner Paladine rassisch erfreuliche Typen waren, ist dabei belanglos: Es ging um das Prinzip, es ging um den Menschen als Objekt der Züchtung, um die biologisch mächtigere Maschinerie.

Denn — und ohne dieses letzte Kennzeichen wäre das Hitlersche Unternehmen nur halb so gräßlich gewesen, wie es tatsächlich war —: Es war natürlich eine maschinelle Barbarei, eine gebetsunfähige Barbarei, die hier entstand. Kein Jägervolk oder Nomadenclan wurde hier zur Eroberung hinausgeführt, sondern eine Nation von Facharbeitern, hochalphabetisiert, von Haeckel und anderen längst vulgär-aufgeklärt, längst in Stände zusammengepfercht, dem Numinosen einer wirklichen barbarischen Religiosität seit Generationen entrissen. Ihre Präzeptoren waren keine Schamanen oder Medizinmänner mehr, sondern Professoren und Schullehrer, die nicht einmal ein Feuer im Ofen anmachen oder einen Hasen ausweiden konnten, aber davon faselten (wie etwa Oswald Spengler), daß der Mensch ein Raubtier sei.

Was war die Intention, die hinter diesem barbarischen Raubzug stand? 

Wir kennen sie genau — es war der Generalplan Ost: Eine Steppe voll halbtierischer Sklaven, Handlanger für die Herrenmenschen, die auf Rittergütern und in befestigten Städten bis zum Ural wohnen sollten, durch Autobahnen miteinander verbunden, bewaffnet bis an die Zähne — und, vermutlich, mit genügend Staatsoperetten, um in Permanenz Hitlers Lieblingsstück, die <Lustige Witwe>, spielen zu können.

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Mit anderen Worten: Die Intention war absolut parasitär. Hitlers Herrenvolk sollte genau das werden, was Hitler den Juden vorwarf: der Superparasit schlechthin, eine träge, menschenfressende Rasse von höheren Tieren, die in wenigen Generationen hilflos von ihren Ernährern abhängig werden mußten.

Im übrigen war Hitler konsequent genug zuzugeben, daß das deutsche Volk seiner nicht würdig — lies: für die ihm zugedachte Rolle ungeeignet war. Letzten Endes bejahten die wahren, die konsequenten Nazis den Sieg vor allem Rußlands: Es erwies sich vor dem Schiedsgericht der grausamen Königin eben als die stärkere Gattung, die stärkere biologische Macht.

 

Wesentlich für unsere Überlegungen ist, daß Hitler mit zwei Vokabeln der globalen Krise um eine Generation vorgriff: mit den Vokabeln Lebensraum und Tausendjähriges Reich. Die Lebensraumideologie stammte nicht von ihm selber, sondern war die Folge eines deutschen Zivilisationsschocks, den die forcierte Industrialisierung ausgelöst hatte. 

Letzten Endes war die Lebensraumformel Ausdruck für einen fundamentalen deutschen Zweifel: dem Zweifel an der Durchführbarkeit und Dauerhaftigkeit des Industriesystems.

Tausendjähriges Reich: Das war natürlich zunächst und zu allererst ein Machttraum — aber dieser Machttraum implizierte zumindest die biologische Stabilität. Und in der Tat wären Raum, Zahl und Zeit in einem Tausendjährigen, gegen jede Kreativität und jede Zivilisation gerichteten Imperium theoretisch beherrschbar. Periodische Dekrete konnten die Zahl der Sklaven und der Herren auf den Quadratkilometer festsetzen, konnten fruchtbare Landstriche in Regenerationsbrache oder Urwald verwandeln, konnten die totale Autarkie in einem riesigen Wirtschaftsgebiet verwirklichen.

Das Dritte Reich ist untergegangen, weil »das deutsche Volk Hitlers nicht würdig« war — genauer: weil die Machtbasis für Hitlers Plan zu klein war. Nach 1945 bemühten sich Legionen

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von Humanisten, die Hitler-Botschaft in ihrer ganzen Dämonie zu entlarven — einschließlich der Marxisten. Aber wer ehrlich ist, wird zugeben, daß die kollektive Reinigung der Deutschen durch ein ganz anderes Zaubermittel als den Humanismus gelang: durch das Wirtschaftswunder.

Ja, es war das Wirtschaftswunder, welches die Volk-ohne-Raum-Theorie widerlegte — und sonst nichts. Gab es je eine Zeit, in der unser Raum so entsetzlich übervölkert war wie heute? Und gab es je eine Zeit, wo das so beengte Volk >besser< lebte? Ähnliches war vom anderen Ende der Welt, vom anderen Geschlagenen des Lebensraumkrieges zu hören: von Japan. Auch dort war einer unmäßigen Expansion eine unmäßige Kontraktion — und ein unmäßiger wirtschaftlicher Aufstieg gefolgt.

Damit schienen die alten geopolitischen Sorgen erledigt. Wenn man schon geopolitisch oder geophysisch argumentieren wollte, dann schienjetzt, ab 1955, eine neue Theorie angebracht — die Theorie nämlich, daß höchste Prosperität nur in Räumen von höchster Verdichtung angestrebt und erreicht werden kann. Die Geschichte Athens, Venedigs, des flandrisch-holländischen Raums im 16. und 17. Jahrhundert schien eine solche Theorie auch historisch zu untermauern. Noch einmal (wie schon einst im Barockzeitalter) triumphierten die Merkantilisten über die Physiokraten.

Aber nun, da durch die ökologische Krise die Grundlagen unseres Industriesystems erneut in Frage gestellt sind, taucht auch die Formel vom >Lebensraum<, wenn auch in gänzlich veränderten Zusammenhängen, wieder auf — und mit ihr die Frage nach der möglichen Dauer, der möglichen Stabilität unseres Systems.

Und an den verdüsterten Horizonten dieser Perspektive taucht sie wieder auf— Adolfs Göttin mit den Panzerzangen und den Facettenaugen.

Sicher wäre es töricht zu erwarten, daß der Faschismus, genauer der Hitlersche Biofaschismus, mit den gleichen Fahnen und Sprüchen, mit den gleichen kulturgeschichtlichen und sozialen Begleiterscheinungen auftreten wird wie anno 1923 und 1929.

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Die ängstliche Nazisuche, das argwöhnische Beobachten von möglichen Nachfolgeparteien und >Organisationen< wie etwa der NPD verwirren da eher, als sie helfen. Es gibt interessantere — und gefährlichere Symptome.

Versuchen wir, ein paar dieser Symptome zu skizzieren. Sehen wir uns um, nicht nur bei uns in Mitteleuropa.

Ernster sind Hitlers Spuren in entfernteren Teilen der Welt zu nehmen. Ein großer Prozentsatz dieser entfernteren Welt lebt unter Militärdiktaturen, die sich in der Phase des Weißen Terrors befinden. Setzen wir einmal an, daß sich diese Diktaturen tatsächlich in einem objektiven Dilemma befinden: Einerseits wollen sie >entwickeln<, das heißt, sie sind auf die Liquidierung alter, feudaler oder halbfeudaler Klassenverhältnisse angewiesen, um moderne Industriesysteme aufbauen zu können; andererseits aber sind sie gerade für diese alten Klassen die Garanten von Ruhe und Ordnung, das heißt Unrecht und Ungleichheit.

Setzen wir ferner an, daß die objektive Wachstumsgrenze unweigerlich näher rückt, daß zum Beispiel — die sogenannte Entwicklung des Amazonasbeckens zum Zweck der Unterbringung des Geburtenüberschusses und der bereits vorhandenen hungrigen Massen sich als das herausstellen wird, was sie tatsächlich ist: ein selbstmörderischer Angriff auf letzte intakte Bastionen des Weltklimas, sonst nichts; und daß die erschlossenem Urwaldräume in kürzester Zeit unfruchtbarer roter Laterit sein werden.

Wird ein solches Brasilien — ein Brasilien beispielshalber, wohlgemerkt! — letzten Endes in den Marxismus oder in den Hitlerismus umschlagen? In ein humanitäres, revolutionäres System, das unendlich mühsam seine oberflächlich emanzipierten, weil willkürlich in die Industrieproduktion eingefügten Massen zur globalen Solidarität und zum zeitlich unbegrenzten Verzicht erzieht — oder wird eine Raumeroberungsdiktatur entstehen?

Aber ist der hochentwickelte Teil der freien Welt endgültig über die Hitlerei hinaus? Selbst das kann man bezweifeln.

Man erinnere sich nur, was geredet wurde, als die Ölkrise ausbrach:

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Allen Ernstes wurden imperialistische Expeditionen nach Libyen und an den Persischen Golf erwogen, um unser <Recht auf Rohstoffe> zu sichern. Das Komplott erwies sich Gott sei Dank als völlig impraktikabel; aber daß es erwogen wurde, zeigt, daß man die kurzfristige Beutelösung immer noch der Humanität vorzieht.

Dazu kommt der rapide Verfall unserer inneren Verfassung. Ich behaupte, daß das Potential an kalter Grausamkeit und Gemeinheit, das heute einem Hitler zur Verfügung stehen würde, unendlich größer ist als es 1933 war.

Die <inneren Kontrollen> von einer progressiven Soziologie ohnehin nur abwertend erwähnt, sind bisher noch in jeder Gesellschaft die effektivsten gewesen. Stellen wir schlicht fest, daß sie bei uns in Europa seit der Emanzipierung von den Kirchen nicht mehr funktionieren; man mag dazu stehen, wie man will. In den Städten bedeutet ein zwölfstündiger Polizeistreik Raubmord, Brand, Schändung und Plünderung — entsprechende Beispiele sind bekannt. Auf dem Land, wo die kleineren Gemeinden bisher immer mehr oder weniger für ihre eigene soziale Polizei sorgten, reißen in dieser Hinsicht (und leider nur in dieser) durchaus städtische Verhältnisse ein.

Die Verwahrlosung der emotionalen Kultur, der tatsächliche Zusammenbruch der Erziehung (die zur reinen Wissensvermittlung degradiert wurde) und der wachsende, übrigens völlig zu Recht bestehende Eindruck der kleinen Leute, daß sie letzten Endes nur als Konsumtrottel für die Wirtschaft interessant sind: All dies gehört zu den Folgelasten, von denen wir bereits sprachen, und die sich in geometrischer Progression auftürmen.

Diese Verwahrlosung, diese Folgelasten allein richten bereits das Industriesystem. Selbst wenn der Club of Rome vollständig unrecht hätte; selbst wenn es einem künftigen Riesenkonzern oder einem globalen Zentralbüro gelingen sollte, die »Springquellen des Reichtums« für alle fließen zu lassen: Die entscheidende Frage der Verwüstung, der ökologischen wie der individuellen, würde dadurch nicht gelöst, sondern nur noch verschärft werden.

Hitler-Material, Bausteine für ein Hitler-Szenario umgeben uns also in finsterer Fülle. Wieder besteht die Gefahr, daß linke Systemkritik zwar durchaus richtig auf die lauernde Gefahr hinweist, aber infolge unzulänglicher Beurteilung menschlicher Motivitationen den Sog in die Barbarei unterschätzt.

Trotz aller Ozeane von Blut und Tränen, die Hitler schuf und hinterließ; trotz der düsteren Regression seines Welt- und Menschenbildes ist seine brutale Botschaft von Bedeutung. In ihr wird zum ersten Mal ganz bewußt das Bündnis ausgedrückt und begrüßt, das die moderne Menschheit mit der Wüste geschlossen hat.

Entgegen Hitlers eigener Meinung war er nämlich kein Verbündeter der Natur, sondern der konsequenteste Verfechter des inkonsequenten Materialismus. In einer seiner infantilen Phantasien, zu denen er öfter neigte, drückte er seine tiefsitzende Furcht vor den Juden so aus: Wenn der jüdische Generalplan gelinge, dann werde dieser Jude, dieser Parasit, alles Lebendige auf Erden verschlingen — um, nach den Gesetzen der Natur, dann selbst zu enden, zu verenden. Leer und kalt, wie vor Jahrmilliarden, werde sich dann die Erde wieder um eine gleichgültige Sonne drehen.

In Wahrheit aber war Hitler selbst ein solcher Parasit, und der Erfolg seines eigenen Planes wäre der Vernichtung des Lebens nahe gekommen. Zentralmacht, das war auch seine Kategorie und seine Alliierte; eine grausame Königin, die er nur mit dem verwechselte, was er seit Haeckel und Darwin für Natur hielt. Geschichte als reine Naturgeschichte — das wird zum Ende nicht nur der Geschichte, sondern auch der Natur. Aber noch sitzt Caliban, die unversöhnte Barbarei, in ihrer Höhle, und wartet auf den nächsten Anruf. Er kann jederzeit erfolgen, solange wir mit der Erde nicht versöhnt sind.

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