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        Die Perspektive des konsequenten Materialismus        

 

 

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Versöhnung mit der Erde, das ist die Notwendigkeit, aus der konsequenter Materialismus erwächst und handelt. Nicht Ende der Entfremdung, nicht Fülle der Güter für den Menschen kann sein Ziel sein, sondern zunächst und vor allem eine Zukunftsordnung, die sich aus dem Respekt vor jeder Materie, auch nichtmenschlicher, ergibt. 

Gewiß, noch immer und stets gilt der Marxsche Satz, daß Natur dem Menschen durch Gesellschaft vermittelt wird und auch die Einwirkung des Menschen auf die Natur (der bekannte »Stoffwechsel«) gesellschaftlich erfolgt. Aber dies sagt noch nichts über die Aufgaben aus, die sich die Gesellschaft als Vermittlerin stellt.

Diese Aufgaben hat der inkonsequente Materialismus in der ständigen Ausweitung menschlichen Einflusses und menschlicher Herrschaft über die Natur, auf Kosten aller anderen lebenden und toten Formen der Materie gesehen. Wir haben, glaube ich, gezeigt, daß diese Rechnung nicht aufgehen kann: Das Bündnis mit der Wüste, das Aufhäufen von Schädelpyramiden bringt auch dem Armut und Tod, der sie als Eroberer praktiziert. Der Eroberer stirbt inmitten der Dünen, zwischen vergifteten Brunnen und totem Gestein.

Stellen wir demnach an den methodischen Anfang einer wahrhaft zukunftsbestimmten Perspektive eine schlichte Forderung: Lassen wir dem Leben seine Chance. Nicht dem menschlichen Leben, sondern dem Leben schlechthin.

In dem Augenblick aber, wo wir diese Forderung stellen, steht schon wieder die Produktion im Mittelpunkt der Überlegung. Nicht deshalb, weil sie für uns Menschen so zentral wäre (der ökologisch definierte Mensch ist gerade kein Homo oeconomicus...), sondern weil die zentrale Gefährdung dieser Chance aus der Produktionsweise stammt.

Nun gibt es keine menschliche Produktionsform, die völlig ökoneutral wäre oder gar positiv zur Optimierung der Entropie beitrüge. Die lebensfreundlichste Produktionsform wäre — keine Produktion; das heißt die durch keinen >überorganischen Faktor< modifizierte Lebensweise eines Raubtiers dritter oder vierter Ordnung mit flexiblen Ernährungsmöglichkeiten auch durch Pflanzen.

Eine solche Lebensweise (vielleicht könnte man sie als Paradiesproduktionsform beschreiben) hätte innerhalb der Lebenskreisläufe die gleiche Funktion, die jedes Raubtier ausübt: die Funktion einer Gesundheits- und Selektionspolizei. Vorzeitliche Jäger und Sammler haben sie tatsächlich noch gehabt; so haben sich kürzlich zwei weiße Anthropologen dem Test unterworfen, drei Wochen auf der Savanne nur von dem zu leben, was sie mit steinzeitlichem Werkzeug (nicht Pfeil und Bogen) erlegen konnten. Es war, wie zu erwarten, ein hartes Leben, und ihre einzige substantielle Beute war — ein blindes Giraffenkind.

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Schon die Sozialform der Jagdbeute wirft diese Beschränkung um — möglicherweise, wie wir sahen, mit ökologisch negativen Folgen. Dennoch bleibt als Grenzwertforderung bestehen: Die ökologisch beste Produktionsform wäre keine Produktion.

Und tatsächlich waren die ersten Weisheiten, die ersten skills der Menschheit keineswegs das, was wir Produktionszuwachs nennen würden. Ihre ersten Weisheiten bezweckten die möglichst flexible Anpassung an die Ressourcen aus laufendem natürlichem Einkommen — ohne sogenannte >Veredelungs-Prozesse<. 

>Veredelung< der Existenz wurde (entgegen der Smith-Marxschen Fabel vom Homo oeconomicus) entweder in Form reicher Sozialisierung und Ritualisierung des Lebens — oder durch die Herstellung von Kunstwerken erzielt. Und die anthropologische Beobachtung läßt darauf schließen, daß die allerersten Kunstwerke entweder immateriell waren (Gesang, Tanz, Redekunst) oder mit einem Minimum an Material, etwas Ocker, Kalk oder Speckstein auskamen. >Veredelung< der Produktion war also zunächst nicht ihre Ausweitung oder technologische Forcierung, sondern ihre zweckmäßige, durchaus gesellschaftlich vermittelte sinnvolle Interpretation.

(Daß diese Interpretation »religiös« war, reißt natürlich ein großes Loch in die einseitige Definition des »Seufzens der Kreatur«, und sie stört die Kreise des bisherigen Materialismus — aber nur des inkonsequenten.)

Wesentlicher Prüfstein dieser Interpretation war die Interpretation des Schmerzes, des Mangels, des Todes. Sie erfolgte niemals ohne Ängste. Aber wiederum war die Tendenz darauf gerichtet, Schmerz und Tod nicht durch Mehrproduktion zu verdrängen, sondern ihn kollektiv-psychisch zu bewältigen. Da dies — in der »primitiven« Phase der Menschheit — ohne Unterdrückungsmechanismen innerhalb der Gruppe geschah, sind auch hier gängige, vulgäre Deutungen solcher Bewältigung nicht zulässig.

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Im engeren Sinne von materiellem Interesse ist die »Wirtschaftsweise« dieser Frühstufe, in erster Linie die Nahrungsbeschaffung. Wie schon erwähnt, nahm sie selten mehr als vier Stunden täglich in Anspruch. Dies wurde nicht zuletzt dadurch erreicht, daß die Nahrung äußerst diversifiziert war. Unsere lächerlichen Vorurteile hindern uns daran, Maden, Asseln, Engerlinge und Kerbtiere als zulässige Nahrung zu betrachten; unser Kulturkreis hat als höchstes Ideal den englischen Beefsteakfresser postuliert, und damit hat sich, zum großen Schaden der Welt, unsere Vorstellung von »anständiger« Ernährung unzulässig verengt. Unter Primitiven gelten gerade diese »ekelhaften« Sorten als Leckerbissen. Noch die letzten Könige Koreas vor der Besetzung durch die Japaner (Anfang unseres Jahrhunderts) schätzten als höchste Delikatesse scharf geschmorte Asseln eines ganz bestimmten Typs. (Hier wäre für ökologisch orientierte, aber raffinierte Gastronomen noch ein weites Feld der Kreativität offen.)

Aber verlassen wir diese wahrhaft internationale Gastronomie und stellen wir als nächsten Schritt fest:

Wenn schon Produktion, dann ist die ökologisch verträglichste eine Form, die sich möglichst eng und möglichst lange an vorhandene Kreisläufe anschließt, und zwar in möglichst überschaubaren Bereichen.

Nun kann man auf den ersten Blick feststellen, daß die Tendenz unserer Produktionsformen diesem Axiom radikal zuwiderläuft; und zwar in fast allen uns bekannten Volkswirtschaften. Erklärt wird das mit dem famosen »Sachzwang«; und in der Tat ist die Geburtsstunde des Großprojekts das Erlebnis des Zwanges, der von bisher nicht bekannten Bevölkerungsdichten ausgeht.

Die Perspektiven, die sich (einmal abgesehen vom sturen technokratischen Durchwursteln) angesichts der ökologischen Krise bisher anbieten, sind aber alle gigantomanisch. »Lebensqualität« als Leistungsprämie für den erfolgreichen Bruttosozialprodukthersteller; asketischer, globaler Verteilungskommunismus; imperalistische barbarische Raubzüge mit Etablierung eines »Herrenvolks«: Alle diese Angebote sind die typischen Produkte eines Zentralmachtdenkens, dem es in erster Linie darauf ankommen muß, die existierenden Abhängigkeiten zu erhalten und, wenn möglich, bis zur totalen Ohnmacht der Wirtstiere zu steigern.

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Wir brauchen gar nicht bis zu Orwell oder Huxley oder Harich vorzustoßen, um diese Wahrheit zu begreifen. Es genügt, sich die gegenwärtige Wirtschaftspraxis und -theorie anzusehen. Schon die Errechnung des sogenannten Bruttosozialprodukts zeigt, daß den Zentralmachtdenkern Produktions- und Dienstleistungen, die keine oder nur interpersonelle, das heißt unmittelbare Abhängigkeiten aufweisen, überhaupt nicht zugänglich sind. Der Hackbauer, der den größten Teil seines eigenen Maises oder seiner Yams verzehrt; die Wäscherin, die auf flachen Steinen am Fluß die Dhotis mit Paddeln schlägt; ja noch der nichtkommerzielle, gewissermaßen archaische Wilderer, der sich seinen eigenen Sonntagsbraten schießt: Ihre Leistungen und die Produkte, die sie herstellen, tauchen in der Rechnung nicht auf, machen aber einen erklecklichen Prozentsatz der Weltproduktion aus — auch heute noch.

Schon an diesem Punkt unserer Überlegungen wird sichtbar: Das einfachste, das allerkonkreteste Freiheitsprinzip fällt auf weite Strecken mit dem Anliegen des ökologischen Materialismus zusammen. Und dieses Freiheitsprinzip ist wiederum in den ältesten und erfolgreichsten Formen anthropologisch tragbaren Wirtschaftens am Werk.

Die sinnvolle, die einzig durchführbare Antwort auf die ökologische Krise ist eben gerade nicht die Zentralisierung, sondern die Diversifikation, die möglichst schöpferische Erstellung oder Wiederherstellung von möglichst kleinen Versorgungskreisen.

Es liegt auf der Hand, daß eine solche Vorstellung die Zentralmächte rasend macht. Und sie versuchen folgerichtig, jede auch noch so harmlose und dumpfe Äußerung des Strebens nach Vereinfachung und Verselbständigung mit ihren Mitteln zu begegnen. Ein fast schon lächerliches Beispiel ist der Streit um die zweite (oder dritte) Kuh in der UdSSR. Der Prozentsatz an tatsächlicher Lebensmittelversorgung der Gesamtbevölkerung aus den sogenannten >privaten Spitzen<, also den Häuslerdeputaten der Kollektive, ist unheimlich hoch, und die speziellen Umstände bringen es mit sich, daß ein georgischer Bauer, der mit einem Sack voll Melonen nach Moskau fliegt, ihn dort absetzt und durch die Luft wieder in seine Heimat zurückkehrt, ein gutes Geschäft gemacht hat. 

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Aber machen wir hier nicht billigen Antikommunismus: Es gibt bedrückendere Beispiele im eigenen Land.

So dokumentieren jährlich Hunderttausende von Bundesbürgern ihren festen Willen, wenigstens ein paar Wochen wie Trobriander zu leben: Sie wollen nach Süden ans Meer und entledigen sich womöglich schon unterwegs jeglicher Kleidung. Das System der Wirtschaftsverflechtung profitiert davon; Autos, Benzinpreise, sogenannte >Infrastruktur<, das heißt landschaftsvernichtende sechsspurige Betonbänder, sorgen dafür, daß das BSP durch diese Sehnsucht ansteigt. Darüber hinaus aber werden den potentiellen Trobriandern auch noch Wohnanhänger und Campingausrüstung in Massen verkauft. Mutter darf dann unter Pinien eine miese, schweißtreibende Doublette jenes Wohlstandshaushalts in Gang halten, den man ihr zu Hause längst erfolgreich aufgeschwätzt hat.

Ein fast noch besseres Beispiel: 

Kürzlich hat irgendein Forschungsinstitut die erstaunliche Tatsache mitgeteilt, daß über die Hälfte aller Bundesbürger direkt oder indirekt im Genusse eines Gartens sind. Aber, so teilt das Institut weiter mit, sie nützen ihn nicht aus. Woraus schließt man das? Nun, aus der Tatsache, daß nur zwanzig Prozent der Gartengenießer jene zahlreichen Gerätschaften, Spritzmittel, Rasenvolldünger, Mähmotoren kaufen, welche allein eine BSP-würdige Ausnutzung dieses Gartens dokumentieren. Daß eventuell ein stattlicher Prozentsatz dieser Faulenzer gar nicht faulenzt, sondern bereits organischen Landbau treibt, ist ein Alptraum, an den die (vermutlich von seiten der Chemie beauftragten) Experten des Instituts lieber gar nicht denken.

Und so haben denn die Experten dafür gesorgt, daß die Faktoren in der nationalen und internationalen Kosten-Nutzungs-Rechnung, die jeweils gegen das Großprojekt und für das Kleinprojekt, gegen die Abhängigkeit von zentralistischen Verfahren und für möglichst weitgehende Selbständigkeit sprechen, gar nicht erst in die Rechnung aufgenommen werden. 

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Das sattsam bekannte Beispiel ist das Automobil: 

Mag die Kfz-Steuer noch so hoch, mögen die Aufschläge aufs Benzin noch so horrend sein, sie bezahlen immer nur einen Bruchteil der Folgelasten, die sich aus der Motorisierung ganzer Kontinente ergeben. (Sehen wir einmal von den ästhetischen Gemeinheiten ab, die daraus resultieren — sie sind ohnehin den betreffenden Herren nicht zugänglich.)

Als bisher kriminellstes Beispiel des zentralistischen Verrechnungschwindels sei die Kernenergie angeführt. Ihre politischen Folgen sind völlig offen; ihre Auswirkungen auf die Ökologie zumindest fragwürdig; die Rohstofflage prekär wie bei den fossilen Brennstoffen. Die innerste Bedeutung, der enorme Vorteil der Kernenergie für jede Art von Zentralmacht liegt darin, daß sie die Abhängigkeit der Untertanen auf einen überhaupt nicht berechenbaren Zeitraum festschreibt. Mögen die Minister, Manager, Kommissare, die jeweils dem politischwirtschaftlichen KKW-Kartell angehören, subjektiv noch so ehrlich um das >Gemeinwohl< besorgt sein: de facto sorgen sie zunächst und vor allem für die Unentbehrlichkeit und das Wachstum ihres Kartells.

(Im übrigen wird sogar die mögliche Alternative, die Sonnenenergie, vorzugsweise als künftiges Großobjekt konzipiert: Dampfleitungen aus der Sahara, Hektare von Sonnenzellen im Weltraum, Riesenwärmepumpen im Golfstrom sind für die Experten von der NASA und andere allemal noch attraktiver als ein paar hundert Meter PVC-Schlauch auf dem Dach des Eigenheims.)

Nun warten meine linken Leser natürlich längst ungeduldig darauf, den fälligen Einwand anzubringen: Ob der Autor denn noch nichts vom Grundgesetz des Kapitalismus, der Akkumulation, gehört habe, und ob es ihm nicht klar sei, daß es in erster Linie um Profite, um Rentabilität gehe. Mit anderen Worten: Der Schurke ist das Kapital. Mit noch einfacheren Worten: Wir sind bei Karl Marx. Ganz recht, eben bei ihm sind wir jetzt angekommen.

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Wie schon öfter betont, kann es hier gar nicht darum gehen, den Marxismus zu »widerlegen«. Das ist in unserem Zusammenhang völlig unnötig. Es geht vielmehr darum, ihn im Sinne des konsequenten, des ökologischen Materialismus zu ergänzen und zu konkretisieren.

Dabei muß mit der Binsenwahrheit begonnen werden, daß es Marx nicht um die Zerstörung des Kapitals ging, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern um die Aufhebung der Entfremdung. 

Entfremdung aber entsteht — hier befinden wir uns auf ganz orthodoxem Boden — durch die Allmacht eines Mittlers, der jeden Gebrauchswert der produzierten Dinge in einen Tauschwert, also jedes produzierte Ding in eine Ware verwandelt. Diese Ware nun, deren Tauschwert in Geld ausgedrückt wird (übrigens auf Grund eines Kalküls, das noch viel komplizierter ist, als Marx es darstellt), hat keinen lebendigen Zusammenhang mehr mit dem Produktionsvorgang, aber auch keinen mehr mit den wahren Bedürfnissen der Menschen, für die sie doch angeblich hergestellt wurde. Die Mittlerfunktion des Geldes (eine teuflische Parodie auf die christlich-jüdische Vorstellung eines göttlichen Mittlers) zerreißt und verfälscht die tatsächlichen Zwecke der Produktion, und durch den Zwang, Mehrwert anzuhäufen, macht sie das Kapital zum Wächter der Rentabilität. Solche Entfremdung kann nur aufgehoben werden durch das, was Marx selbst die Assoziation der unabhängigen Produzenten nennt.

Bis hierher kann der ökologische Materialismus Marx nicht nur folgen; er kann und darf sogar feststellen, daß Marx ganz wesentliche Probleme der ökologischen Krise der Gegenwart genial antizipiert hat. Was jedoch fehlt (und worum sich Marx noch nicht zu kümmern brauchte, jedenfalls noch nicht zentral zu kümmern brauchte), ist die Analyse der tatsächlichen Bedingungen der Entfremdung — jener Bedingungen von Raum, Zahl und Zeit, welche für die Methodik eines ökologischen Materialismus von entscheidender Bedeutung sind.

Die Faktoren von Raum, Zahl und Zeit lassen sich — für unser gegenwärtiges Argument — unter dem Begriff Transport zusammenfassen. (Er schließt Planung, Lagerung, Disposition mit ein und ist, wenn man Transport in Energieeinheiten umrechnet, eine sehr gute Vokabel für die dabei auftauchenden ökologischen Probleme.)

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Je länger nun der Transportweg im weitesten Sinne ist, desto unvermeidlicher wird das, was man englisch legal tender, also ein standardisiertes, vereinbartes Zahlungsmittel nennt. Dabei wird sich irgend jemand damit befassen müssen, die aus dem Transport erwachsenden Kosten — einschließlich der Gehälter der Manager bzw. der Zentralämter — als Mehrwert auf die Ware aufzuschlagen. Für den Produzenten, den Arbeiter, den Bauern, wird es konkret völlig gleichgültig sein, ob sich dieser Mehrwert in einer Jacht für irgendeinen Rockefeiler junior oder in einer Datscha für den Chef der allsowjetischen Planungskommission niederschlagen wird.

Dazu kommt, daß sich in jede zentralistische Produktionsform, ganz gleich, ob sie vom >Volk< lies: von der Planungsbürokratie, oder von der Bayrischen Hypo- und Wechselbank vorfinanziert wird, höchst entfremdende Faktoren einschleichen werden — zwangsläufig. Das Fließband ist in Magnitogorsk oder in Budapest genauso stumpfsinnig wie in Detroit oder Wolfsburg. Die Vorfinanzierer, wer immer sie sind, werden auf jeden Fall im Rahmen ihres Auftrags handeln, wenn sie die Produktion möglichst >rentabel<, das heißt aber, so gestalten, daß sich die Kosten des Transports (mit oder ohne Profite, mit oder ohne Reibungsverluste durch die zu überbrückenden Distanzen in Raum, Zahl und Zeit) amortisieren. 

Die Last der Entfremdung — die ja keine theoretische, sondern eine höchst konkrete, im Wesen des Menschen angelegte Last ist — wird per saldo bleiben. Man kann sie durch einen ungeheuren Einsatz von »Aufklärung«, lies: von Sublimierung, wegeskamotieren, aber im Prinzip ist sie in der Organisationsform der Großproduktion angelegt.

Demgegenüber muß man an Marxens ursprünglicher Forderung festhalten: an der Forderung nach einer Assoziation der unabhängigen Produzenten. Eine solche Assoziation ist von einer bestimmten Bevölkerungsdichte ab nicht mehr hundertprozentig erstellbar. Wohl aber läßt sie sich als Grenzwert definieren: Arbeit ist um so weniger entfremdet, je geringer die Distanz, der Abstand in Raum, Zahl und Zeit ist, der zwischen der Herstellung eines Produktes und dem Bedürfnis liegt, für das es erstellt wurde.

Dabei ist der immer höchst fragwürdige Charakter des Bedürfnisses noch gar nicht in Betracht gezogen.

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Die Möglichkeit der Manipulation von Bedürfnissen ist tatsächlich eines der schwersten Hindernisse auf dem Weg zu einer ökostabilen Zukunft; aber der Wege zur Erzeugung künstlicher Bedürfnisse sind viele. Ein Weg ist der des Westens: die massive Beeinflussung durch die Werbung, die subliminale Erzeugung eines Kaufzwangs. Aber Kaufzwang kann genausogut entstehen, wenn er aus dem Mangel entsteht. Schlange stehen, weil es >etwas gibt<: das typische Symptom von Plan und Zwangswirtschaften ... Der Mechanismus der Entfremdung, nämlich die plötzlich vom gütig planenden Mittler gewährte Gratifikation, ist dabei so ziemlich der gleiche.

Hinzu kommt eine Konsequenz der Entfremdung, die im klassischen Marxismus noch kaum eine Rolle spielt, die aber ökologisch sehr gravierend ist: das Problem der Folgelasten. 

Jede Form der Großproduktion minimiert das Bewußtsein der ökologischen Folgelasten, und zwar an zwei Stellen: beim Produzenten — und beim Verbraucher. Der Produzent — und der Planer der Produktion, ob er nun von der Rentabilität oder vom Plansoll in Pflicht genommen wurde — versucht, einen möglichst hohen Prozentsatz von Folgelasten aus seinem Kalkül abzuschieben. Das Resultat ist bekannt; die kaputte Wolga oder der kaputte Rhein. Aber auch beim Verbraucher ist dieser Abbau des Folgebewußtseins operativ. Für alle die Produkte, die entweder von Haus aus schlecht gemacht oder durch das Diktat der Mode und des Verschleißes obsolet werden, hat niemand als er selbst die Verantwortung zu tragen. (Dazu kommen, in besonders fortgeschrittenem Wirtschaften, die Probleme der Verpackung.) 

Er geht von der durchaus entschuldbaren Voraussetzung aus, daß >die da oben< in irgendeiner Weise dafür sorgen müssen, daß der Kram, den er nun am Waldrand oder in einen Bach ablädt, an die nichtige Stelle< kommt. Um im Lande zu bleiben: Ein System, das die Untertanen laufend zu Konsumorgien stimuliert und dann darüber jammert, daß die Wälder verschmutzt werden, gleicht einem Illustriertenverleger, der seine Kunden fortwährend mit Pornofeatures bedient und gleichzeitig die CSU finanziert, damit wieder Recht und Sitte einziehe in deutschen Landen. (Solche Verleger gibt es.) 

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Ein Subsistenzbauer, der sein Land und seinen Betrieb überblickt, weiß genau, was er mit dem anfallenden Mist anstellen wird; der industrielle Tierhalter weiß es nicht mehr, und er rechnet damit, daß die öffentliche Hand schon stark genug sein wird, seinen Schweine- oder Hühnerkot auch in den Weltraum hinauszuschnipsen, wenn es nötig sein sollte. (In der Science-fiction, die immer ein guter Indikator für dergleichen ist, gibt es den Müllplaneten schon lange.)

Fassen wir zusammen: 

Die sinnvolle Alternative zum Großprojekt ist das Kleinprojekt. Es ist nicht nur ökologisch sinnvoll, weil es menschlich erfaßbare Kreisläufe und damit Verantwortungen schafft, sondern es entspricht auch dem Ziel eines Abbaus, wenn schon nicht der Beseitigung, der Entfremdung. Massen sind immer entfremdet, eben weil sie Massen sind: entfremdet und verantwortungslos, weil unverantwortlich in Massenproduktion und Massen­konsumtion. Doch gibt die menschliche Geschichte und Erfahrung Grund zur Hoffnung, daß Menschen, die für Überschaubares verantwortlich gemacht werden, in der Regel besser dabei abschneiden als erwartet.

Aber nun kommt der Einwand von rechts, von der Pragmatik her: Die heutigen Betriebsgrößen, die politischen wie die ökonomischen, sind nicht von selbst entstanden. Sie sind aus Pressionen jeder Art entstanden, vom Bevölkerungsüberdruck bis zum Rentabilitätsdruck. Ja, wenn dieser Druck wegfiele! Aber er fällt nicht weg, er wird im Gegenteil immer stärker. Kampf um Einflußsphären, Kampf um Märkte, Kampf um Rentabilität: Es gibt im Reich solcher Buchführung keine Freiräume mehr.

Aber es gibt sie dennoch, und zwar ständig, ohne daß jemand auch nur einen Augenblick darüber nachdenkt.

Die Freiräume werden oft gar nicht als solche, sondern als unwürdige Sklaverei empfunden. So ist etwa heute die Würde der Hausfrau in einer tiefen Krise; nicht etwa, weil der Beruf das typische Produkt männlicher Unterdrückung wäre (dazu ist er erst im Laufe einer neueren Entwicklung geworden), sondern weil er de facto als Beruf nicht gewertet wird. 

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Dies zeigt sich gerade in den sozialistischen Staaten, in denen an sich »Männerarbeit« sehr häufig von Frauen verrichtet wird und verrichtet werden kann. Aber auch und gerade dort kommt die Mutter, nach acht Stunden auf dem Traktor oder zehn Stunden im Labor, nach Hause, kocht, wäscht, kauft ein, sieht Saschas Schulaufgaben durch und darf froh sein, wenn sie um zehn Uhr diese unbezahlte zweite Berufstätigkeit hinter sich hat.

Sicher lassen sich die monotonen, die unqualifizierten Teile solcher Arbeit teilweise mechanisieren, teilweise vom Familienoder Wohnkollektiv verrichten; das ist keine Frage der Gesetzgebung, sondern des guten gesellschaftlichen Willens. Aber sind diese monotonen Tätigkeiten wirklich das entscheidende Arbeitsplatzmerkmal der Hausfrau? Keineswegs. Würde eine zünftige Arbeitsplatzbeschreibung ihres Berufes unternommen (etwa um eine Einstufung nach BAT zu ermöglichen), fiele der Großteil der Hausfrauenarbeit unter höchst qualifizierte Merkmale, Merkmale voller Entscheidungsmomente. Die Hausfrau ist (oder sollte sein) Marktspezialistin, Time-and-Motion-Expertin, Küchenlaborantin, Pädagogin, Sozialfürsorgerin — alles in einer Person. Ein angemessenes Gehalt, müßte vermutlich nach BAT VIa, wenn nicht BAT III oder II ausgezahlt werden — rechnet man dabei die Überstunden- und Feiertagsarbeit mit ein, so kämen wir in jeder Volkswirtschaft auf Millionen von hochqualifizierten Arbeitsplätzen, die jeder mit mindestens 3000 DM Monatsgehalt, den entsprechenden Sozialbezügen und Pensionsansprüchen auszustatten wären — wirtschaftlich offensichtlich ein Selbstmordunternehmen.

Indem man alle diese Tätigkeiten und Dienstleistungen, die einen hohen Prozentsatzjedes Sozialprodukts erst ermöglichen, unbezahlt läßt, erkennt man aber stillschweigend an, daß die Rechnung der volkswirtschaftlichen Rentabilität überhaupt nicht aufgeht.

Und sie geht auch sonst nicht auf. Bleiben wir innerhalb der strikten Rentabilitätsökonomie, sehen wir uns einen Vorgang im Baugewerbe an! Bestünde jeder Spengler, jeder Schreiner, jeder Maurer und Installateur darauf, nur jene Handgriffe auszuführen, die seiner Ausbildung, seiner Qualifikation und seiner Arbeitsplatzbeschreibung entsprechen, wäre der Zusammenbruch des Baugewerbes eine Frage von wenigen Wochen.

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Gerade indem ein qualifizierter Handwerker auch demütige Hilfsarbeiterhandgriffe ausführt, den heruntergefallenen Meißel aufhebt, den zufällig abgeplatzten Putz wegräumt und dergleichen, ist »ökonomische« Kalkulation überhaupt erst möglich.

Noch unwägbarer werden die Rentabilitätserwägungen, wenn der Faktor dazukommt, den man mit Kreativität bezeichnet. Es ist gar nichts Geheimnisvolles an ihm; man kann ihn tagtäglich vor allem auf dem Dorf beobachten: genauer gesagt, im Übergang von der sogenannten Arbeit zur sogenannten Freizeit. Kaum treffen die mehr oder weniger gut bezahlten Arbeiter der rentablen >Leistungsgesellschaft< nach Feierabend ein, geht allenthalben ein rüstiges Hämmern, Bohren, Schleifen, Nageln an: Es wird gebaut.

Gebaut werden in »Nachbarshilfe« (die Grenze zur »Schwarzarbeit« ist auch hier reine Scholastik) die Häuser der Söhne und Töchter, also die Produkte, an denen man »eigentlich« Spaß hat. Daß sie ästhetisch meistens zu Schreckensgebilden werden, ist hier nicht der Punkt. (Oder nur auf gesellschaftlichen Umwegen, die uns zu weit abseits führen würden.) Wichtig ist, daß hier nicht »gerechnet« wird, überhaupt nicht. Man ist ungeheuer produktiv, man erlaubt sich Kapriolen, die man sonst wohl nicht bezahlen könnte, man rechnet nicht, wie hoch die Maurer, die Installateure kommen.

Noch mehr gilt dies für Hobby- und Küchengärtnerei. Legt man die erzielten Produkte auf die Stunden-(oder Überstunden-)Quote des Gärtners um, dann kommen die paar Kohlrabi, Möhren und Salatköpfe unverschämt teuer. Aber natürlich wäre das eine Milchmädchenrechnung: Der Verfasser weiß aus jahrelanger Selbstbeobachtung, daß Spiel in einem Gemüse- und Strauchgarten die Produktivität überhaupt nicht vermindert, daß sie im Gegenteil die Reserven an Arbeitskraft und damit an anerkannter, bezahlter »gesellschaftlicher Reproduktion« kräftig erhöht. Die Kontraproduktivität, die Illich, Dupuy und andere für Arbeiten und Leistungen jenseits einer bestimmten Betiebsgröße errechnet haben, ist nicht zuletzt die Folge des immer stärkeren Ausfalls der Kreativität aus der offiziell berechneten Produktion.

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Genau die Prominenten, die solches Kreativitätsdenken für wirtschaftlich undurchführbar halten, liefern jahraus, jahrein den Gegenbeweis, indem sie einen höchst intensiven Spezialmarkt für kreativ bestimmte Produkte aufgebaut haben und heftig auf ihm kaufen. Er umfaßt nicht nur Kunst, sondern auch Kunsthandwerk vergangener Zeiten, Volkskunst, Möbel, Häuser, bis herunter zum reinen Kram wie Lichtputzscheren und Bügeleisen. Neuerdings kommen dazu bereits ganz moderne Erzeugnisse, soweit sie noch Spuren alter handwerklicher Kreativität erkennen lassen: Automobile älterer Jahrgänge etwa.

Einer Produktion der Massen (im Unterschied zur Massenproduktion) entspricht möglicherweise auch eine Kreativität der Massen — eine Kreativität, die in vorindustriellen Zeitaltern ständig verfügbar war.

Progressive, vielmehr solche, die sich dafür halten, haben ihr Urteil über diese Perspektive vermutlich längst abgeschlossen. Für sie läuft es auf die sattsam gekannten konservativen Versuche hinaus, dem verhaßten Industriesystem endlich den Garaus zu versetzen.

Und in der Tat, darum geht es. Und in der Tat haben konservative Kulturkritiker in vergangenen Generationen viel dazu beigetragen, die Kritik am Industriesystem wachzuhalten. Wenn Fortschritt in der ständigen Produktionserweiterung bestehen soll, ist auch gar nicht einzusehen, warum man fortschrittlich sein muß: Fortschritt in dieser quantitativen Form ist so alt wie der erste Raubmord, und was an dem fortschrittlich wäre, ist doch nicht ganz erfindlich.

Ebenso ist ein Fortschritt unvorstellbar, dessen lineare (oder geometrische) Fortführung in die Zukunft praktisch unmöglich ist. Darin sind sich, wenigstens theoretisch, heute alle einig — auch die, welche ihn in der Praxis tatsächlich dem Klippenrand entgegenführen.

Dennoch will ich hier für Fortschritt plädieren. Fortschritt ist allemal eine Erweiterung des Bewußtseins, die Ahnung neuer Mündigkeit — aber auch damit verbundener neuer Verantwortlichkeit.

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Unsere Verantwortlichkeit ist ungeheuer, aber gleichzeitig im Prinzip sehr einfach. 

Nach zwei Versuchen der Menschheit, mit der Erde in einen Zustand der Versöhnung, des Gleichgewichts zu kommen (dem relativ erfolgreichen der Stammeskulturen und dem leider viel zu kurzlebigen der europäisch-asiatisch-afrikanischen Dorfkulturen), die die empirisch-praktische Begrenzung ihrer Mittel immer noch als objektive, als animistische Zuständlichkeit der Welt — oder als göttliche Fügung empfanden und empfinden konnten, sind wir nun aufgerufen, die neue Versöhnung, den neuen Pakt mit der Erde zu schließen. An uns allein ist es, alle Stipulationen, alle Begrenzungen festzulegen — Begrenzungen, die wir ausschließlich uns selbst zumuten müssen. Es gilt, das praktische Bündnis mit der Wüste aufzukündigen denn solange wir dieses Bündnis weiterbetreiben, ist Versöhnung mit der Erde nicht möglich.

Diese Verantwortung ist, wie gesagt, ungeheuer; aber sie ist nicht so ungeheuer wie viele der Verantwortungen, die uns im Laufe der Jahrtausende von Zentralmachttheologen aufgenötigt wurden.

Denn die Legitimationen der gegenwärtig wirksamen Zentralmächte (ob politischer, wirtschaftlicher oder ideologischer Natur) sind im Lichte der ökologischen Entwicklung sämtlich null und nichtig. Sie sind deshalb null und nichtig, weil sich alle Zentralmächte explizite oder implizite außerstande erklären, ihre Schutzfunktion gegenüber den Randgruppen, dem Abschaum, aber auch dem Schwächeren und Hilflosesten: dem Leben in seinen unverwendbaren Äußerungen und Aspekten wahrzunehmen. Sie sind damit sämtlich Komplizen eines Raubrittertums, zu dessen Eindämmung und Verhinderung sie ursprünglich geschaffen wurden. Jeder, der dies erkannt hat, hat nicht nur das prophetische Recht, sondern die prophetische Pflicht, das Verdikt Mene Tekel Upharsin an die Wand zu schreiben.

Die einzige Legitimation, die sie noch haben: sich gegenseitig an der Ausführung einer Apokalypse zu hindern, die es ohne sie gar nicht geben könnte. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es mir zur Zeit noch praktisch nötig, nicht unmittelbar offensiv gegen die politischen Zentralmächte vorzugehen.

Anders steht es um die wirtschaftlichen. Hier kann der Kampf sofort einsetzen, und er muß sofort einsetzen. Die Taktik — oder jedenfalls die, die mir zur Zeit die erfolgversprechendste zu sein scheint — wird auf den folgenden Seiten hoffentlich deutlich zum Vorschein kommen.

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Sie wird ständig vom Bewußtseinsfortschritt kontrolliert werden müssen, den wir als den einzigen wahren Fortschritt anerkennen. Er hat die Modellfigur einer Spirale, die scheinbar — auf Umwegen von unten nach oben läuft; sie durcheilt dabei immer wieder Bewußtseinsfelder, Traditionen, die in der Geschichte schon einmal vorlagen. Auf einer höheren Stufe, meint W. Meyer-Abich, müßten wir wohl alle Animisten werden. Das ist richtig; aber wir müssen auch Zen-Jünger, franziskanische und chassidische Mystiker, daneben wirklich kritische Aufklärer und vorbehaltlose Gesellschaftskritiker werden. Ähnliches hat vielleicht, in einer seiner wenigen utopischen Angaben, Karl Marx vorgeschwebt — auch in dieser kleinen Utopie war es eine kleine, eben deshalb sehr unabhängige Assoziation von Produzenten, die er im Auge hatte.

Stoßen wir, beim Weg der Spirale durch die alten Bewußtseinsfelder, auch wieder auf das Heilige, auf die fromme Scheu? Steckt hier eine Gefahr für uns — oder eine Chance?

Fest steht: Eine ökologisch korrekte oder halbwegs korrekte Beziehung zur Umwelt ohne religiöses (zunächst magisches, später halb christlich, halb antik-heidnisches) Interpretationsgitter hat es nicht gegeben. Die Welt des Verletzlichsten, die Welt der großen und kleinen Tiere und Pflanzen, war von der Hülle jener Potenzen umgeben, vor denen man sich aus gutem Grund auch fürchten zu müssen glaubte. Wenn man mit >den Kaninchen< Ärger hatte, dann waren es eben nicht so sehr die Kaninchen in ihrer zahlreichen Befindlichkeit auf der Prärie, sondern ein Kaninchen-Ganzes, das wesentlich mehr war als die Summe seiner Teile — und wesentlich mächtiger. Hier könnte, das ist einsichtig, ein neues Buch beginnen. Da die angeschnittene Frage für den ökologischen Materialismus nicht so sehr eine Frage der Prinzipien als eine Frage des möglichen Bündnisses ist (so wie das Bündnis zwischen Sozialismus und Christentum diskutiert wurde und diskutiert wird), sei zunächst ganz pragmatisch festgestellt:

Der Tod des Verletzlichsten signalisiert den Tod der Menschheit selbst. Das Heil des Verwundbarsten ist das Heil der Menschheit selbst. Es ist auf der zarten Vielfalt der Lebensketten erbaut, die zu schonen und zu respektieren unsere zentrale politische und gesellschaftliche Pflicht für jede vorstellbare Zukunft ist und bleiben wird.

Soweit der pragmatische Grundsatz jeder künftigen gesellschaftlichen Möglichkeit. Wird es genügen, ihn per rationem zu verankern? Wird es gelingen, die Rationalität das leisten zu lassen, was der Animismus leistete — und was, aus höchst komplizierten Gründen, das Christentum nicht mehr zu leisten vermochte?

Dieser Frage muß der ökologische, das heißt der konsequente Materialist stellen. Und er kann und muß sie vorurteilsfrei, das heißt aber auch von vornherein nicht mit einem Vorurteil gegen das Sakrale und einer historisch, also höchst zweifelhaft erworbenen Vorliebe für das Rationale angehen. Die Aufgabe, die gestellt ist, lautet: Gewünscht sind innere Kontrollen, welche sicherstellen, daß das Sprachloseste, das Schutzloseste, das am meisten in unsere Willkür Gegebene nicht nur als das letzten Endes Unverletzlichste anerkannt, sondern wirksam verteidigt wird.

Erst wenn dieser Verteidigungspflicht wirksam genügt wird; erst wenn dem schwierigsten biologischen Regelkreis das gleiche Recht auf Schutz zusteht wie dem unbewaffneten menschlichen Staats- und Mitbürger; erst wenn die Unverletzlichkeit des Verletzlichen wirksam einklagbar ist vor einem geistlichen oder weltlichen Gerichtshof — erst dann gibt der Mensch, als Souverän dieser Erde, seine legitime Beglaubigungsurkunde ab.

Bisher hat sich der Materialismus, und zwar der inkonsequente Materialismus, damit begnügt, die Welt zu verändern. Jetzt gilt es, Schwereres zu unternehmen: sie zu erhalten.

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