Carl Amery

Natur als Politik

Die ökologische Chance des Menschen

 

 

 

 

Text bei:

Die ökologische Chance 

(1985)

1976   222 Seiten

DNB.Buch (6)

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Umweltbuch 

Amery-1972

Amery-1985 

 

Veröffentlichungsgeschichte:

1976 bei Rowohlt, 221 Seiten, 1-8 Tsd

1978 als rororo-Sachbuch, 221 Seiten

1980 16-20 Tsd

1982  21-23 Tsd

1985  Gesammelte Werke in Einzelausgaben:
"Die ökologische Chance" bei List-München,
376 Seiten mit einem Nachwort 1985

1990 im Heyne-Sachbuch, 356 Seiten,
mit dem Nachwort 1985 und Nachwort 1990

 

DIE ZEIT, 10.12.1976,  Nr. 51, Von Peter Merseburgei

Unsere Welt - eine Wüste? Ein Linkskatholik als Altkonservativer: Amerys Apokalypse

 

Wenn Gerhard Stoltenberg nach den dramatischen Auseinandersetzungen um Brokdorf einen intellektuellen Anstifter der Bürger- und Bauernrevolte gegen übereilte Kraftwerksplanung und staatliche Überrumpelungstaktik sucht — in Carl Amery hätte er den idealen Schreibtischtäter gefunden.

Der streitbare Bayer ermuntert die Bürger zur Rebellion gegen die „gewissermaßen sakrale Annahme, daß die da oben schon wissen, was das Richtige ist".

Unverantwortlich aus der Sicht Amerys sind nicht etwa jene, die den örtlichen Widerstand in Bürgerinitiativen organisieren — im Gegenteil: Unverantwortlich handeln die Vertreter der demokratischen Legitimität, wenn sie Kernkraftwerke bauen und betreiben, ohne daß die „lebensentscheidenden Fragen der Folgelasten" zuvor gelöst worden sind.

Rational handelt diesem Denkmuster zufolge nicht, wer die Lösung der ökologischen Folgen von Atomenergie irgendeinem künftigen technologischen Durchbruch überläßt; rational handelt nach der Logik des Autors vielmehr die Bürger­initiative, wenn sie ihre heile regionale Umwelt gegen mögliche Gefahren verteidigt und über das vermeintliche Gemeinwohl stellt, das die Zentralmacht gegen sie ins Feld führt.

Nur solch spontan organisierter Widerstand läßt Amery trotz aller Katastrophenstimmung, die sonst sein Buch durchzieht, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken: „Einige der wichtigsten Revolutionen der Geschichte haben mit dem begonnen, was der Zentraltheoretiker strafend örtlichen Eigennutz nennen würde."

Nun ist dieser alt-bayerische Professorensohn mit dem gutdeutschen Namen Mayer gewiß kein Revolutionär klassischen Typs. Aus der Sicht Erhard Epplers nimmt er sich eher wie ein Wertkonservativer aus. Für die Bewahrung gut konser­vativer Güter - saubere Luft und reines Wasser - tritt er gegen Strukturkonservative an, welche der Behauptung politischer und wirtschaftlicher Machtpositionen zuliebe solche Werte opfern. Wo Ökologie zum Vehikel der Gesellschafts­reform wird, stimmt der herkömmliche Links-Rechts-Raster nicht.

So ist bei dem Linkskatholiken Amery auch altkonservativer Geist aus der Mitte des 19. Jahrhunderts spürbar — Mißtrauen gegen Industrie, Freihandel und Marktwirtschaft, Gegnerschaft zur liberalen Profit­gesell­schaft, wie sie einst im preußischen Herrenhause gängig war. Die Strukturkonservativen von heute, Männer wie etwa Gerhard Stoltenberg, sind daran gemessen eher die Liberalen von gestern.

Da jedoch Kapital und Arbeit bei der Zerstörung der Umwelt nahezu immer Komplizen sind, finden sich unter den Strukturkonservativen, die Amery bekämpft, auch Gewerkschaftler und Sozialdemokraten, die sich selber eher als Progressive einschätzen. Kein Wunder bei einem Autor, der 1974 die SPD verließ, weil er die Regierung Schmidt für zu industriefreundlich hält.

Es ist das dritte Buch Carl Amerys, das sich mit den Konsequenzen der ökologischen Krise beschäftigt.

Schon vor vier Jahren gab er Alarm für das Raumschiff Erde, forderte den Verzicht auf Ausbeutung der Natur und eine neue Ethik planetarischer Verantwortlichkeit (Das Ende der Vorsehung — die gnadenlosen Folgen des Christentums, Rowohlt-Verlag 1972).

In der biblischen Verheißung „füllet die Erde und machet sie euch Untertan" sah er eine entscheidende Triebkraft für die Entfremdung von Mensch und Natur, die schließlich zur Zerstörung jeglicher Lebens­grund­lagen führen muß.

Der zweite Anlauf: „Untergang der Stadt Passau", ein Zukunftsroman, in dem Amery die Wiedergeburt nach der totalen Katastrophe beschreibt. Der Stamm der Rosmer, Nachfahren der Stadt Rosenheim, welche die ökologisch-biologische Seuche des Jahres 1981 überlebt haben, entsagt der modernen Technik. Post Pestilenziam pflegen die Rosmer eine bewußt reduzierte Lebensweise auf mittelalterlicher Zivilisations­stufe; sie praktizieren nach der Katastrophe, was Amery im dritten Anlauf, in „Natur als Politik", zu ihrer Verhinderung für unerläßlich erklärt: die Wiederbelebung vergessener, energiesparender Technologien; die Reduzierung unseres Verkehrsaufkommens durch möglichst kleine Versorgungskreise; die Dezentralisierung der Produktion, ihre Verlagerung von den zentralen Werkstätten weg zu kleinen Assoziationen unab­hängiger Produzenten.

Wie Herbert Gruhl proklamiert Amery den Vorrang der Ökologie vor der Ökonomie. Wie Wolfgang Harich fordert er ein "Bündnis von radikaler Politik und radikalem Schutz der Natur", auch wenn er sich nicht zu einem Kommunismus der Einschränkung bekennt, den Harich als die "einzig mögliche Heimstatt ökologischer Vernunft" propagiert.

Amery vertraut nicht auf die Partei, er setzt auf ein Bündnis von Bürgerinitiativen, Kirchen, Gewerkschaftlern und europäischen Föderalisten. Diese Koalition soll ein Industriesystem zerstören, das er als "die Option des Menschen gegen das Leben und für die Wüste" bekämpft.

Systemgegner Amery: „Entweder das Industriesystem bricht vor dem Ökosystem oder das Ökosystem bricht vor dem Industriesystem zusammen."

Sein Ceterum censeo: "Die Logik des Überlebens der Menschheit erfordert deshalb die raschest mögliche Zerstörung des Industriesystems, und zwar fast um jeden Preis."

Verspricht er sich wirklich Rettung durch eine Koalition von Pastoren mit Gewerkschaftlern, von Bürgern vor Ort mit bretonischen, schottischen oder walisischen Regionalseparatisten? Hätte eine solche Front, der Amery den phantastischen Namen "Europäische ökologische Bewegung" gibt, Kraft genug, sich gegen die Energieräson der Nationalstaaten, gegen die umweltfeindliche Kumpanei von Kapital und Arbeit durchzusetzen?

Die Antwort gibt er selbst: "Historisch für das Wahrscheinliche halte ich — neben dem immer möglichen atomaren Weltbrand, den die Parasiten in ihrer Todesangst auslösen — eine Mischung aus Katastrophen und Ansätzen, aus regionalen Zusammenbrüchen und Rettungsversuchen, aus Blindheiten und mühsam gewonnenen Klarheiten."

Endzeitstimmung, Apokalypse, Katastrophenerwartung wabert durch jede Zeile dieses Buches. Wer Propheten des jüngsten Gerichts nicht schätzt, mag sich mit Herman Kahn trösten. Der verspricht künftigen Generationen saubere Luft, sauberes Wasser und ästhetische Landschaften, auch wenn er nicht sagt, wie es dazu kommen soll. Bis Kahns Prophezeiung Wirklichkeit wird, sei Carl Amery zur Lektüre empfohlen.

 

DIE ZEIT, 10.12.1976 Nr. 51 
https://www.zeit.de/1976/51/unsere-welt-eine-wueste

 

 

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Carl Amery (1976) Natur als Politik - Die ökologische Chance des Menschen