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I.  Das Ende der Vorsehung

Die gnadenlosen Folgen des Christentums

1972

 

 

1. Materialien 

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  Einleitung 

"Die Welt lebt bereits im Notstand; nur will das niemand wahrhaben. Es sind keine Geister der Zukunft, die ich beschwöre, sondern ein Zustand, der bereits existiert. Wir gehen einer explosiven Interaktion aller unserer Sünden entgegen: der Sünden, die wir gegen unser geistiges und materielles Erbe begangen haben. Nach unseren Berechnungen geht es mit der Welt vor dem Jahre 2100 rapide abwärts. Tod und Entbehrungen werden auch bei uns Millionen Menschen erfassen. Da wir fünfzig bis hundert Jahre brauchen, um entsprechende Veränderungen herbeizuführen, müssen wir handeln — sofort."

Diese Worte sprach kein Prophet und kein linker Gesell­schafts­kritiker, sondern der eminente italienische Manager Aurelio Peccei, Fiat-Verwaltungs­direktor und einstmals General­direktor des Schreib­maschinen­konzerns Olivetti. Die Berechnungen, von denen er sprach, wurden vom Club of Rome in Auftrag gegeben, einem Zusammen­schluß von siebzig Managern aller Industrie­nationen; sie wurden von der Volkswagen-Stiftung finanziert und auf einem Mega­computer in den USA durchgeführt, mit einer gewaltigen Menge von Variablen. Alle Ergebnisse waren gleich niederschmetternd. Sie können (vereinfacht) von der Graphik auf Seite 8 abgelesen werden.

  

Nach: Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums, DVA, 1972

Peccei ist kein Theologe, Prophet oder Historiker. Das bekanntgegebene Ziel des Club of Rome ist es, politische und wirtschaftliche Führer der Welt durch die Ergebnisse der Prognostik zu sinnvollem Handeln anzuregen. Aber dieser Aufruf zu sofortigem Handeln muß wirkungslos bleiben, wenn er sich auf pragmatischen Reformismus beschränkt. 

Die Fakten, von denen die Berechnung ausgeht, wurden und werden von Menschen geschaffen; Menschen, die aus bestimmten historischen und ideellen Voraussetzungen handeln und gehandelt haben. 

Werden die Wurzeln dieser historischen und ideellen Haltungen nicht freigelegt, werden die notwendigen Vorschläge immer auf politischen und gesell­schaft­lichen Widerstand stoßen; und nur wenn man sich klarmacht, wie tief diese Wurzeln in unseren kollektiven Untergrund hinabreichen, wird der notwendige, das heißt der radikale und höchst schmerzvolle Prozeß einer planetarischen Revolution (um eine solche geht es) eingeleitet werden können.

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Im folgenden wird der Versuch gemacht zu zeigen, daß der gegenwärtige Weltzustand durch einen weltweiten Konsens herbeigeführt worden ist. Dieser Konsens entstand durch die restlose Übernahme und Verinnerlichung einiger Leitvorstellungen der jüdisch-christlichen Tradition.

Mit anderen Worten: Es gibt eine christliche Geschichte, an der wir alle teilhaben, wobei <wir> fast alle artikulierten Gegner des Christentums und der Kirchen miteinschließt. Diese Geschichte hatte segensreiche und gnadenlose Folgen. Es ist nicht der Sinn dieser Arbeit, die segensreichen Folgen zu leugnen (was sich im einzelnen zeigen wird); notwendiger jedoch ist das Erkennen der gnadenlosen Folgen, die uns alle betreffen.

Das Christentum war also erfolgreich; viel erfolgreicher, als selbst seine professionellen Verteidiger zu behaupten pflegen. Und es verdankt diesen Erfolg nicht in erster Linie seinen Getreuen, sondern seinen Häretikern und Abtrünnigen, ja seinen aufgeklärten humanistischen, liberalen, marxistischen Feinden. Der Erfolg des Christentums besteht in seiner wirksamen Teilnahme am Aufbau eines Machtpotentials, das in den letzten Jahrhunderten insbesondere den Verlauf der Weltgeschichte bestimmt hat. 

Es hat sich auf dem geographischen und historischen Boden des Christentums entfaltet, was selbstverständlich kein Zufall ist. Es hat in der Unterwerfung fremder Kulturen, in der Durchsetzung seiner eigenen Denk- und Aktions­formen, in der Beherrschung der Natur alle bisher bekannten Mächte weit übertroffen und ist dabei, diesen Sieg in der Form der sogenannten Welt-Zivilisation zu konsolidieren. Dieser Sieg ist aber nichts anderes als die notwendige Voraussetzung für die Unglückskurve des großen Computers.

Spätestens hier ist eines klar:  

Es geht nicht um Erfolg oder Mißerfolg der Botschaft Jesu. Es geht nicht um Erfolg oder Mißerfolg der Kirchen, der Theologie, des christlichen Sittengesetzes. Denn gerade die Felder, auf denen das Christentum Erfolg konstituierte: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft konnten und durften die ersten Christen weder von der Sache noch von der Methode her interessieren. 

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Zweifellos wäre die Welt von heute im Urteil der ersten Christen ein totaler Mißerfolg, ja ein düsterer Triumph des Feindes. Aber »Erfolg« als Begriff hat sich ja längst verselbständigt: Dieses Buch zum Beispiel wird in den Augen der Öffentlichkeit nicht dann ein Erfolg sein, wenn es den Zustand der Welt in seinem Sinne verändert, sondern wenn es sich auf dem Markt durchsetzt. 

Mit anderen Worten: Nicht das Erreichen ursprünglicher Ziele und Absichten ist das landläufige Kriterium des Erfolgs, sondern die Effizienz in der Durchsetzung gegenüber anderen Kräften. 

Das Christentum hat — als Bewußtseinszustand oder Bewußtseinskomponente eines großen und aktiven Teils der Menschheit — die Welt verändert, beziehungsweise half sie verändern. Das war seine Effizienz, seine Wirkkraft; und diese Wirkkraft reicht über die Grenzen des christlich-kirchlichen Selbst­verständnisses hinaus.

Da diese Arbeit das Christentum als Faktor der Weltveränderung bewußt anerkennt, aber eben diese Weltveränderung kritisiert, setzt sie sich bewußt von folgenden üblichen und traditionellen Betrachtungsweisen ab:

Erstens — der kirchlich-konservativen. Diese sieht den historischen Prozeß der letzten Jahrhunderte als einen betrüblichen Abfall von der ewigen Wahrheit und ihren bestellten Hütern, sieht die unmenschlichen Aspekte unserer Existenz als gerechte Quittung für diesen Abfall und ist also über die Unglücksprognose der neueren Futurologie weiter nicht erschrocken;

Zweitens — der aufklärerisch-antichristlichen verschiedener Spielart. Diese sieht im Christentum nichts als eine bestimmte, vielleicht nicht ganz schwarze, aber doch sehr dunkle Erbschaft der Unmündigkeit, ein Gefäß alter Ängste vor Jenseits, Hinterwelt und unerklärlichen Kräften, als Herrschaftsinstrument zur Fortführung vorgeschichtlich-unmenschlicher Zustände, und läßt die Menschwerdung des Menschen grundsätzlich erst mit dem Ende der Kirchenmacht beginnen;

Drittens — der christlich-progressistischen. Diese Interpretation, der fast alle neueren Theologen, aber auch marxistische Denker wie Ernst Bloch zuneigen, stülpt die historische Sicht der Konservativen gleichsam um, definiert die faktische innere und organisatorische Entwicklung des institutionellen Christentums als Abfall oder Mißdeutung der ursprünglichen Botschaft und die Säkularisierung der Welt (die secular city des Harvey Cox) als notwendige Voraussetzung für ein ursprüngliches, in seinen wahren Absichten wiederhergestelltes Christentum.

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Diesen Betrachtungsweisen ist — bei aller Differenzierung eines gemeinsam: Sie interpretieren das Christentum und seine Folgen letztlich nicht als weltlichen Gegenstand, sondern als Kampf zwischen Licht und Finsternis — wobei Licht und Finsternis je nach Standpunkt verteilt werden. Aus dem geheimnisvollen Nirgendwo schlagen und schlugen die Dämonen zu: Satan, die Herrschaftsstrukturen, der kollektive Ödipus-Komplex — und ruinieren oder gefährden den lichten Bauplan der Geschichte. Unsere Betrachtungsweise wird grundsätzlich von dergleichen absehen. Die Botschaften der beiden Testamente, das Kirchenwesen, die Theologien und Frömmigkeitsrichtungen und — vor allem — die daraus erwachsende Praxis werden Teil unseres Gegenstandes sein, aber als Funktionen, nicht als Plus- und Minuspunkte einer geschichtsphilosophischen Beurteilung.

Der konservative wie der progressistische Feinschmecker der Kirchenkritik wird daher vergebens nach parteilichen Angriffen auf Doktrinen, Glaubens­überzeugungen und Aktionsmethoden suchen; sie waren, was sie waren, und sind, was sie sind: Posten der Bilanz, die wir aufstellen wollen. Weder wird Franz von Assisi benutzt, um Torquemada zu entschuldigen, noch werden Konstantin oder Pius XII. als Agenten des altbösen Feindes entlarvt; weder für Schandpfähle noch für Altarpodeste werden Kandidaten gesucht.

Dem Leser wird also letzten Endes der Standpunkt empfohlen, den ein unvoreingenommener nichteuropäischer (oder außerirdischer) Beobachter einnehmen dürfte. Dieser wird das Christentum als Teil einer sehr aggressiven, unaufhaltsamen Macht beurteilen, die sich seit ein paar Jahrhunderten mit Missionaren und Kanonenbooten, mit Faktoreien und Impfstationen, mit Banken, Napalm und Entwicklungshelfern über den Rest des Planeten hergemacht hat. Der liberale oder der christliche Offizier, der atheistische oder der calvinistische Pflanzer werden für ihn kaum unterscheidbare Individualitäten sein; und in vielen Fällen wird er kaum feststellen können, ob gewisse gesellschaftliche Transformationen aus christlichen oder marxistischen Impulsen entstehen.

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Ist eine solche Sicht von außen legitim? Sie ist nicht nur legitim, sie ist unbedingt notwendig für unser Thema. Nicht die erbitterten Querelen zwischen Römischen und Utraquisten, zwischen Stalinisten und Trotzkisten verändern das Leben der Welt, wie sie das Leben unserer Vorfahren und Zeitgenossen verändern, sondern ihre Gemeinsamkeiten; nicht die Anhänger der einen oder anderen Konfession, Sekte oder antichristlichen Gruppierung haben den Traktor, die Stechuhr und den Röntgenschirm erfunden, sondern die Erben und Akteure einer gemeinsamen Erfolgsgeschichte, die heute, auf dem Höhepunkt ihrer Triumphe, in die totale Katastrophe abzukippen droht.

Damit ist das Programm des Buches gegeben und mit dem Programm seine sogenannte Zielgruppe. Angesprochen sind alle, welche die Grundvorstellungen der judäisch-christlichen Tradition übernommen und verinnerlicht haben; angesprochen und aufgefordert, diese Grundvorstellungen einer leidenschaftlichen Reflexion zu unterwerfen. Nicht der »Dialog« auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen wird angestrebt, sondern der Dialog auf der Basis gemeinsam zu revidierender Überzeugungen.

Die Revision muß erfolgen, weil diese Überzeugungen in kausalem Zusammenhang mit der grausamen Kurve stehen, die der Prophet an die Wand geschrieben hat.

Die Tradition, um die es geht, dieses gemeinsame Erbe der Vorstellungen und Überzeugungen ist heute weit wirksamer in weltlichen Mächten als im verfaßten Christentum; wirksamer im Deutschen Industrie- und Handelstag, im Zentralkomitee der KPdSU, im Pentagon und in den Formationen der Technokratie als etwa im Vatikan oder im Weltkirchenrat.

Die zentralen Fragen für uns lauten also: 

Zum Schluß noch eine Bemerkung, die eigentlich überflüssig, aber beim infantilen Zustand unseres Geistesbetriebs leider doch angezeigt ist: vom gleichen Verfasser erschien bereits anno 1963 eine Streitschrift, die sich gegen den westdeutschen Katholizismus richtete. Sie hat beträchtliche Aufregung erzeugt, welche den Verfasser doch recht nachdenklich machte (was vielleicht die ersten Schritte auf seinem gegenwärtigen Weg bedingte)

In vielen Punkten ging die Streitschrift von Überzeugungen aus, die der Verfasser arglos mit den sogenannten <progressiven> Christen teilte, und die im folgenden relativiert oder zurückgenommen werden. Die »Kapitulation« von 1963 war gegen einen Katholizismus gerichtet, der (wenigstens scheinbar) noch im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Kräfte Westdeutschlands stand. Das hat sich äußerlich vielleicht nicht sehr, innerlich aber sehr gründlich geändert. 

Es ist deshalb nur folgerichtig, daß von dieser Sorte Kritik im folgenden nichts oder fast nichts mehr zu finden ist. Der Letzte, der dem schwerkranken Löwen der Fabel einen Hufschlag versetzt, ist der Esel. Er weiß noch nicht, daß kräftigere Raubtiere unterwegs sind — oder er wagt sich nicht an sie heran. Auf jeden Fall hätte ein solcher Esel seinen Beruf verfehlt, wenn er Schriftsteller geworden wäre.

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Das Ende der Vorsehung