Frage an den Autor — Antwort
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Frage an den Autor:
Seien Sie mal ehrlich: Wie real sehen Sie dies alles? Geben Sie Ihrem eigenen Programm — dem Programm des ökologischen Materialismus — eine Chance?
Halten Sie das Szenario, das Sie vorschlagen, im bescheidensten Sinne für wahrscheinlich?Antwort:
Ich halte es jedenfalls für wahrscheinlicher als alles andere, was uns als Lösung oder Hoffnung angeboten wird. Oder halten Sie es etwa für wahrscheinlich, daß der große technologische Durchbruch erfolgen wird, der es uns erlaubt, noch hundertmal mehr zu verwirtschaften, als wir jetzt bereits tun? (Eine andere Lösung haben die Technokraten nicht.)
Oder halten Sie es für wahrscheinlich, daß eine Klasse, die seit mindestens fünf Generationen existentiell mißhandelt wird, die an entfremdete Produktionsweisen gewöhnt ist, deren materielles Schicksal aufs engste mit dem Industriesystem verbunden ist — daß eine solche Klasse über Nacht, durch den berühmten qualitativen Sprung, ermächtigt und fähig sein wird, der Materie gerecht zu werden? (Eine andere Hoffnung bietet der orthodoxe Marxismus nicht an.)
Nein.
Historisch für das Wahrscheinlichste halte ich — neben dem immer möglichen atomaren Weltbrand, den die Parasiten in ihrer Todesangst auslösen — eine Mischung aus Katastrophen und Ansätzen, aus regionalen Zusammenbrüchen und Rettungsversuchen, aus Blindheiten und mühsam gewonnenen Klarheiten.
Aber dies genügt mir, da es meiner festen Überzeugung nach keine Erlösung, kein Ende der Entfremdung, keine Verwirklichung kindischer Träume von der Fülle am Ende der Zeiten geben wird — jedenfalls nicht in unserer irdischen Ordnung.
Sicher, keiner ist unter uns, der die Verheißungen des großen Festes nicht liebt, das ist menschlich, und das ist vielleicht gut so. Aber was mir der ökologische Materialismus zu verheißen scheint, ist kein eschatologisches Jenseits, sondern etwas, was täglich Brot ist, das wir uns abgewöhnt haben — etwas ungemein Kostbares, von dem man, wie von der Luft und vom Brot, erst im Verlust den Wert begreift.
Es ist die Wiederherstellung der Kultur. Ich meine damit nicht Symphoniekonzerte oder Vernissagen; natürlich nicht. Ich meine ein menschenwürdiges Verhältnis zum Leben, damit auch zum Tod. Ohne ein solches Verhältnis, das wir verloren haben oder zu verlieren im Begriff sind, gibt es keine Kultur.
Ich meine damit die Vertreibung von Götzen, die sich im Ökosystem unserer Gehirne eingenistet haben.
Ich meine damit das Bedürfnis, auf den Begriff dessen zu kommen, was uns wirklich nottut — und was wir damit letzten Endes sind.
Und wenn das Wahrscheinlichere eintreten sollte; wenn der Todeskampf der Parasiten uns ins Nichts reißt: Einen Gewinn, einen kostbaren Gewinn vermag uns der ökologische Materialismus heute schon zu vermitteln, einen Gewinn, der vielleicht den Todesschatten aufwiegt: nämlich zu ahnen, wie das alles eigentlich gemeint war.
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