Start      Weiter 

Über einen Erasmianer 

Vorwort 1991 von Walter Jens 

 

1-4

Der Mann, dessen Essays, Pamphlete, Kolumnen, Reden, Hymnen und Flüche ich in knapper Antizipation vorzustellen habe, Carl Amery, ist — wie sein geheimes Vorbild, der Humanist Erasmus von Rotterdam — ein <Mensch für sich>

Ein echter Erasmianer also; der Tonfall, den der Humanist in der »Klage des Friedens« anstimmt, wird von Amery ins Ökologische gekehrt: Hier wie dort sieht sich das letzte Stündlein beschworen, hüben das Stündlein der christlichen Ritter, die mit dem Frieden auch jenen Jesus vertrieben, der nicht der ihre ist; drüben das Stündlein der Ausbeuter, Wachstums-Fetischisten, Naturzerstörer und Lebensverneiner, die mit Vernichtung der dritten auch die Verwüstung der ersten Welt befördern, weil sie "gegen ein System auflaufen, das unerbittlicher ist als alle Stalinismen: die Gesetze der Biosphäre."

Ja, ich habe bei der Lektüre der Amery'schen Thesen (Das Ende des Kapitalismus: der Suizid) immer wieder an Erasmus denken müssen: Die Schärfe der Sanftmut, das Bodenständige beim Überblicken der Welt (Erasmus, des großen Latinisten, letztes Wort: "Lieve God"), das Bekenntnis, in widrigen Zeiten die Rolle einer Frau zu spielen, der einzig wissenden Kassandra, schließlich der Wille zu entschiedener Grenz-Überschreitung (das ganze Universum! Kein leerer Fleck!)... dies alles verbindet die Humanisten von gestern und heute — ungeachtet der Tatsache, daß der Niederländer auf den folgenden Seiten keine Rolle spielt.

Und doch: welch ein Vorbild! Welche Verwandtschaft — einerlei, ob es um den Pakt mit den kleinen Leuten geht, den Winzern und Schiffern, um die Entschlossenheit, Rationalität und Demut miteinander zu vereinen, um redliche Stetigkeit über die Jahre hinweg, um das Belächeln der Großen Hanse aus der Froschperspektive.

Und so habe ich denn Carl Amerys gescheite und aufsässige, von eigenwilliger eschatologischer Hoffnung bestimmte Essays — Studien, über die man bisweilen in Zorn gerät, bei der Überschätzung der liberalitas Bavariae zum Beispiel im Angesicht Kant'schen Rigorismus, die aber niemals langweilen, niemals gleichgültig lassen... und so habe ich Amerys, meines Kombattanten aus Tagen der Gruppe 47, gesammelte Studien aus der Perspektive eines Menschen gelesen, der wie sein Nachfahr zwischen allen Fronten stand: Luther verdächtig und den Papst aus dem Himmel verweisend, den Frieden als das höchste aller Güter verteidigend und voll Ehrfurcht gegenüber jenem Reichtum der Natur, den der Mensch ausplündern wolle.

Und dann noch eine Parallele, die wichtigste vielleicht: Hüben wie drüben wird, über die Jahrhundertwende hinweg, der Verfall des Ästhetischen in widrigen Zeiten beklagt — Uniformität statt Schönheit; Mache statt gestufter Historizität: Wo Effizienz oberster Wert ist, verkümmern die Künste, heißt die Devise, und mit ihnen die Humanität.

2/3

Und schließlich ein letztes, das mutatis mutandis (dramatische Unterschiede wollen nicht geleugnet sein) die Humanisten miteinander verbindet: Das Bekenntnis zur Angst als der Tugend, die, verwegener Überheblichkeit steuernd, dem Menschen seine Endlichkeit verdeutlicht, die Gefahr des Scheiterns, das Risiko allzu selbstgewisser Anspannung.

Ohne Angst, dies macht Carl Amery deutlich, in entschiedener Absage an Machbarkeits-Vorstellungen rechter und linker Couleur ... ohne Angst verfällt die Spezies homo sapiens der baren Amoralität, weil sie sich über alles Mitgeschaffene hinwegsetzt und damit, die Genesis widerrufend, am Ende nicht nur gegen die Schöpfung, sondern auch gegen den Schöpfer ins Feld zieht.

Gleichwohl, so umfassend Amerys Thesen auch sind, so düster seine Perspektive, so verwegen das Herbeizitieren der docta spes zur Beförderung der großen humanen Gegen-Vision (»himmlische Zeichen als Aufforderung der Umkehr«): Der Duktus seiner von Witz und Gelehrsamkeit zeugenden Untersuchungen (und der Freundes-Reden erst recht) ist zu gelehrt, um fanatisch zu sein. (Höchste Zeit, denkt der Leser, endlich einmal wieder Schindler und Döllinger zu lesen und dann, mit einem kühnen Sprung nach Oxford und Cambridge, Huxley und C. P. Snow!)

Mag der von kontinuierlichem Weiterdenken, nie von Brüchen und plötzlichen Neu-Erkenntnissen zeugende Stil von überraschenden Bildern geprägt sein (das einleuchtendste: Der hoffnungslose Chirurg) — er brilliert nie, sondern bleibt, dem Thema angemessen, ruhig, konzentriert und gefaßt. Ein Hauch von Serenität ist unverkennbar, wenn Amery, aus verfremdender Perspektive (nicht dröhnend-tautologisch also), die planetarischen Gefahren beschwört, und, wenn's ihm auch das Herz zerreißt beim Bedenken der Konsequenzen: Es macht ihm gleichwohl Spaß, jene Herren der Welt ins Licht zu rücken, die Menschen mit zwei verschiedenen Tugend- und Laster-Systemen brauchen, um sich den Planeten untertänig zu machen: Puritaner während der Woche und wild konsumierende Brüder und Schwestern Leichtfüße am Weekend.

Dieses Buch, denke ich, hat ein Schriftsteller komponiert, der, gut erasmianisch, über zwei Tugenden verfügt, die rar zu werden beginnen: Bildung und zitatgesättigte Freude an heiterer Präsentation einer tristesse, die harmlos erschiene, würde sie mit grimmigem Sendungsbewußtsein beschrieben.

Nein, kein Fanatiker, sondern ein friedlicher Aufklärer und störrischer Konservativer ist Pate der Essays: Erasmus, der die klugen Frauen in gleicher Weise für intelligenter hielt als die Vertreter der Kirchenhierarchie, wie Carl Amery die Winzer von Wyhl für einsichtiger erachtet als die Wachstumsberechner in Bonner Büros.

3-4

#  

 

Bileams Esel

 

^^^^

www.detopia.de

Vorwort und Einleitung (1991) Amery, Carl, Bileams Esel