Start    Weiter

2  Grundsätzliches 1 -  Leben / Tod

Amery-1994

 

19-30

Dem Leben vertrauen! — Unter diesem Titel stand vor einigen Jahren ein deutscher Katholikentag, der in München abgehalten wurde. Ein schöner Titel; aber mir schien, daß er ohne das notwendige Bewußtsein von seiner Zwieschlächtigkeit gewählt worden war. Die ganze Anlage des vorgesehenen Programms lief natürlich auf den üblichen katholischen Trompetenstoß hinaus: <Erleichtert die Abtreibung nicht!> 

 wikipedia  88._Deutscher_Katholikentag  1984 in München

Aber auch wer diese besondere Form der Bevölkerungs­kontrolle für beklagenswert hält (der Verfasser tut es), darf dennoch nicht den Kampf für und das Vertrauen auf das Leben in den Trichter dieses einzigen Themas hineinzwängen. Wir sagten schon: Bewohnbarkeit der Zukunft ist nicht durch die Sorge für eine einzige Art zu sichern. 

Es gilt der Satz des Albert Schweitzer: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Und daraus folgt zwingend der Soll-Satz: Die Achtung und der Schutz des menschlichen Lebens sind auszuweiten auf Achtung und Schutz allen Lebens auf der Erde.

Es ergibt sich aus diesen beiden Sätzen die weitere Folgerung, über die wir bereits sprachen: Eine solche Haltung, eine solche Lehre ist nicht mehr anthropozentrisch; das heißt, sie dreht sich nicht mehr um eine einzige Gattung wie um eine Mittensonne, von der alles andere bestimmt wird und abhängig ist.

So weit, so schön und gut. Aber wenn wir noch ein paar Schritte weiterdenken wollen, wird's sittlich (und das heißt in der Praxis) sehr, sehr schwierig.

Denn was ermöglicht es überhaupt diesem LEBEN, das leben will, zu entstehen und eine Zeitlang am Leben zu bleiben?

Der natürliche Kreislauf, was sonst. Der Kreislauf des niederen und höheren Lebens. Und der Tod übt sich seinerseits nur am Leben; würde nicht existieren ohne das Leben — ja, er ist letzten Endes selbst nichts anderes als eine Verkehrsform des Lebens, seines allgemeinen wirkenden Zusammenhangs.

Der Dichter sagt's: Wenn du aber dies nicht hast, Dieses Stirb und Werde ...

20/21

Stirb und Werde. Hunderttausende von deutschen Gemütsmenschen haben diesen Vers andächtig nachge­sprochen, mit mehr oder weniger frommem Augenaufschlag, bis hin zu mehr oder weniger netten, mehr oder weniger mörderischen Nazis.

Freilich, zehntausend andere können das nicht, wollen das nicht, geben, wie Dostojewskis Iwan Karamasow, das Eintrittsgeld für diesen Kreislaufzirkus zurück. Wenn sie ihn betrachten, steigt aus ihren entsetzten oder doch beklommenen Herzen ein ganz anderer Wortschatz herauf — die Vokabel etwa vom »Fressen und Gefressenwerden« oder das Wort eines englischen Dichters, der die Natur als »rot an Zahn und Klaue« beschreibt.

Solches Entsetzen ist ehrlich, ja ehrenvoll; es verdient nicht nur Achtung, sondern will sehr ernsthaft bedacht sein. Es deckt auf, was in der olympisch-behäbigen Formel vom ›Stirb und Werde‹ verschwiegen bleibt: die fürchterliche Grausamkeit der Lebensvorgänge, die Fänge des Löwen in der Schnauze des Büffels, das Auffressen lebendiger Wirtskörper durch die Larven anderer Arten, das Ineinander von Mord und Begattung. 

Ja, das gibt es alles; es ist sinnlos, die Augen davor zu verschließen. Und so kann durchaus Partei ergriffen werden gegen das Leben, es geschieht immer und jederzeit. 

Moderne Beispiele gibt es in Fülle; sinnlicher und ergreifender als diese ist wohl der Brauch der alten Thraker gewesen, die das Los jedes Neugeborenen beweinten und sich von Gestorbenen festlich verabschiedeten.

21


Solche Grundgesinnung ist jedenfalls edler als das zweckoptimistische Gefasel der sogenannten Verantwort­lichen, welche die Erhaltung der natürlichen Lebens­grundlagen als politisches Ziel verkünden und sie fortwährend schänden und vernichten.

Hier ist zunächst nur Parteinahme möglich. Doch jeder, der Partei nimmt gegen das Leben, der mit den Thrakern und den Gnostikern stimmt, muß sich und anderen zugeben, daß er in der schlechteren Ausgangs­lage ist — jedenfalls, solange er selbst atmet und lebt, selbst in der Leidenschaft noch lebt, mit der er die Leben/Tod-Bedingungen unseres Daseins verwirft; daß er sich nährt, schlafen geht und aufsteht, zumindest bis er seine Gesinnung durch Freitod besiegelt — und all das im zwingenden Rahmen des Schweitzer-Satzes, den es nun zu erweitern gilt: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, und deshalb tötet und selbst getötet wird.

Das ist unausweichlich. Gewiß, wir können diese Vorgänge etwas zivilisieren; können die schlimmsten Grausamkeiten selber vermeiden, können sie da, wo sie stattfinden, abzuschaffen oder doch wenigstens zu lindern versuchen. Vor allem müssen alle Deutungen grobschlächtiger Darwinisten zurückgewiesen werden, welche den Haß zwischen Menschen und den Massenmord, sei er direkt oder indirekt, in Befehle der Natur umlügen. (Adolf Hitler tat das, es ist in <Mein Kampf> nachzulesen. Darüber, über Hitler, wird eigens geredet werden müssen.)

22


Wir können auch Vegetarier werden, und Einwendungen gegen diesen Entschluß wären nicht sinnvoll. Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß wir auch dann noch töten. Der Vegetarier tötet durch die Auswahl der Pflanzen, die er anbaut, und um die herum er das sogenannte Unkraut jätet. (Schon durch den Namen, das heißt die Vorsilbe ›Un-‹, spricht er vielfältigen Gedanken Gottes die Lebensberechtigung ab.) Und wenn die Zahl der Vegetarier eine gewisse Dichte pro Quadratkilometer oder Hektar überschreitet, wird auch und gerade diese Lebensweise zum Todesschicksal für Wildtier und Wildpflanze, ob das von ihren Jüngern bewußt erwogen wird oder nicht.

Unsere Arbeit an der Zukunft kann sich also nicht darin erschöpfen, möglichst viele Lebensarten zu erhalten, ohne die Netze der Leben/Tod-Beziehungen zu berücksichtigen. Um eine bewohnbare Zukunft zu sichern, müssen wir zunächst fragen, welche Arten des Tötens, des Sterbens, der Lebensförderung oder Lebens­verweigerung die Gesundheit der gesamten Biosphäre am meisten und (vor allem) am nachhaltigsten fördern. Und aus den Antworten darauf, so vorläufig sie sein mögen, haben wir unsere Leitvorstellungen zu entwickeln.

TOD — das Wort will vor allen anderen geklärt sein. In dem Sinn, in dem wir hier von ihm sprechen, schließt er jede Art von Lebensverweigerung ein, von Lebensverhütung und -beschränk­ung bis zur tätigen Tötung.

23


Dabei ergeben sich bereits dringende Notwendigkeiten und Fragen der richtigen Abwägung. Der uns allen bekannte Naturschutz, der ja als Bewegung schon weit über hundert Jahre alt ist, war sicher ein erster Schritt auf dem langen und fallenreichen Weg zu einer Lebensethik, wie wir sie heute und vor allem morgen benötigen — aber seine ersten Einsätze waren recht naiv. (Viele sind es heute noch.)

Die Naturwissenschaft alter Art, die zünftige Zoologie und Botanik, gab den Naturschützern sozusagen eine Rangpyramide vor, die über den jeweiligen Grad der Schutzanstrengungen für eine Tier- oder Pflanzenart entschied. Säuger haben Vorrang vor anderen Wirbeltieren, Wirbeltiere vor anderen Tierarten und so fort. Es kamen und kommen aber merkwürdige Gefühls­entscheidungen dazwischen. So erscheint den meisten von uns das feuchtäugige Reh liebenswerter als der freche Schimpanse, ist uns die schluchzende Nachtigall lieber als die starre Echse. Und im Pflanzenreich geht's dann völlig nach dem Schnittmuster unserer Schönheits­vor­stell­ungen.

Es ist recht wahrscheinlich, daß solcher Naturschutz mehr Schaden als Nutzen stiftet. Sehen wir uns daraufhin etwa den Umgang von Freund und Feind mit dem Rot- und Schmalwild in unserer Landschaft an! [ wikipedia  Schmaltier ]

Daß sein Überhandnehmen in dieser Landschaft bereits eine Dauerkrankheit geworden ist, wird von immer mehr Menschen verstanden. Eine jüngere, lebenswissenschaftlich beschlagene Förstergeneration quält sich seit Jahrzehnten mit jenen trophäensüchtigen Emporkömmlingen, den Nobeljägern, herum, die meist auch die Gunst ihrer politischen Herzensfreunde genossen und genießen.

24


(Seit einem prominenten Jägertod in Bayern 1988 soll es etwas besser geworden sein.) Für die Gesundheit der Wälder sind diese künstlich gehegten und gefütterten Herden ein Schädlingsbefall, der oft noch die Wirkung der chemischen Schadstoffe übertrifft.

Nun gibt es eine Widerstandsideologie gegen diese Jägerei, die bis zum Ansägen von Hochsitzen geht, und die hauptsächlich städtische Grüngesinnte beseelt. Sie wendet sich gegen das Töten von Wildtieren an sich, nicht nur gegen seine verkommene und bornierte, aus dem Feudalismus fortwuchernde Form.

Dieser blinde Betroffenheitstatendrang, so gut er gemeint sein mag, zeigt, wie schwierig es sein kann und wohl noch oft werden wird, ein der tatsächlichen Wirklichkeit angemessenes Lebens- und Todes-Konzept zu entwickeln. Sicher, der Protzenjägerei von Zahnärzten, Anwälten und Politikern (sollte ich einen wesentlichen Bestandteil der Clique nicht erwähnt haben, darf ihn der Leser einfügen) das Handwerk zu legen, wäre ein höchst löbliches Unterfangen. Aber wären unsere Jagd-Widerständler vielleicht damit zufriedenzustellen, daß man die nötige Kontrolle der Wildnis neu einzusetzenden Wölfen und Luchsen anvertraut? Oder würden sie diese Kontrolle einfach dem Nahrungsmangel überlassen?

25


Beides ist problematisch. Wolf und Luchs wären sicher eine ökologisch sinnvolle Lösung — aber würden unsere Jagdfeinde sie auch noch bejahen, wenn ihnen der Unterschied zwischen einem sauberen Blattschuß­tod und dem recht langen Sterben durch Raubtierzähne lebhaft, etwa bildhaft-kinematographisch vorgeführt würde? Und der Hungertod würde nicht nur noch länger dauern, er wäre auch noch qualvoller — ganz abgesehen davon, daß heißhungrige Wildbestände die Krankheit der Wälder womöglich bis zu ihrem endgültigen Absterben verschärfen würden.

Dieses Beispiel von Abwägung kann nur ein bescheidener Vorlauf sein zu den Aufgaben, denen wir an diesem Jahrtausendschnitt gegenüberstehen. Die Wirklichkeiten der Lebenswelt haben sich erst in den letzten Jahrzehnten in ihren schwierigen Vernetzungen offenbart — genauer: haben begonnen, sich zu offenbaren. Diese Wirklichkeiten können wir mit den Werkzeugen, die uns die Evolution mitgegeben hat, nie ganz erfassen — höchstens in gleichnis­trächtigen Mythenbildern.

Eines dieser Mythenbilder ist als Name einer wissenschaftlichen Theorie in unsere Gegenwart zurückge­kehrt; der Name lautet GAIA. Es ist dies die ältere griechische Form der Erdgöttin, aus der alles Leben geworden ist und wird.

26


Die GAIA-Theorie besagt nichts anderes, als daß sehr bald nach der Entstehung unseres Planeten, also vor mindestens drei Milliarden Jahren, lebende Organismen in Wechselwirkung mit den zunächst leblosen Gegebenheiten unseres Planeten getreten sind, daß bereits in jener Dämmerzeit ein fließendes, aber Leben stabilisierendes und weiterentwickelndes Gleichgewicht entstand, und daß diese Gegenseitigkeit von Leben und Lebensbedingungen in und mit der gesamten Biosphäre selbst zumindest etwas Ähnliches wie einen lebenden, ja denkenden Organismus hervorbringt.

Der Gesamtprozeß ist so ungewöhnlich, hängt von so vielen Einzelbedingungen ab, daß es schwer ist, GAIA nicht als übergeordnete Vor-Ordnerin und Mittlerin, als (im antiken Sinne göttliche) Mediatrix unseres Daseins zu empfinden. Dem Naturwissenschaftler sind derartige Spekulationen natürlich strengstens untersagt; aber die Wunder der planetarisch-biosphärischen Gesamtheit sind so überwältigend, daß sich zwangsläufig ein Gefühl der Ehrfurcht entfaltet.

Hier sind einige (von Krumbein und Dyer zusammengestellte) Daten:

Zur Zeit leben auf der Erde etwa 1 bis 7 mal 1022 Organismen, und ihre Zahl ist wohl in den letzten drei Milliarden Jahren ziemlich gleichgeblieben. 99,8 Prozent aller Arten sind mikroskopisch, und ihre Tätigkeit hat sich seit dem frühen Dämmerschein des Lebens nicht wesentlich geändert.

27/28


Bakterien sind praktisch so alt wie das Leben selbst; ihre Arten sind unzählbar; und es gibt kaum chemische oder katalytische Prinzipien, die nicht seit zweieinhalb Milliarden Jahren von Bakterien angewendet wurden. Sie können sich an ziemlich alle Gegebenheiten anpassen, können die Biochemie der Erde verändern, und zwar in ungeheurem Umfang. Nicht nur haben sie die meisten Gebirge gebaut — man spricht heute davon, daß zumindest Auslöse- oder Begleitvorgänge der Kontinentalverschiebung auf sie zurückgehen.

Verglichen mit dieser Welt der Bakterien sind wir Wirbeltiere und insbesondere wir Säuger wahrhaftig Luxusausgaben — prächtige, in weiches Leder gebundene Sammlerstücke, die auf der Oberfläche eines Raum-Zeit-Meeres von Leben schwimmen. Aber wir haben unsere Funktionen, wir sind eingebunden in den Stoff­wechsel, wir profitieren davon, daß anaerobe, das heißt nicht auf unsere Außenluft angewiesene Bakterien als ihre Ausscheidungen all den Sauerstoff freigesetzt haben, den wir zum Atmen und zum Stoff­wechsel mit den Pflanzen benötigen. Und im Lauf dieser lebenserhaltenden und lebensfördernden Tätigkeit wurden auch die ungeheuren Flöze von Kohlenstoff (festem und flüssigem) in die Tiefen gepackt, aus denen wir sie heute wieder herausholen — im stolzen Bewußtsein, damit dem Fortschritt zu dienen.

Die Mikrobiologin Lynn Margulis hat deshalb die Mikroben treffend <Our bacterial Heroes>, unsere Bakterien­helden, genannt.

All das vermag uns das einzuflößen, was frömmere Zeiten die ›Furcht des Herrn‹ genannt haben. Leben und Tod lassen sich in solchem Zusammenspiel wahrhaftig nicht mehr als Gegensätze auffassen, sondern als einander zwangsläufig bedingende Durchgangsphasen in der Bewahrung und Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde.

Die Selbstverstetigung des Planeten sorgt dafür, daß die Werkzeuge, welche jeder lebenden Art zur Verfügung stehen und zu denen ein ebenso blindes wie hartnäckiges Durchsetzungsvermögen gehört, letzten Endes einander immer ausgleichen, aber nicht neutralisieren. Der Lebensdrang der Bierhefe, der Schlupfwespe, des Hammerhais und des Schimpansen kennt keinen Todestrieb im Sinne Freuds, braucht ihn nicht zu kennen: Bevölkerungs­schwankungen wilder Art werden über kurz oder lang von den drastischen Gesetzen des Fluß­gleichgewichts eingeholt. Noch keine Riesenherde von Grasfressern gab und gibt es, die zu einem wissen­schaft­lich bestimmbaren Zeitpunkt nicht von der Rinderpest oder einer ähnlichen Seuche zerschlagen worden wäre; keine Raubtierart, die ihre in fetten Jahren hochschnellende Dichte nicht in nachfolgenden Hungerzeiten wieder verlöre.

So gedieh und gedeiht der Lebensplanet in einer Sternenwelt, in der er eine offenkundige Ausnahme bildet; versucht (bisher erfolgreich) das irre Abenteuer des Lebens durchzustehen, gegen den Strom der Entropie zu schwimmen, indem er sein einziges Einkommen, die Sonnenstrahlung, mit Hilfe immer vielfältigerer Mittel von Leben/Tod möglichst günstig einsetzt.

Der Tod von Einzelwesen und Arten ist dabei dauernd im Spiel; jener Arten und Wesen, die das große Grundmeer der Bakterien ihrerseits zu ständigen genetischen Anpassungen zwingen, es aber nicht wesentlich dezimieren können. Immer wieder gab es in dieser Erdgeschichte des Lebens Katastrophen, bedeutende Katastrophen; am bekanntesten wurde der große Schnitt, den das Sterben der Riesensaurier markiert. 

Aber vielleicht ist die Katastrophe, die ihr jetzt ins Haus steht, die bisher seltsamste von allen. Ihr Name ist Mensch. Von ihm wird nun zu handeln sein.

29-30

#

 

www.detopia.de       ^^^^ 

 Die Botschaft des Jahrtausends