3 Grundsätzliches 2 - Homo ss (sapiens sapiens)
Amery-1994
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Zunächst waren und sind wir Primaten. Mit den Schimpansen verbinden uns 98,8 Prozent unseres Erbguts. (Deren Abstand zum Gorilla ist wesentlich größer.) Unser Stammbaum ist lächerlich kurz, wenn man ihn etwa mit dem der Saurier vergleicht. Und die Weise, in der wir uns in dieser Lebensspanne der Biosphäre bedient haben, unterscheidet sich zunächst überhaupt nicht von der anderer Arten.
Wie bei Bierhefe und Schimpansen ist oberstes, hartnäckig und eindeutig verfolgtes Gebot die Vermehrung, die Verstetigung, die zunehmende Sicherheit und Bequemlichkeit zunächst der Gruppe, dann des einzelnen. Dies wurde und wird nicht nur gegen die Natur durchzusetzen versucht, sondern auch gegen Artgenossen und Gruppen von Artgenossen. Die höhere Gewalt der irdischen Wirklichkeit war dabei lang so bestimmend, daß die Gesamtvermehrung der Menschheit in Grenzen blieb. Innerhalb dieser Grenzen setzten wir uns immer wieder mit Verhaltensmustern durch, die wir mit unseren 98,8prozentigen Vettern teilen.
Wie wir wissen, verwenden die Schimpansen Werkzeuge, lügen, treiben Politik, führen Vernichtungskriege gegen Gruppen der eigenen Art, kurz: Sie erfreuen sich der gleichen fortschrittlichen Ausrüstung und handhaben sie fast so trefflich, wie wir das tun.
Max Scheler hat dazu bemerkt, daß Alva Edison als Bastler und Glühbirnen-Erfinder durchaus noch in den Bereichen der Schimpansen handelt und wirkt. Nicht aber die Person Alva Edison, der Homo sapiens sapiens.
Da stehen wir an der entscheidenden Weggabel der Entwicklung. Wo, so fragt Scheler weiter, liegt dann wirklich der Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse? Was steckt, wie wir heute fragen können, in den eins Komma zwei Prozent?
Der Unterschied liegt in der Reflexionsfähigkeit des Menschen — und in seiner Suche nach ordnenden Zusammenhängen.
Der Urzeitjäger, von einem fallenden Stein verletzt, bekämpft seine Panik; bekommt sie unter Kontrolle. Er kann von sich selbst zurücktreten, kann sich außerhalb dieses panischen Selbst stellen, kann sein Trauma, sein Unglück, objektiv betrachten, oder doch so objektiv, wie es ihm möglich ist, kann daraus seine (richtigen oder falschen) Folgerungen ziehen. Derselbe (oder ein anderer) Urzeitjäger, der den Tod seines Bruders erlebt hat, aber diesen Bruder in zahlreichen Träumen wiedersieht und seine Stimme hört, formt daraus vielleicht die Urangst vor dem Doppelgänger.
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Zunächst zweckfreies Bewußtsein also, das unzähligen widersprüchlichen Eindrücken ausgesetzt ist und (mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger mißleitet) versucht, sie zu einem sinnvollen Muster zu ordnen: Das ist das Erbe, die neue Qualität, die den Menschen grundsätzlich von seinen Vettern im Tierreich, selbst den allernächsten, unterscheidet.
In diesen Reichen und Bereichen schlummern und wirken Verstandesschärfe und Phantasie, Spekulation und Wahnsinn. Aus ihnen entfaltet sich die Möglichkeit zu großer Kunst und desinteressierter Forschung, aber auch die Möglichkeit, paranoide Beziehungs- und Erklärungsnetze zu weben. Der Anthropologe Edgar Morin hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß der Homo sapiens von Anfang an, gewissermaßen von seiner ganzen Anlage her, auch und immer der Homo demens, der verrückte Mensch, gewesen ist, heute ist und auch künftig sein wird.
Aber gerade deshalb ist es voreilig, von vornherein zu behaupten, wie das einige Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie tun, daß der Mensch und seine Erkenntnisfähigkeit aufs Überleben, nicht auf Wahrheitsfindung eingestellt sei. Natürlich ist es richtig, daß die Menschheit immer und immer wieder das, was sie in Raum und Zeit antraf, falsch gedeutet hat, und daß sie dadurch in schlimmste, oft tödliche Fallen geriet und gerät; aber diese Fehldeutungen waren oft genug nicht eine Folge der nackten Überlebensangst, sondern die Folge der überschießenden und dadurch fehlgeleiteten Erklärungswut.
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So können etwa Glaubenskriege bis zur Auslöschung beider Parteien geführt werden — und zwar um so wahrscheinlicher, je aufrichtiger sie selbst an ihre Gründe glauben. (Erledigen lassen sie sich nur durch die Einsicht in die Zweitrangigkeit, besser noch in die Nichtigkeit des Konfliktstoffs.)
Wenn Zehntausende von russischen Menschen ihre Dörfer aufgeben, in die Wälder flüchten und dort generationenlang wie Tiere leben, weil sie der Zar zwingen will, das Kreuz mit drei, statt, wie sich's für pravoslawische Christenmenschen gehört, mit nur zwei Fingern zu schlagen, kann man wohl nicht davon reden, daß da ein Überlebensprogramm am Werk war ...
wikipedia Altgläubige_in_Russland
Aber: Sind wir mit dieser Folgerung genau genug?
Es läßt sich doch durchaus einwenden, daß es für die handelnden Altgäubigen wirklich um Tod oder Leben ging: um die Gefahr, eine ewige Glückseligkeit gegen das Wohlwollen eines ketzerischen Zaren, und das heißt gegen die ewige Verdammnis einzuhandeln. War diese Überzeugung nur stark genug, das heißt in den Köpfen und Herzen wirklich genug, dann war die Entscheidung zur Flucht in die Wälder eine höchst vernünftige Entscheidung, vernünftig selbst im Sinne des Schimpansenprogramms.
Nehmen wir also unsere Folgerungen einen Schritt zurück — nein, treiben wir sie in ausfaltende Genauigkeit vor! Worum es ging und geht, in jeder Menschenzeit (und Menschenangst) ging und geht, ist zunächst die Verstetigung des Lebens, seine Sicherung gegen den immer drohenden Tod. Doch von Geschlecht zu Geschlecht ändert sich die Deutung des Tod/Lebens, je nach der Deutung, die Leben/Tod erfährt.
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Die Menschheit hat Hunderte, Tausende von Kulturen hervorgebracht, in denen immer wieder andere Muster entworfen wurden. Viele dieser Kulturen, oft gerade die, welche uns in ihrer Schönheit am meisten ansprechen, wählten bewußt die Begrenzung, die Bändigung weiter ausgreifender Gier und weiterer Entfaltung in Zeit und Raum und Güterpracht und -menge zugunsten einer Stetigkeit der Gesittung und der Bräuche, die ihnen auf die Dauer lebensfähiger schien. (Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß sie damit recht hatten.) Ja, gerade die sogenannten Primitiven hielten und halten (wohl nicht mehr lange) an der Anwendung überlieferter Sinn- und damit Lebensprogramme mit großer Hartnäckigkeit fest.
Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie Menschen und Menschengruppen das Plus, die eins Komma zwei Prozent, den ›überorganischen Faktor‹ (auch so hat man das genannt) einsetzten, hat sich in Zeit und Raum immer wieder verändert. Und es wurden dabei immer wieder Hilfsbrücken ins Unbeweisbare geschlagen, um das Unerforschliche (sowohl das unerforschliche Weben der Welt wie auch das Unerforschliche am eigenen Glück oder Elend) mit Sinn zu füllen.
Sinnsuche und Sinnfindung.
Auf seiner Wanderung durch die Rätselwüsten der Welt und der Geschichte hat der Mensch diese Notwendigkeit über jede andere gestellt.
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Sicher, der steinerne Druck der Materie (meist des Hungers oder der Gefahr durch Feinde) hat auf die Sinnsuche immer zurückgewirkt; dennoch vermag ein wirklicher (oder vermeintlicher) Sinnzusammenhang stark und einleuchtend genug zu bleiben, um ihn auch noch in Zeiten bitterer Not festzuhalten — selbst einer Not, die durch dieses Festhalten erst entstanden ist. (Neben den Altgläubigen Rußlands sind ein gutes Beispiel jene Inder, die lieber höflich verhungern, als von Parias zubereitete Speisen zu verzehren.)
Die Falle, in die die Menschheit heute zu tappen droht oder schon halb getappt ist, hat einen grundsätzlich anderen Charakter:
Ein Teil der Menschheit, und zwar jener Teil, der sich schon seit mindestens fünfhundert Jahren als ihr umtriebigster erwies, hat sich mehr und mehr von alten Sinngebungen gelöst und beschlossen, das bisherige Verfahren, Stetigkeit des Lebens durch Sinnsuche zu erreichen, grundsätzlich umzukehren; Sinn als solchen gibt es nur in der Suche selbst, und zwar in der grundsätzlichen und vollständigen Bejahung des weitgefaßten biologischen Programms: Suche nach dem Glück (pursuit of happiness).
Es geht also um Erweiterung, Verstetigung, Verlängerung des einzelnen und des Gruppenlebens durch die stetige Verbesserung des Schimpansen-Arsenals. Für diese Verbesserung werden alle Kräfte des überorganischen Faktors zusammengefaßt und eingesetzt. Was darüber hinaus noch an vereinzelten Sinnbedürfnissen herumliegt, wird in die Ecke der Sozialbetreuung, der geisteswissenschaftlichen Lehrstühle und des Kulturbetriebs gefegt, zu dem heute auch die Kirchen zu rechnen sind.
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Das neue Programm war innerhalb seiner selbstgestellten Aufgabe über alle Maßen erfolgreich. Der Reichtum der Welt und die Zahl der Menschen haben sich innerhalb eines Jahrhunderts vervielfacht, und wenigstens für einen, nämlich den genannten umtriebigsten Teil der Menschheit, haben sich Lebensverhältnisse von einer Bequemlichkeit ergeben, wie sie bisher noch nie erreicht wurde.
Das Peinliche ist nur: Es ist ein Bierhefeprogramm geblieben. Und das besagt, daß die Menschheit, wenn sie daran festhält, in absehbarer Zeit das Schicksal der Bierhefe teilen wird: in den eigenen Exkrementen zu ersticken. Das und nichts anderes ist das Wesen der Gattungsfrage, wie die Gegenwart sie stellt; zum ersten Mal in dieser Form und Unausweichlichkeit stellt.
Ein Schicksal von beträchtlicher Ironie — wenn man den Abstand aufbringt, sie zu sehen. Jahrtausendelang krallte sich die Menschheit hartnäckig an eine Welt, die sie nur sehr teilweise verstand: Sowohl der Makrokosmos, die Welt der Gestirne, wie auch der Mikrokosmos, das Urmeer des Lebens, blieb ihrem Erkenntnisvermögen unzugänglich, dessen entwicklungsgeschichtliche Grundlagen gar nicht darauf gerichtet sind, Wahrheit unverstellt zu erfassen.
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Ihr Überschuß an Sinnbedürfnis nötigte sie aber ständig, nach Zusammenhängen zu suchen, die sie mehr oder weniger gleichnishaft den Erfahrungen ihres praktischen und emotionalen Zusammenlebens mit Mensch und Natur entnahm und auf den Umgang mit der Übernatur anwandte. Mit anderen Worten, die Frühmenschen taten genau das nicht oder nur unzureichend, was ihnen die klassischen Aufklärer von Daniel Defoe bis Marx/Engels andichteten. Sie benahmen sich nicht als Homines fabri, als reine Werkzeugmacher, die einen Fisch zurücklegen, um am nächsten Tag eine Angel fertigen zu können, dann drei Fische, um Zeit für ein Netz zu gewinnen, und schließlich genug Räucherhering, um das Ausschaben eines Einbaums in Angriff nehmen zu können. (Man hört dergleichen noch im philosophischen Teil von Unternehmerseminaren; wahrscheinlich geistert es auch in gewerkschaftlicher Bildungsarbeit herum.)
Nein, die eigensinnigen Frühmenschen bestanden, wenn erst einmal der gröbste Hunger gebändigt war, auf sinnbildenden Tätigkeiten und Spekulationen, die wir aus den einst primitiv und heute traditionell genannten Gesellschaften kennen. Auch bei solchen, die in äußerst kargen Gegenden leben, füllen sie nach wie vor den größten Teil der Tage und Nächte aus: Ritus, Tanz, Formen bildender Kunst, das Erzählen von weihevollen und weniger weihevollen Geschichten. Sie versäumten und versäumen damit eine Menge Zeit, die sie nach Meinung der platten Aufklärer dafür verwenden sollten, ihre Lebensumstände im Sinne eines tüchtigen Schimpansenprogramms zu verbessern. (Kolonial- und Missionsgeschichte zeugen davon, wie solche Plattheit in Praxis umgesetzt wurde — mit den bekannten, oft tieftraurigen Folgen.)
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Diesem unvernünftigen Hang des Menschen verdanken wir unter anderem die Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira, die Kathedrale von Reims und die Krönungsmesse von Mozart.
Aber dieser Eigensinn bewirkte natürlich auch, daß die tödlichen Widrigkeiten des Daseins zunächst nicht mit der nötigen Kühle und Disziplin erforscht wurden. Andere Brücken boten sich an, Brücken der Sinnsuche und Sinnfindung. Die Religionswissenschaft weist auf den ersten und ursprünglichen Auslösevorgang (religious event) hin: die mitleidende und mitjubelnde Beobachtung von Entropie und Syntropie — das heißt, man sah die Welt altern, welken, erkalten im Gang der Tag- und Jahreszeiten, man sah die Menschen hinfällig werden und sterben, man sah soziale Gruppen verkommen und sich spalten, man sah sogar die Sonne ganz oder teilweise vom Drachen der Finsternis verschlungen.
Aber man gewahrte auch das Gegenteil: das Wiedererstarken der Sonne, die Jugend des Stammes, das Grün der Bäume und Steppen, die Fruchtbarkeit der Erde. Der Lebensprozeß ist syntropisch; das heißt, er hat gelernt, das stete Energieeinkommen aus der Sonne aufs beste zu nutzen. So erlebt der Mensch, schon der Urmensch, zwei Kräfte, zwei Tendenzen, zwei Strömungen: den eisigen Strom der Entropie, des Wärme- und Informationstodes — und, ihm scheinbar völlig entgegengesetzt, den zähen, immer wieder siegreichen Widerstand, ja das Vordringen des Lebens gegen diese Strömung.
Die ältesten Religionen suchten nach Mitteln, den Lebensprozeß gegen den Tod zu unterstützen; sie glaubten sie in den Umgangsformen zu finden, die sie aus ihrem Zusammenleben kannten: Umgangsformen des Flehens und Drohens, des Opfers und heiligen Handels, wobei man sich der Rätselhaftigkeit der Mächte, mit denen umzugehen war, durchaus und immer bewußt blieb. Die stets neu erprobte Antwort auf diese Rätselhaftigkeit war die Ritualisierung; man ließ gewissermaßen den angesprochenen oder angeflehten Mächten möglichst wenig Ausreden für unpassende oder ausbleibende Antwort.
Und wenn diese Ritualisierung streng genug ist, ist sie ja auch kaum zu widerlegen. Wer kann schon einen Natchez-Indianer widerlegen, der weiß, daß die Sonne nur aufgeht, wenn der Kultkönig auf der Spitze des Hügels um ihren Aufgang betet? Er jedenfalls hat das Gegenteil, also das, was man heute die Falsifizierung eines Tatbestandes nennt, nie erlebt; denn so dumm, den Kultkönig nicht beten zu lassen, waren die Natchez nie ...
So erreichten solche ›kosmischen‹ Religionen oft eine phantastische Lebensdauer. Man hat etwa in der Nähe von Ahrensburg bei Hamburg alte Teiche gefunden, in denen Renskelette mit steinernen Herzen lagen. Carbon-14-Prüfungen ergaben, daß dieses Ritual der Versenkung eines Opfertiers wohl zehntausend Jahre lang ausgeübt wurde.
Dennoch erlebte und erlebt die Menschheit immer wieder Schicksalsschläge oder Schicksalswunder, die als gänzlich willkürliche Taten des Himmels oder der Himmelsmächte gelten mußten. Ihre Ursachen entzogen sich zunächst der Erforschung; und wenn man auch einige von ihnen kannte, war man doch nicht in der Lage, sie zu vermeiden.
Taten Gottes, Acts of God, heißen noch heute in der englischen Rechtssprache die Ereignisse, die im Juristenlatein vis major und im Juristendeutsch ›höhere Gewalt‹ genannt werden.
Sie sind deshalb so wichtig, weil in ihnen und aus ihnen unsere wirkliche Lage in der Welt, vor allem in der Lebenswelt einsichtig wird. In ihrer umstürzenden Veränderung wird auch die ganz neue Qualität der Gattungsfrage sichtbar.
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Die Botschaft des Jahrtausends