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4 - Taten Gottes 

Amery-1994

 

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Da sind zuerst die völlig un-menschlichen Ereignisse der Erde, die Bewegungen unterhalb der Lebenswelt: Erdbeben, Fluten, Vulkanausbrüche, Orkane. Das Leben, auch das menschliche, kommt mit ihnen zurecht — wenn auch unter gewaltigen Opfern. 

Der Ausbruch des Vulkans Krakatau im vorigen Jahrhundert soll eine kleine Eiszeit ausgelöst haben, weil seine Wolkenmassen sich vor die Sonne schoben. Was Erdbeben und Stürme anrichten können, erleben wir fast jedes Jahr — sogar in steigendem Maße. Und die Flutwellen, die die Küsten von Bangladesh mißhandeln, sind vielleicht auch nur Vorläufer der Wogen, die da kommen sollen. Doch davon später mehr.

Darüber (oder darunter, je nach dem Blickpunkt des Betrachters) gibt es eine Vierergruppe von Gottes­taten, die seit jeher als die versammelte große Heimsuchung empfunden wurde. Ihr Bildnis in der abend­ländischen Kunst sind die Apokalyptischen Reiter, aus der Offenbarung Johannis genommen und allegorisch mit Namen versehen. Der erste und oberste Reiter ist der Tod, ihm zur Seite galoppieren die drei Schergen Pest, Hunger und Krieg.

Kein besonders gut geordnetes Vierergespann, nach unseren Begriffen. Gewiß, alle wurden und werden als Unheil erlebt, das sich unseren Eingriffsmöglichkeiten entzieht; dabei war und ist doch zumindest einer der Reiter, der Krieg mit Harnisch und Säbel, von Menschen bewaffnet und in den Sattel gesetzt. Haben die frommen Ahnen da das Nachdenken vergessen — oder einfach zu viel Unterwürfigkeit gezeigt?

Wohl nicht — sie sind vielmehr ihren Erfahrungen gefolgt. Die vier Reiter sind in ihrer Erfahrung stets oder doch fast immer im Gespann erschienen, als gemeinsame Schlächter.

Völkerwanderung: Ein, zwei Grad Celsius in der jährlichen Durchschnittstemperatur genügt, dazu die Dürre und dadurch zwei, drei schwere Mißernten in Folge — und die Horden setzen sich in Bewegung. Sie stoßen seßhafte oder halbseßhafte Nachbarn an, die das Verderben weitertragen. So begann etwa die große Entvölkerung Europas nach dem Ende Westroms, und sie hielt durch viele Generationen an, bis Karl der Große, ein fränkischer Reiterhäuptling, durch Sumpfwälder zog, wo einst weiße Städte standen.

Völkerkrieg: Bis vor kurzem sah man da, lehrend wie belehrt, nur Schwerter blitzen, hörte Kanonengebrüll und wiehernder Rosse Getrabe, sah Landesväter oder Ritterschaften oder Advokaten den Fehdehandschuh werfen, sah wohl auch Tod auf dem Schlachtfeld (ehrenvoll) und Tod in brennenden, ausgeraubten, geschändeten Dörfern (weniger ehrenvoll).

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Man nahm und nimmt Land ab, gab und gibt Land hin, und das Ganze spielt als Spannungs- und Trauer­spiel vor mehr oder weniger gleichbleibender Landschaftskulisse.

Dabei hat man meist die Rolle des Schwerts maßlos übertrieben. So beschreibt der bayerische Ersthistoriker Aventin, wie sich die Bajuwaren über die Lande zwischen Alpen und Donau hermachen, wie sie die ansässigen Kelto-Romanen niederhauen, wie sie die so geschaffene Wüstenei neu besiedeln und kultivieren.

Die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Gewiß, Schwert und Spitzhacke sind grausam genug, aber für die wirklich gründliche Arbeit wird ein anderer, größerer Henker herangezogen: die Pest, der Held Mikrobe. Dieser grimmige Heros vollendete stets sowohl das Werk des Hungers wie das des Krieges.

Drei Beispiele — ein kleineres und zwei sehr große — für solches Zusammenwirken!

Zunächst das kleinere:

Im Frankreich des 17. Jahrhunderts entsandte Kardinal Richelieu mitten im Frieden eine etwa 8000 Mann starke Truppe aus dem südlichen Landesinneren an die Atlantikküste, um dort eine Hugenottenstadt zu strafen oder doch in Schach zu halten. Neuere Historiker, vor allem die französischen, haben Methoden entwickelt, um die Wirkung eines solchen Zuges auf die Leben/Todesschicksale des Landes zu berechnen.

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Die Schätzung, die sie vorlegen, besagt, daß er das Sterben von Hunderttausenden verursachte — direkt oder indirekt. Die direkten Folgen, also von den Soldaten verübte Greuel, waren auch in Friedenszeiten erheblich, aber nur ein kleiner Bruchteil des Unglücks. Denn wesentlich mehr mähte der Pestreiter nieder, und die größte Zahl der Opfer überhaupt schlug der Hunger.

Diese Zahl kam so zustande: Beim Nahen eines Heeres (ob freundlich oder feindlich, ob das des eigenen Königs oder eines fremden) ließen die Landleute zunächst einmal das Werkzeug fallen und flohen in den Schutz eines städtischen Mauerrings, bis die Gefahr abgezogen war. Der Arbeitsausfall aber mitten in der guten Jahreszeit (die für solche Märsche allein in Frage kam), war fürs laufende Erntejahr nicht mehr aufzuholen, und die Erträge waren im Vergleich mit den heutigen jämmerlich gering, lagen meist knapp über der Grenze des Überlebens. So war fürs nächste Jahr eine Hungersnot und die aus ihr entspringenden Mangelkrankheiten sicher.

 

Das zweite, viel machtvollere Beispiel: der Schwarze Tod, die große Pest des 14. Jahrhunderts. Sie wurde nicht durch den Krieg ausgelöst, sondern durch sein Geschwister, den Handel. Ihre Kriegshorde war eine neue Rattenart, die über Schiffs- und Karawanenwege eindrang und einen neuen Erreger einschleppte — einen Erreger, auf den der kleine Erdteil völlig unvorbereitet war.

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Was kam, wissen wir. Bis zu zwei Drittel der europäischen Bevölkerung wurden hinweggefegt; und bis in unser Jahrhundert gingen die Geschichten um — von leeren, überwucherten Dörfern, in denen sich ein überlebender Trunkenbold herumtrieb; von Leichenbergen in engen Gassen und an Flußufern; von gespenstischen Kapuzenmännern mit scharfem Räucherwerk, die ihr wirkungsloses medizinisches Handwerk betrieben. Die Gesamtseele des Jahrhunderts (jenes Herbstes des Mittelalters, wie es Huizinga nennt) war versehrt, und die Folgen im Lebensgefühl, im Körperbewußtsein, im Frömmigkeitsstil reichen bis in die Zeit unserer Väter.

 

Noch folgenreicher freilich war die zweite große Pest unserer Geschichte. Sie fand und findet allerdings nicht mehr in Europa statt, und sie ist bekannt unter dem Namen der Entdeckung und Erschließung Amerikas.

Die Rattenart, die diesmal zum Werkzeug der großen Mikrobenwanderung wurde, trug Musketen und Brust­panzer und hieß, je nachdem, Spanier, Portugiesen, Holländer, Franzosen oder Engländer. Für sie, die intelligenten und energischen Säuger, war diese Entdeckung und Erschließung natürlich alles andere als ein Fluch; für sie wie für uns, ihre Nachfahren, war sie eines der segensreichsten Ereignisse der Geschichte.

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Da stieg ein gedeckter Tisch aus der westlichen See empor, ein gottgesandter Ausweg für Millionen, die seit der großen Pest schon wieder zugewachsen waren; zweifellos eine Großtat Gottes an seinen Erwählten — Magnalia Christi Americana, die Großtaten Christi in Amerika, so stand's überm ersten amerikanischen Geschichtsbuch, das der puritanische Pastor Cotton Mather schrieb. Und er wie alle anderen Frommen stürzten sich mehr oder weniger gewalttätig in dieses segensreiche Schicksal, dieses Manifest Destiny, das sie schließlich bis an den Pazifik trug.

Für die Amerikaner selber, nämlich die sogenannten Indianer, sah das anders aus. Sie bewohnten, als die Weißen kamen, ihren Kontinent zu Millionen, teilweise in kraftvoll entwickelten Gesellschaften. Daß die Ankömmlinge mit den Rothäuten wie mit Ungeziefer verfuhren, ist bekannt. Doch selbst die grausamste spanische oder angelsächsische Menschenjagd, selbst die Überlegenheit von Stahl, Kavallerie und Schießpulver, selbst die Überschwemmung hilfloser Stämme mit Juristerei und Fusel (oft in schöner Zusammenarbeit) genügen nicht, um zu erklären, wie so viele große Völker auf einige Stammestrümmer zusammenschrumpfen konnten:

Als Kolumbus die westindischen Inseln erreichte, lebten auf ihnen nach heutigen Schätzungen an die fünfzehn Millionen Tainos; vierzig Jahre später gab es sie nicht mehr.

Zwanzig oder dreißig Jahre nach der Eroberung Mexikos durch Cortes war das Land noch von höchstens einem Zehntel der Menschen bewohnt, die der Eroberer dort vorgefunden hatte.

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Schon zur Zeit der sogenannten Pilgerväter, also zu Beginn des 17. Jahrhunderts, verschwanden ganze Algonkinstämme — ja, die Kolonisten fanden ihre großen Friedhöfe bereits vor, als sie landeten.

Es ist klar, was geschah. In passenden Wirtstieren der Art Homo sapiens waren riesige Heere von Mikroben aus den Biolabors der europäischen Städte und Landschaften aufgebrochen; kein einheitlicher Schwarzer Tod mehr, sondern eine ganze Muster­kollektion mit Typhus, Blattern, Cholera, Ruhr, Masern, bis hinunter zum ordinären Schnupfenbazillus. Sie alle stießen auf Völker, die keinerlei Resistenz gegen sie entwickelt hatten; schon die bretonischen und westenglischen Fischer, die an die Küsten Neufundlands gelangt waren, hatten genügt, um das Todesschicksal der Algonkins einzuleiten. Und man glaubt heute, daß die Pest-Reiter in den Blutbahnen indianischer Kuriere und Händler den Haufen des Pizarro ins Inkareich vorauseilten.

Gottestat für wen? Ein spanischer Priester der frühen Eroberungszeit wußte es und erklärte es: Die große Landnahme und das Sterben der Eingeborenen gehörten zusammen, entsprächen dem Wohlgefallen Gottes, der die weniger wohlgefälligen Bewohner jener Erdgegenden rechtzeitig entferne, damit sie der Entfaltung spanischer Macht und damit des Reiches Gottes nicht im Wege stünden.

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Andere, etwa die französischen Jesuiten in Kanada, sahen das anders, waren ehrlich und tief betrübt, daß ihr Traum von einer wehrhaften christlichen Huronen-Nation zerrann, daß er mit ein paar Dutzend Überlebenden endete, die ihre Heimat räumen und sie dem alten Todfeind, den Irokesen, überlassen mußten.

Segen oder Fluch? Zornes- oder Wohltat Gottes? Treten wir noch einmal von dieser Alternative zurück. Stellen wir einfach fest, daß ein Erdteil, der wesentlich größer ist als Europa, einen wesentlich größeren Anteil seiner Bevölkerung verlor als wir in der Zeit des Schwarzen Todes; daß die mikrobische Gegengabe Amerikas, die Spirochäten der Syphilis, wesentlich weniger wirksam war (wenn sie auch Europas Lusthimmel auf Jahrhunderte hinaus verdüsterte); daß das von Weißen gewonnene Land den Aufbau der bisher wohlhabendsten Gesellschaft der Geschichte ermöglichte — und zwar nicht nur in Amerika selbst. Gerade dies war es wohl, was es den meisten Beteiligten (einschließlich des römischen Papstes) nahelegte, das Kolumbusjahr festlich als Segensjahr mit entsprechenden Dankmessen zu feiern.

Fest steht ferner, daß heute, dank dieser und anderer, wenn auch weniger wichtiger Entdeckungen jeder zweite Europäer heute in anderen Erdteilen als Europa lebt; in Erdteilen, denen er forsch und wirksam die Kultur seines Ursprungs aufnötigte, und sei es in der Form scheinbaren Widerspruchs gegen sie, etwa des Widerspruchs auswandernder religiöser Minderheiten.

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Aber nötigen wir uns zu einem zweiten Blick auf die großen Seuchen. Drehen wir für diesen Blick sozusagen das Teleskop um, machen wir ihn so zu einem Blick aus göttlich-gleichgültiger Ferne, einem GAIA-Blick gewissermaßen. Und sehen wir noch einmal zu, ob diese Gottestaten solche des Zornes oder des Wohlgefallens waren!

Der Schwarze Tod, sagten wir, hat auf Jahrhunderte hinaus Europas Seele verwüstet. Und zweifellos hat er, so unparteiisch seine Erreger auch vorgingen, die Reichen gegenüber den Armen begünstigt. Die Armen starben wie die Fliegen in schmutzigen Dörfern oder überfüllten Gassen der Städte, während sich die Reichen (etwa die goldene Jugend von Florenz im Decamerone des Bocaccio) auf Landgüter zurückziehen und einander schlüpfrige Geschichten erzählen konnten. Aber sobald das Sterben vorbei war, erwischte es nachträglich die Reichen genau in dem Punkt, wo es ihnen am meisten wehtat: beim Reichtum. Die Zeugnisse der Zeit sagen, daß die Ärmsten, die Tagelöhner, plötzlich ein Vielfaches von dem verdienten, was man ihnen vor der Pest gezahlt hatte, und gleichzeitig setzten die bewegten Klagen der Reichen über die plötzliche Dreistigkeit des Personals ein.

Da war etwas geschehen, was das Preislied Mariens, das Magnificat, im Evangelium beschreibt: »Die Mächtigen stürzt Er vom Thron, und Er erhöht die Niedrigen.« Dienende, denen ohne die neue Lage der Knappheit an Menschen nie ein Blick ins Licht gegönnt gewesen wäre, konnten sich eines neuen Selbstbewußtseins und einer bescheidenen Wohlfahrt erfreuen, wenigstens auf einige Zeit.

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Noch heller wird der Blick durchs Teleskop, wenn er sich vom Menschen ab- und der europäischen Landschaft zuwendet. Im 14. Jahrhundert war sie schon reichlich geschunden, Dörfer, Städte und Felder lagen auf gerodetem und damit seiner ursprünglichen optimalen Fruchtbarkeit entfremdeten Boden. (Als die ersten Homines sapientes nach Europa kamen, wandten sie die Kultur an, die sie in semiariden Steppen gelernt hatten — nie lernten sie, was hier nötig gewesen wäre — nämlich den »Wald zu essen«.

Der Ertrag war im Grunde immer ärmlich, die Ernährung immer erbärmlich gewesen, oszillierend über und unter die Hungermarke. Jetzt, im geleerten Land, brauchte man nur mehr die besseren Böden anzubauen, Wald und Moor und Heide war eine Erholungspause gegönnt. Hätten die Europäer damals die Einsicht und die Weisheit aufgebracht, aus diesen Zeichen zu lernen und das Gelernte anzuwenden — vielleicht wäre uns die finstere Jahr­tausend­botschaft erspart geblieben.....

Ganz anders, sozusagen spiegelverkehrt, fällt der zweite Blick auf die große Pest Amerikas und ihre Folgen aus. Man hat vor allem in den USA viel gestritten um Segen oder Fluch der Kolumbustat, die nachdenk­liche Selbstkritik der weißen Linken erzeugte dicke Bücher, in denen sehr genau den Verbrechen der Eindringlinge nachgegangen wurde.

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Ihnen widersprachen zornige Konservative (daß man sie so nennt, zeigt, wie sehr die Bezeichnung verkommen ist), welche darauf hinwiesen, daß schon die Indianer selbst ständig in Raub- und Vernichtungs­kriege gegeneinander verwickelt waren, und daß alle großen Vermögen, also auch alle großen Zivilisationen, irgendwann und irgendwo auf Ur-Verbrechen zurückgingen was ihre Segenswirkung auf kommende Geschlechter keineswegs in Frage stellen sollte.

So oder so, der Streit verbleibt im Vordergründigen und wird der letzten, größten Bedeutung von 1492 nicht gerecht. Es ist wahr, daß die Indianer, gerade im Jahrhundert vor Kolumbus, gewaltige Wanderungen und Raubzüge, ja Vernichtungszüge veranstalteten — so war das Aztekenreich, vor allem seine Lagunenhauptstadt Tenochtitlán, allerjüngsten Datums, und in Peru sah es nicht viel anders aus. Die Indianer waren selbstverständlich auch allen Problemen unterworfen, die auftreten, wenn die Kultur sich höher entwickelt und die Bevölkerung sich sprunghaft vermehrt.

Dennoch kann gar kein Zweifel bestehen, daß ihre Art, mit ihrem Kontinent umzugehen, wesentlich schonender war als die der Weißen. Noch heute (und gerade heute) werden die Folgen des neuen Umgangs sichtbar: Wüstenbildung in Kalifornien, Arizona und anderswo; Abholzung der Wälder, und zwar nicht nur in Brasilien, sondern auch in Nordamerika; die katastrophalen Folgen des Tiefpflügens im Mittel- und Südwesten; die Verschmutzung der Großen Seen und der Ströme, die Austrocknung der Everglades und vieles andere mehr.

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Wesentlicher noch, so ist zu fürchten, ist die kulturelle Wirkung der Entdeckungen, ist das, was sie unserer Gesamtseele angetan haben. In Amerika, in Australien, in großen Kolonialgebieten Afrikas konnten uralte europäische Sehnsüchte und Begierden ausgelebt oder sogar wiederbelebt werden, die aus der Zeit der Völker­wanderung, der großen Eroberungen, der Beutezüge der Nordmänner stammen: der weite Ausgriff in den Raum, die absolute Unabhängigkeit von irgendwelchen Autoritäten oder Kontrollen, der einsame Held im Angesicht der einsamen Gefahr, der Auf- oder Ausbau gänzlich neuer, nach religiösen, gesellschaftlichen, philo­sophischen Hirnplänen geschneiderter Gemeinden.

Das war's, was sich das europäische Herz durch die Jahrhunderte der Unterdrückung, der geistlichen und weltlichen Kontrolle, des Hungers und der engen und engeren Nachbar­schaften bewahrt hatte: das Wissen vom rauhen, aber unendlich weiten Paradies, das sich etwa in den Prosageschichten der isländischen Sagas erhalten hat und im klassischen Western wiederbelebt wurde. Amerika war genau das, was der Europäer wollte; genauer und schonungsloser gesagt: was der nicht ganz erwachsene, der prahlerische und recht­haberische Europäer wollte. Das galt und gilt ebenso für den Schweinehirten aus der Estremadura wie für den See- und Präriereiter aus britischem oder schottischem Blut.

Die Neue Welt: 

Das war, für sie wie für immer weitere Kreise der europäischen Neuerer, von nun an die eigentliche, die »normale« Welt, die Welt ohne die Erblasten der blutigen und kläglichen Vergangenheit. Es ist sehr wichtig, daß Rousseau die Schriften eines Jesuiten kannte, der aufgrund seiner amerikanischen Erfahrungen die herkömmliche Lehre von der Erbsünde angriff: Es gebe sehr wohl Völkerschaften, sozusagen am Quell der Mensch­werdung, welche ohne diese Last in natürlichem Glück zu leben verstünden. Und der »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) wurde um vieles leichter, wenn man wußte, wie viele unbewachte und unkontrollierbare Ausgänge in die Weiten der Berge und der Pampas immer noch und immer wieder zu finden waren.

Es waren eben nach dieser zweiten, amerikanischen Pest nicht die Opfer und Verlierer, welche den Ton und das Urteil bestimmten. Es waren die Gewinner, die Kolonisatoren, denen diese Gottestat erlaubte, die Lektionen der ersten, der großen Pest des 14. Jahrhunderts zu vergessen. 

»Raum für alle hat die Erde«: Das sagte einer der volkstümlichsten und optimistischsten Aufklärer deutscher Zunge, Friedrich Schiller.

Etwa um die gleiche Zeit aber stellte ein französischer Aufklärer fest, die Menschheit sei dabei, einen fünften Apokalyptischen Reiter zu satteln, nämlich die Chemie. Zu den Gottestaten, den Acts of God, kommen also in wachsendem Maße die Menschentaten, die Acts of Man. Vielmehr: In wachsendem Maß werden die alten, grimmigen Hinweise auf die Majestät der nichtmenschlichen Wirklichkeit durchmischt, ergänzt und verdrängt durch Greuel, die der Mensch durch seine Maß- und Ahnungslosigkeit selbst auslöst.

So muß es also um die Acts of Man gehen, die Taten des Menschen.

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