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5 - Taten des Menschen 

Amery-1994

 

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Natürlich hängen diese neuen Greuel aufs engste mit dem Kampf gegen die alten zusammen. Denn dank der Gottestat der zweiten großen Pest und dank unserer unermüdlichen Bemühungen um unser Schimpansen­programm sind wir in den Genuß eines bislang höchst ungewöhnlichen Segens gelangt: Wir haben mindestens zwei der Apokalyptischen Reiter wirklich (oder scheinbar) verbannt.

Wir haben (jedenfalls in großen statistischen Zusammenhängen) die grausame Selektion durch die Mikroben kräftig eingeschränkt. Man sehe sich nur die Stammbäume unserer Voreltern darauf an, was damals zur Lebens/Todes-Wirklichkeit gehörte: Von den breit hingekritzelten neun oder elf Kindern starben sechs oder acht in den ersten Lebensjahren, und eine oder zwei ihrer Mütter folgten.

Kindbett, Tuberkulose, Scharlach, Keuchhusten, Reisegefahren, Malaria, Schwarz­wasser­fieber: Es bedurfte schon einiger Anstrengung, den Namen und die Wirklichkeit der Familie in die Zukunft weiterzureichen. Heute genügen zwei Kinder, um dies sicherzustellen; und dort, wo sich die Zahl der Nachkommen noch nicht vermindert hat, in den sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern, sind immer mehr Chancen gegeben, die gleiche oder eine ähnliche Sicherheit zu erreichen.

Ähnliches gilt vom Hunger. In unseren G-7-Breiten ist er keine wichtige Erscheinung mehr, wenn man von dünnen Rändern der Gesellschaft absieht. Sicher hat er noch und immer wieder riesige Regionen der Erde im Knochengriff, aber es ist ein gewaltiger Unterschied zur Vergangenheit zu erkennen: eine Solidarität der Zeitgenossen, die bis zum Zweiten Weltkrieg gar nicht herzustellen war.

Lebhaft erinnere ich mich an den Vortrag eines Jesuiten­missionars aus Indien, der in den dreißiger Jahren zu uns jungen katholischen Menschen sprach. Wir fragten ihn nach den Auswirkungen der letzten Hungersnot, von der man in den Zeitungen gelesen hatte. Ohne allzuviel Gefühls­bewegung zu zeigen, erklärte er, daß sie wohl ein Mißerfolg gewesen sei: Wegen des von den Engländern erzielten medizinisch-hygienischen Fortschritts sei die wichtigste Wirkung, nämlich die notwendige Verminderung der Bevölkerungszahl, nicht erreicht worden....

Der Krieg ist, wie wir täglich erfahren müssen, immer noch unser steter Gefährte. Aber man hat es fertiggebracht, ihn einiger­maßen zu isolieren, das heißt seine enge Bundes­genossen­schaft mit den beiden anderen Reitern zu sprengen.

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Der erste Krieg, in dem die Zahl der an der Front Gefallenen oder an schwerer Verwundung Sterbenden die Zahl der Seuchenopfer übertraf, soll der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 gewesen sein. Bei diesem Verhältnis ist es geblieben — trotz der trostlosen Schützengraben-Ruhr des Ersten Weltkriegs, trotz der wachsenden Greuel gegen die Zivilbevölkerung in den folgenden Kriegen (wenn man einmal von der systemat­ischen Ausrottungs­politik Hitlers gegen die Russen absieht, die Teil eines Generalplans war). Aber sogar die Gesamtverluste des Zweiten Weltkriegs würden heute durch den weltweiten Bevölkerungs­zuwachs eines halben Jahres ausgeglichen.

Sicher, es ist möglich, ja es ist wahrscheinlich, daß sich unter bestimmten Umständen dies alles wieder umkehren wird. Vietnam, Kambodscha, Bosnien, die Räume der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aber die elenden und endlosen Dauerkriege des afrikanischen Musters, sind vielleicht schon Zeichen einer Krebs­seuche, deren Metastasen sich in immer mehr Weltgegenden festsetzen. Voraussetzung dafür ist der Schwund der Verständigungs­fähigkeit zwischen immer mehr Streitgegnern, ihre wachsende Sprach- und Kriterien­losigkeit.

Auch die Mikroben kehren zurück. 

In Mutationen auf Leben und Tod haben sie sich gegen ihre hauptsächlichen Feinde, die Antibiotika, gewappnet — die Malaria, so hört man, ist als erste wieder auf dem Kriegstheater. Andere werden wohl folgen.

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Und unter den anderen ist eine so geheimnisvolle und tückische Erscheinung wie der HIV-Virus, der die Immunschwäche AIDS verursacht. Er war vermutlich Gast einer Tierart (man spricht von zentral­afrikan­ischen Kleinaffen), die allmählich ihren Lebensraum verliert. Geschmeidig, wie diese sogenannten niederen Lebens­formen sind, hat er die Übersiedlung in ein anderes Wirtstier geschafft.

Es gibt Stimmen wie etwa die des SF-Autors Stanislaw Lem, der ihm eine wirklich entvölkernde Massen­wirkung im kommenden Jahrhundert zutraut; aber ob man dieser Prognose nun glaubt oder nicht, das AIDS-Gespenst enthält eine viel umfassendere Drohung. 

Denn wer weiß, wie viele Viren dieser Art und Wirkkraft sich noch in den Zufluchten der Wälder, der Sümpfe und Dschungelküsten aufhalten, in Wirtstieren, deren Lebens­raum in Kürze zu nichts zusammenschrumpfen kann? Und wer weiß schon, wie viele von ihnen gleichfalls den Sprung in den milliardenfach expandierenden Wirt Homosapiens schaffen können?

 

Was wichtiger für uns alle ist: Der Mensch hat sich selbst und der Lebenssphäre des Planeten eine Anzahl neuer apokalyptischer Schreckensreiter geschaffen, und zwar gerade durch seine blinde, hartnäckige Arbeit am Überlebensprogramm.

Einer wurde genannt: die Chemie. Da dies keine Informations­schrift über Ökologie ist, braucht die gräßliche Wahrheit nicht im einzelnen belegt zu werden. 

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Gleiches gilt für die Kernspaltung, ob sie nun friedlich oder kriegerisch angewendet wird oder werden soll. In ihrem Fall gibt es einen kostbaren und unheimlichen Beweis dafür, daß sie juristisch längst als Act of God, als höhere Gewalt gilt: Sie ist durch politisches Dekret ausdrücklich von der normalen Risikohaftung ausge­nom­men, die sie völlig unerschwinglich machen würde. Daß sie übers rein Juristische hinaus längst höhere Gewalt ist, und zwar unaufhebbare, solange man darauf besteht, sie anzuwenden, beweisen die ungelösten und wohl auch nicht lösbaren Probleme der sogenannten Entsorgung und die schauderhaften Bedingungen des Uranabbaus, die fast überall Genozidcharakter tragen. Und wir erdulden das mit der Ergebenheit, die man einst Vulkanausbrüchen oder der großen Pest entgegenbrachte.

Gnädig verhüllt sind noch die Zukünfte, die uns die elektronische Informationsschwemme einschließlich des Fernsehens bescheren wird — und die wuchernden Folgen der Gentechnik. 

Zu beiden gibt es bereits höchst kritische Untersuchungen und Denkansätze, die wir vorläufig noch nicht ernstnehmen — getreu unserem Erbe der Begriffsstutzigkeit und unserem längst verweltlichten Gottvertrauen.

Dennoch, die Frage ist erlaubt: Hat sich je in der Geschichte unserer Art ein Höhlenbewohner oder Steppen­nomade unter soviel gespenstische Ängste geduckt, wie sie uns heute im Nacken sitzen — Tag und Nacht? Hinter der apokalyptischen Viererbande der Offenbarung ist jedenfalls im Dunkel unseres gemeinschaftlichen Daseins eine neue Horde aufgetaucht, deren Zahl und Bewaffnung noch gar nicht ab- und einzusehen ist.

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Um so notwendiger ist es aber, daß wir den neuen Kommandanten dieser Horde fest ins Auge fassen. Der Tod, das war der alte Gebieter über Hunger, Pest und Krieg — aber der neue ist, auf eine grausig-groteske Weise, sein gerades Gegenteil, gewissermaßen der Tod des Todes, das Schwinden seines Gewichts und seiner Macht in der Waagschale des ständigen Leben/Tod-Gerichts über uns Menschen.

Dies, so wird es mehr und mehr offenbar, ist der Kern der Gattungsfrage. Es wurde im Zuge der menschlichen Geschichte (und Vorgeschichte) unvermeidbar, daß wir die Vier nicht mehr als Gottestaten im frommen alten Sinn anerkennen würden; daß wir alles versuchen würden, sie im Verfolg unseres Schimpansen­programms zurückzudrängen, wenn nicht schon auszuschalten; so weit zurückzudrängen, daß ihr jahrtausendealter lebensmindernder Einfluß nicht mehr ständig als Geißel und Angsttraum fühlbar ist.

Was sich dabei aber zwingend ergab und ergibt, ist die Verlagerung des Todes in die Räume des Lebens außerhalb unserer Art. Für diese Räume (und sie schließen alles Leben ein, das nicht menschlich oder zumindest menschendienlich ist) sind wir, wir Menschen, die Apokalyptischen Reiter, die großen Schlächter geworden, die Vorreiter der lebensleeren Wüste.

Damit haben wir einen höchst fragwürdigen Schritt getan. Wir haben unsere eigene Sicherheit oder doch die Vermehrung dieser Sicherheit durch das Vortreiben der Wüsten erkauft, durch eine Anwendung unserer Künste und unseres Wissens, welche das letzte große Wissen, die letzte große Kunst außer acht lassen muß: die Kunst, mit GAIA, mit dem Lebensganzen der Erde, in nachhaltiger Verträglichkeit zu leben. 

Wir haben dadurch bereits eine Anzahl neuer Apokalyptischer Reiter auf uns gezogen, die man nicht mehr Acts of God, Gottestaten, sondern Acts of Man, Menschentaten, nennen muß; oder doch nennen müßte, wenn sie nicht Bastarde wären — Fabelmonstren, von pfiffiger menschlicher Ahnungslosigkeit im großen unergründlichen Wirkschoß der Natur gezeugt.

Vor allem aber:

Das Haupt- und Innenwesen der alten Gottestaten war der Tod als Wirkkraft nachhaltigen Lebens; das Wesen der neuen Apokalyptik, jedenfalls ihr wesentliches Gerichtetsein, ist die scheinbare Über­windung des Todes, eine Überwindung, die ihrerseits zum tödlichen Sieg wird, zum möglicherweise letzten und endgültigen Sieg über eine für uns bewohnbare Zukunft.

Das ist die Botschaft des Jahrtausends, die sich erst in seiner zweiten Hälfte entfaltete, und die erst in diesem, dem 20. Jahrhundert, als bestimmende Kraft und bestimmende Lähmung in uns alle eindrang.

Sprechen wir also über dieses Jahrhundert, seine Triumphe, seine Wirrnisse. Wenn der Gang der Gedanken bis hierher folgerichtig war, wird er sich an den Zeugnissen der Zeitgeschichte und der Gegenwart erhärten lassen.

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 Die Botschaft des Jahrtausends