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6   Das 20. Jahrhundert - ein Deutungsversuch

Amery-1994

 

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Es war ein wirres Jahrhundert, dieses zwanzigste. Viele Betrachter meinen, daß es, vor allem im Gegen­satz zum neunzehnten, sehr kurz war. Das neunzehnte lief, so meinen sie, von 1789 bis 1914 — vom Beginn der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und folgerichtig datieren sie das unsere von 1914 bis 1989 — bis zum unerwarteten, aber logischen Zusammenbruch des sogenannten Real­sozial­ismus. 

Stellt man jedoch nicht nur eine Kalenderbeziehung, sondern einen inneren Zusammenhang mit den zum Jubiläum neu gehißten Bannern der Freiheit her, dann wäre dieses zwanzigste wirklich nur als eine Epoche von dunklen Seitenwegen, von verschlungenen Stollen der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte zu sehen, deren unaufhaltsames Gefälle die letzten großen Gefahren für eben diese Freiheit gebannt hat — neben dem Realsozialismus auch die faulste Frucht des neunzehnten, den Kolonialismus. Das ist schließlich, grob gesprochen, die These jenes Francis Fukuyama aus Washington, D.C., die unter dem Titel <Das Ende der Geschichte> bekannt wurde.

Nun ist Fukuyamas These nicht so töricht, wie sie vielleicht heute, nach und während Dutzenden von wüsten Schlächtereien auf dem ganzen Globus, klingen muß. Er bezog sich, wie er erläuterte, auf eine bestimmte Art von Geschichte, ein Schema, das Hegel zum Vater habe; sozusagen das Schema des ordentlichen Dreischritts, wobei das Ende der letzten großen dialektischen Herausforderung eben auch die Mündung dieser Geschichte in die letzte große Synthese sei.

Zugegeben, so klingt das schon weniger kurios. Dennoch, Fukuyama wurde und wird heftig widersprochen, und zwar zu Recht. Es gibt ganz andere mögliche Deutungen des Jahrhunderts. Für Denker aus den ehemaligen Ostblockstaaten etwa, vor allem für Mitteleuropäer, ist seine grundlegende Wirklichkeit die des Totalitarismus; sie nennen es das Jahrhundert der Lager, das Jahrhundert des (gescheiterten) Versuchs, die Menschen einem reinen, einem pseudokünstlerischen Modell zu unterwerfen. (Nicht umsonst wuchs in den letzten Jahren das Interesse an den fatalen musischen Neigungen Hitlers.)

Für das so bestimmte Jahrhundert sind dann die Mondlandung und (vielleicht) die Kernfusion ein logischer Abschluß.

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Oder wäre es nicht auch zu kennzeichnen (nebenbei zu kennzeichnen, wenn man will) als das Jahrhundert der Intellektuellen — einer die Moderne wenn nicht bestimmenden, so doch artikulierenden Klasse, sozusagen einer verweltlichten Klasse der clerici, welche zwischen dem bürgerlichen Gemeinwesen und dem notwendigen Guten vermitteln?

Dann wäre der Anfang dieses, des Intellektuellen-Jahrhunderts ganz genau festzulegen auf den Oktober 1898, als in der Zeitschrift Clemenceaus in Paris ein Manifest der Intellektuellen erschien; und zwar im Zusammenhang mit dem Dreyfus-Prozeß, wo es um die Wahrheit für einen Unschuldigen gegen konservativ-klerikale Staatsräson ging.

Das Ende des Intellektuellen-Jahrhunderts wäre dann ebenfalls 1989, das Jahr, in dem nicht nur der Realsozialismus zerbröckelte, sondern auch alle die Begriffsgerüste, in denen Schwärme von Intellektuellen die verschiedensten Auf- und Abschwünge geübt und einer staunenden Geisteswelt vorgeführt hatten.

Ein wirres Jahrhundert, so oder so.  

Als es begann, bestand wenigstens in einem Punkt allgemeine Übereinstimmung: Es würde ein Jahrhundert des FORTSCHRITTS werden — das auf jeden Fall. Produktion und Produktivität, Beweglichkeit, Hygiene, Befreiung von alten Schnörkeln und Schnürwerk — ob es sich dabei um die Schmucklosigkeit von Fassaden, die Schattenlosigkeit der Malerei, die Korsettlosigkeit der Damen handelte: Fortschritt auf jeden Fall und in jeder Form und Formlosigkeit. Und das schritt weiter fort, beschleunigte und industrialisierte sich in die Zwischenkriegszeit hinein und darüber hinaus: Tango, Tinnef und Tempo.

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Wenn man schon von Fortschritt redet, ist es vielleicht nützlich, eine selten für wichtig gehaltene Eigenheit des Jahrhunderts wenigstens zu erwähnen: das allmähliche und allmählich schneller werdende Verschwinden Gottes. Das ist heute ein Gemeinplatz, und es begann natürlich längst vor 1900: Den Nachruf hat Nietzsche schon verfaßt. 

Aber als das neue Jahrhundert begann, enthielten das öffentliche und private Leben der Mehrheit, die Weichbilder der Städte, die Redeweisen des Rechts und der Erziehung noch zahlreiche Zeugnisse Seines Vorhandenseins; und der Totalitarismus von Links und Rechts haben Sein Schwinden bestimmt nicht beschleunigt, sondern eher hinausgezögert. Jetzt, zum Schluß des letzten Jahrzehnts, geht's schon ganz prächtig ohne Ihn. Oder etwa nicht? Wer kann eine einzige wesentliche Entscheidung der Politik, der Wirtschaft, der privaten Karrieren, der Wahl des Lebensstils oder der Lebensgefährten nennen, die anders ausfiele, wenn man die Hypothese Gott hinzuzöge?

 

Aber lassen wir Ihn (vorläufig) in Seiner Abwesenheit. Kehren wir zu dem Versuch zurück, den besonderen Charakter des Jahrhunderts zu durchdringen, wenn möglich ohne voreilige Deutungsversuche.

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Kein Zweifel: Mit dem neuen Jahrhundert ändert sich der Ton der Predigten und Streitgespräche. Er wird schriller, wenn auch nicht wirklich kraftvoller. Der Sozialismus entließ zunehmend radikalere und unversöhnlichere Gruppen aus sich selbst, und sie wandten sich eilig gegeneinander mit entblößten Eckzähnen. Die Zivilisationskritik insgesamt sah tiefer und schärfer — aber wurde auch verbohrter und rechthaberischer. 

Alles schien auf letzte Gefechte zuzutreiben: Die westliche Demokratie stand gegen die mitteleuropäischen Kaiserreiche, der Sozialismus sowieso gegen den Kapitalismus, die Sozialdemokratie gegen Spartakus und Bolschewiki — und schon stieg aus den Theorien von Sorel, aus der gröberen Sorte von Vitalphilosophie, aber auch aus der erbitterten Zivilisations­verwerfung von Leuten wie Ludwig Klages eine neue mögliche Abart der Revolution, ein neuer Drang zur Tat schlechthin ans Licht.  Er zeugte sowohl die Jugendbewegung wie neue Richtungen der Kunst, aber auch neue Formen der gewaltfreudigen politischen Aktion rechts wie links; Braun-, Rot- und Schwarzhemden, Schalmeien, Fanfaren und Banner, schlechte, aber trotzige Marschlieder, Streik­kader, Sturmabteilungen und Squadristen.

  fr.wikipedia  Jean_Albert-Sorel  1902-1981

Und damit nähern wir uns schon dem streitergiebigsten Gegenstand des Jahrhunderts, dem Gegenstand, dessentwegen sich die Zeitgeschichtler seit Jahrzehnten in den Haaren liegen — es sind die zwölf Machtjahre des Adolf Hitler und, als ihr finsterster und fauligster Kern, Auschwitz.

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Fast jeder bezeichnet es als ein Zentralereignis der Epoche. Gewiß, Mussolinis Schläger und die Eisernen Garden der Rumänen und die Halsabschneider Francos und (natürlich) der GULAG-Kontinent können es, was spontane oder geplante Brutalität betrifft, mit Hitlers Braunhemden durchaus aufnehmen; aber, und da sind sich fast alle (bis auf ein paar Dunkelmänner) einig, die Vernichtungslager waren ein Quantensprung in eine neue Qualität der Todesmaschinerie — der Tod wurde wahrhaftig, wie Celan dichtete, "ein Meister aus Deutschland". 

Doch keiner bringt es fertig, diese neue Qualität der technisch hochorganisierten Massentötung in den bisher allgemein angenommenen Gang der Geschichte einigermaßen befriedigend einzuordnen. 

Gut, die Marxisten, vor allem die 68er-Marxisten, haben es versucht und waren mit sich selbst zufrieden, den Faschismus und damit auch den Hitler-Faschismus als Sonderform des Kapitalismus, sozusagen seine Notstands­form, festzunageln — aber das bringt bei auch nur weniger flüchtigem Hinschauen wenig neue Einsicht, bringt uns dem zentralen Geheimnis der Gaskammern kaum näher.

Sehen wir also genauer hin, worum es bei diesem Dilemma geht: 

Da hat sich mindestens seit 1492 oder doch seit der Reformation eine befreiende Strömung zur Mündigkeit in unserer Geschichte gebildet, die aus der Freiheit des Christenmenschen (Luthers Errungenschaft) in ziemlich kurzer Zeit zum großen Programm der Aufklärung führt: zu Kants “Muth, sich des eigenen Verstandes zu bedienen”.

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Auch die Wirbel der Konflikte, die sich innerhalb dieser Strömung bilden, treiben letzten Endes den Prozeß nur vorwärts, können ihn nur vorwärts treiben. Das Bürgertum und sein Freisinn bringen die Forderung und schließlich die Wirklichkeit der Verfassungen hervor, und diese wiederum kann es dem Gegner des Freisinns, dem Sozialismus, nicht verwehren, auf dem Rücken des Wahlrechts, also der Verfassungen, in die volle parlamentarische und gesellschaftliche Mitbestimmung einzureiten — und so fort, in offene, aber glorreiche Zukünfte hinaus und hinauf.

Und da stößt die Barbarei hernieder, ein Meteor aus dem geschichtslosen Himmel, schlägt zwölf Jahre lang zwischen Atlantik und Wolga alles kurz und klein, verbrennt Menschen und Zivilisationen, vernichtet die jüdische Kultur Zentral- und Osteuropas und verglüht restlos — scheinbar so grundlos, wie er aufgetaucht ist.

Was stimmt nicht an unseren Kategorien, unseren Einteilungen, daß sie uns nicht zu einer schlüssigen Erklärung verhelfen können?

Sie stimmen in diesem Fall tatsächlich nicht oder nicht mehr. Um an eine ganz andere mögliche Wahrheit darüber heranzu­kommen, schlage ich vor, eine Hypothese, einen Hilfsgedanken einzuführen. Das setzt voraus, daß wir einen zweiten Blick auf das Wesen der alten und der neuen Konflikte richten, von denen wir sprachen.

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Sie stammten alle noch aus dem 19. Jahrhundert; und gegen sein Ende zu waren sie alle oder doch fast alle in einem letzten Endes aufklärerischen Grundkonsens gelandet: dem Grundkonsens eben des Fortschritts. Worum es ging, worum sich die jeweiligen Gegner stritten, war dann nur noch die Frage, wer diesen Fortschritt befördere oder behindere — mehr befördere, weniger behindere, weniger oder mehr; wobei die Parteilichkeit und die entsprechenden Kampfparolen prächtig gediehen.

Aber im 19. Jahrhundert begann auch schon das Werk der Termiten, die diesen Grundkonsens unter­wühlten. Sie waren einzelne; sie kannten sich kaum; konnten selten etwas miteinander anfangen: die darwinistischen Natur­wissenschaftler etwa und die mächtiger werdenden technischen Spezialisten; die Eugeniker und die Kritiker der technischen Zivilisation; die Naturschützer und die altmodischen Konservativen, welche die hehren Kronen in den Schatzkammern und die bittersüße Schönheit der alten abendländischen Welt nicht vergessen konnten oder wollten. Die wenigsten dieser neuen Radikalen (auch Nietzsche nicht) waren ganz konsequent, begriffen genau, welchen Prozeß sie da einleiteten.

Und vermutlich waren die sogenannten Vordenker gar nicht die Gefährlichsten. Wahrscheinlich waren die biederen und (der eigenen Überzeugung nach) fortschrittlichen Naturwissenschaftler am gefährlichsten, die selten an mehr dachten als an ein besonders empörend wirkendes altes oder neues Menschheitsübel — und den Auftrag ihrer Wissenschaft, diesem Übel mit einer neu entwickelten, und das heißt doch wohl fortschritt­lichen Methode zu Leibe zu rücken.

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Ein bayerischer Agrarwissenschaftler, der über die Erschöpfung der Böden schrieb, fiel schon dem alten Marx auf, der ihn prompt in einem Brief an Engels zum Ehrenmarxisten ernannte. 

Vererbungsforscher, die meisten davon nicht in Deutschland, sondern in England und Amerika, verkündeten die Notwendigkeit, mittels einer planvollen Fortpflanzungspolitik die (jeweils anders verstandene und umgrenzte) Rasse zu verbessern — wobei man davon ausging, daß die Minder­wertigkeit der Schwarzen und oft genug auch der Juden keines gesonderten Beweises bedürfe.

Die neue Wissenschaft der Geopolitik (meist nur als Ideologie betrieben) förderte sowohl westliche wie mittel- und osteuropäische Arten des Imperialismus. Insgesamt herrschte unter der organischen, das heißt der für Staat und Gesellschaft denkenden und dafür bezahlten, Intelligenz mehrheitlich: unverhüllte Verachtung der Demokratie, fragloser Respekt für Fachleute, ehrliche Angst um die Zukunft der herrschenden Rassen, vor allem der weißen — und die unterschwellige Überzeugung, daß ohne Machtübernahme durch die wertfreien (also letzten Endes skrupellosen) Wissenschafts­eliten die Welt den Bach hinuntergehen würde.

Diese Stimmung war bis 1914 in Amerika und Europa stark vertreten; in Deutschland wurde sie seit 1918 vorherrschend, aber gefärbt von einer deutschen Sondergesinnung, deren Wurzeln bis in die Romantik hinabreichten.

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Diese Sondergesinnung war (zunächst) alles andere als rationalistisch — sie hegte vielmehr ein tiefes Mißtrauen gegen rechnende Vernunft und verachtete die technische Zivilisation. Gewiß, es war ein Engländer, der zuerst den Satz aussprach: “Ich hasse die moderne Zivilisation zutiefst....”; aber England scheint auch noch seinen widerborstigsten Söhnen einen christlichen Schimmer mitzuteilen, der in Deutschland schon früh verblaßte, jedenfalls in der hiesigen Form der radikalen Zivilisationskritik nicht mehr vorzufinden war.

Seinen Platz nahm schon seit den Befreiungskriegen 1812-1815 ein Kunststoffheidentum germanischer Machart ein. Solche Wotansbeschwörung war zwar zunächst meist dem geistigen und Gemütsniveau der Turnerriegen verhaftet, aber gerade deshalb breitenwirksam; und nach oben ging sie in einen gewissen Feinsinn über, der vorgab, mit dem Dichter die Sprache murmelnder Bäche und flüsternder Haine, aber nicht mehr die der gegenwärtigen Menschen oder gar des christlichen oder aufklärerischen Diskurses zu verstehen. 

Wer weiterging, wie etwa Ludwig Klages, verstand den zergliedernden Geist selbst als Widersacher und Zerstörer der Seele und damit der lebendigen Welt, wartete zornig auf die ewigen Wälder, die eines Tages, nach dem Aussterben des mißglückten Menschen, über den öden Steppen der Veraffung wieder zusammenrauschen würden.

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Diese Strömungen rannen links und rechts, von links nach rechts und umgekehrt, entsprangen sowohl der äußersten wissenschaftlichen Kälte wie den Gemütserhitzungen der Unbedarften und vage Ahnungsvollen. Aber eines war ihnen gemeinsam: das drückende Gefühl, daß der bisherige Weg nach vorn und oben, die selbstsichere Vorausschau auf immer mehr Zivilisation und Fortschritt, zur Selbsttäuschung wurde, werden mußte. Dieses Gefühl übersprang die bisherigen Fronten, bemächtigte sich vor allem der Jugend: wirkte dumpf in bierschluckenden Korpsstudenten; rosig-wirbelnd in den Jugendbewegten; kalt und entschlossen in den jungen Gewalttätern der extremistischen politischen Lager. Aber es bedurfte eines Weltkriegs, der russischen Revolution von 1917 und der Verträge von Versailles und Trianon 1919, um all dies ins Unheil der Aktion zu wenden.

Vor allem entstand nun eine Rechte, wie man sie bisher noch nicht gekannt hatte. Sie hatte einen Führer, der in einem stilistisch sehr schlecht geschriebenen Buch namens Mein Kampf eine Art Programm entwickelte. In diesem Programm war, wenn man sich die Mühe machte, es zu lesen, so ziemlich alles vorbereitet, was wenige Jahre später Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, den Generalplan Ost, aber noch früher die Maßnahmen zur Massensterilisation und der Beseitigung lebensunwerten Lebens hervorbringen sollte. Und bei diesem Programm war klar, daß sich der "Faschismus" der Hitler-Abart mehr vornahm als sonst in irgendeinem anderen Land; mehr als nur den Kampf gegen Parlamentarismus und Marxismus, mehr als nur die Abschaffung des Rechtsstaats, mehr als eine kriegerische Expansion neurömischer Art.

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Bei Hitler ging es darum, die politische, die Sozial-, die Wirtschaftsgeschichte zu entmachten und sie abzulösen durch Naturgeschichte; durch den biologischen Kampf der Rassen, durch das, was Hitler von der Natur, der “grausamen Königin aller Weisheit” (Mein Kampf) gelernt zu haben glaubte.

Und mit diesem Programm, das die wenigsten ernst nahmen, kämpfte sich Hitler an die Macht.

Hier, an diesem Zeitpunkt in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, erlauben wir uns das angekündigte Gedanken­experiment: eine kleine Einfügung in die Geschichte. Wir nehmen an, daß ein international anerkannter Wissen­schaftler, sagen wir ein Nobelpreisträger, ein Buch geschrieben hätte, das zu diesem Zeitpunkt die Gedanken von 1972, die Gedanken etwa des Club-of-Rome-Berichts Grenzen des Wachstums, vorwegnahm: das stets beschleunigte Anwachsen der Gefahren, welche insgesamt die Lebens­welten des Planeten bedrohen — und zwar durch das verderbliche Wirken der Menschheit: ihre wachsende Zahl, ihren sträflichen Umgang mit dem Leben und den Schätzen der Erde.

Ja, diese Gefahren waren damals durchaus bekannt. Man hatte noch keinen Computer, um die Denker­gebnisse abzusegnen, das ist alles; aber Fachgelehrte der Lebenswissenschaften hatten schon im 19. Jahrhundert damit begonnen, alle die Warnungen zu formulieren, die heute Gemeingut geworden sind.

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Setzen wir in unser Experiment also einen Mann von Einstein-Format, vielleicht einen Super-Klages ein, der damals, in den letzten Jahren der Weimarer Republik, mit den Schlußfolgerungen aus den Daten der Ökologie die Öffentlichkeit aufgewühlt hätte.

Und wie hätte diese Öffentlichkeit reagiert? Wie hätten sich die damaligen Parteiungen und Lager verhalten? 

Gehen wir sie der Reihe nach durch — von links nach rechts.

 

Der Kommunismus, insbesondere der an und von der Sowjetunion ausgerichtete Kommunismus, hätte eine solche Warnung entweder verlacht oder sie als typischen Trick der immer ratloser werdenden Bourgeoisie entlarvt. (Leuten wie Meadows ging es vierzig Jahre später nicht viel anders.) 

In der Sowjetunion liefen die großen Fünfjahrespläne an, die linientreuen Dichter besangen rauchende Schlote und glühende Hochöfen, kündigten Sibirien die Einschnürung in ein Stahlnetz an, und was der Dummheiten mehr waren. Die Bevölkerungsproblematik auch nur anzusprechen, galt als elender Malthusianismus, und man hielt die Fähigkeit des Menschen, mit der Welt zurechtzukommen, einen nachhaltigen "Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur" einzurichten, für praktisch unbegrenzt — vorausgesetzt, er entledigte sich der Ketten des Kapitalismus.

Ein Schritt nach rechts: Der demokratische Sozialismus, sagen wir die damalige deutsche SPD, hätte kaum anders reagiert.

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Ihr ging es um den kleinen Mann, es ging darum, sein Los zu erleichtern, altes soziales Unrecht, feudale und kapitalistische Unterdrückung zu beenden; in eine Landschaft solcher leidenschaftlich verfolgter Absichten paßte ökologische Schwarzseherei, die man höchstens als Kultur­pessimismus gedeutet hätte, überhaupt nicht.

Das christliche Lager (und in ihm als parteiliche Kraft des Zentrum) war von der erdgeschichtlichen Bedrohung abgeschottet durch das meist noch völlig naive Gottvertrauen. Die Geschichte des Menschen las man ohne große Übersetzungs­schwierigkeiten nach wie vor als Heilsgeschichte, sie würde von Gott, das heißt durch Christi Wiederkunft, abgeschlossen werden; es war völlig unvorstellbar, daß Er vor diesem Termin Seine Schöpfung im Stich ließ. Der Nobelpreisträger war da einfach auf dem Holzweg, das lag wohl an seinem Atheismus oder Agnostizismus.

Und der Liberalismus, der wirtschaftlich orientierte Freisinn?

Wir kennen einen erstaunlichen Text, der die damalige Denkwelt des Freisinns erleuchtet. Es ist die Rede, die der verdienstvolle Außenminister Gustav Stresemann vor dem Völkerbund in Genf gehalten hat, aus Anlaß der Aufnahme des Reichs in dieses Gremium, die er und sein französischer Kollege Briand eifrig und erfolgreich betrieben hatten.

Das Oberthema dieser Rede sind die Probleme des Friedens. 

Und was ist, nach Gustav Stresemann, ein Hauptproblem — oder doch ein ganz wesentliches Teilproblem? 

* (d-2015:)  wikipedia  Gustav_Stresemann  1878-1929

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Es ist die Frage, was mit dem Tatendrang, der Rauflust, der Muskel- und Nervenkraft der jungen Männer der Welt geschehen soll, wenn sich der Friede erst einmal unentbehrlich gemacht hat. Das sei ein Überschuß­problem, wie es die Welt noch nicht kenne und gekannt habe seit den Tagen des schnellfüßigen und wild dreinschlagenden Achilleus. 

Doch Stresemann hat eine Antwort: Nicht mehr gegeneinander sollen die Männer der Welt ihre Kampfkraft erproben, sondern im gemeinsamen Kampf gegen — die Natur! Ihr gilt es, die Schätze zu entreißen, die wir brauchen, um den Fortschritt der Menschheit zu fördern, ja zu beschleunigen. Sie gilt es zu zähmen, ihre Gewalten an die Kette zu legen, ihr die Gesetze abzulisten, nach denen sie lebt und denen sie folgt, damit wir sie noch besser unterwerfen können.

Soweit der deutsche Außenminister Stresemann. 

Wir dürfen sicher sein, er fand freudige Zustimmung im Plenum des Palastes am Genfer See. Was er aussprach, war der Schwung, die Begeisterung, mit der das Ingenieurzeitalter im 18. Jahrhundert begonnen hatte, wenn nicht schon früher, im italienischen Spätmittelalter. Seine eigentliche Sittlichkeit war das Ringen mit der Natur, und für den Liberalismus ist sie es bis heute geblieben.

Bleibt Adolf Hitler, bleiben die Nazis. Wie hätte Hitler auf ein solches Buch, auf ein solches, in die dreißiger Jahre vorweggenommenes Grenzen des Wachstums, reagiert?

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Ich behaupte: Er hätte es nicht nur begrüßt, er hätte es in den Mittelpunkt seiner Propaganda gestellt. 

Hier hätte er von höchster wissenschaftlicher Stelle die Weisheit seiner grausamen Königin Natur bestätigt gefunden, sie und seine ständigen Ausfälle gegen die blinden und platten Aufklärer (einschließlich des Marxismus), die glaubten, gegen diese Weisheit handeln zu können. Und er hätte zumindest sich selbst bewiesen, daß es nur eine, und zwar seine Antwort auf die Frage gibt, die plötzlich an der Wand des Jahrhunderts geschrieben steht.

Das XX. Jahrhundert ist das erste, in dem die Gattungsfrage, d.h. die Frage nach den Weiterlebens­chancen der Menschheit, allgemein und unüberhörbar gestellt ist.

Vor dem Hintergrund dieses Glaubens, angesichts seiner grausamen Königin, hätte er mehr denn je die Überzeugung gehabt, hätte sie mehr denn je unters Volk geschleudert, daß die Geschichte ganz offensichtlich in die Naturgeschichte zurückgekehrt, und daß es die Aufgabe einer Herrenrasse sei, sich für ein Leben in bewohnbarer Zukunft die nötige Grundlage zu sichern: Raum (Lebensraum hieß das bei ihm), Rohstoffe, Energie und Mengen von Untermenschen am Fuß der Artpyramide.

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Eine solche Einrichtung des Lebens konnte und kann sehr dauerhaft sein; man kann die Volkszahl vor allem der Sklaven beliebig vermindern oder vermehren, falls es künftige Entwicklungen verlangen. Zu sorgen ist lediglich dafür, daß die technische, kriegerische, intellektuelle Überlegenheit der Herrenrasse unter allen Umständen gewahrt bleibt.

Dafür hatte der zweite wichtige Teil des Programms zu sorgen: die Erbgesundheitsgesetze, mit deren Hilfe längst vor der Juden- und Zigeuner­vernichtung das große Aufräumen begann.

Sterilisationen und die Beseitigung lebensunwerten Lebens: Ich erinnere mich, daß sich die Empörung darüber zunächst in Grenzen hielt. Nicht nur das nationale, sondern das Weltbewußtsein war durchaus auf dergleichen vorbereitet: Sterilisationen wegen wirklicher oder vermeintlicher Erbkrankheit zum Beispiel hatte es vorher in Amerika an die dreißigtausend gegeben, und die mitteleuropäische Gesellschaft, seit der Steinzeit bäuerlich-steinern geprägt, hatte mit unnützen Fressern noch nie viel Geduld gehabt. 

Und dennoch: Als etwa seit Kriegsbeginn das Programm, die Heilanstalten leerzufegen, begann, meldete sich in den und um die Kirchen ein Widerstand, der nicht nur hartnäckig, sondern teilweise erfolgreich war. Das Programm wurde (zunächst) stark eingeschränkt, ja offiziell auf Eis gelegt. Aber die Teams, welche dabei wertvolle Berufserfahrung erworben hatten, wurden nach Osten verlegt, in die zukünftigen oder schon arbeitenden Vernichtungslager.

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Antisemitismus, vermählt mit dogmatischer Eugenik: Hierin sieht der jüdische Zeitgeschichtler Dan Diner sicher mit Recht das absolut Neue an der Vernichtungspraxis des Nazismus. Es ist diese innige Verbindung, welche die These vorn Nachahmungstäter Hitler, der nur auf die drohende Gestalt Stalins am Horizont reagiert habe, von vornherein zu Fall bringt. Gewiß, Stalin schaufelte seinerseits Millionen von Opfern in seinen Großmachtmoloch hinein — aber seine Krankheit und die Krankheit seines Programms sind etwas völlig anderes. Ihm ging es auch um Kontinuität, aber um die Nachhaltigkeit eines Zuchthauses, das die unangenehm humanistischen Seiten des Marxismus vorläufig (oder endgültig) zu vergessen hatte.

Dagegen (halten wir das fest) ruhte Hitlers Programm von Anfang an und systematisch auf biologischen Grundlagen, wie er sie verstand: Lebensraum, und zwar dauerhafter Lebensraum, für eine Herrenrasse, die erbgefestigt und genetisch überlegen andere, minderwertige Rassen beherrscht und sich von vornherein auf ein Tausendjähriges Reich, also auf erdgeschichtliche und nicht nur auf "welt"-geschichtliche Zeiträume einrichtet.

Sicher, die Nazis waren echte Technokraten, berauschten sich an Jüngerschen Stahlgewittern und dröhnenden Panzermotoren. Aber solange diese Gerätschaften das Monopol der Herrenrasse waren und blieben, konnte die Lebenswelt ihre energetische Wirkung sicher ohne Schwierigkeiten absorbieren.

Dies ist der Kern dessen, was Generalplan Ost hieß.

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Dies ist das weite Muster, nach dem Hitlerdeutschland seine Eroberungen auslegte. Nachbarn waren zunächst nur Menschen auf Verdacht, und Rechte für Untermenschen gab es in diesem Muster überhaupt nicht. Insbesondere aber galt es, die einzigen Kulturen (in Hitlers Sprache: die einzigen Rassen) auszuschalten, welche zu diesem Plan restlos quer standen: die seit Jahrtausenden staatenlosen Juden — und die gleichfalls staatenlosen Zigeuner.

Hier liegt die zentrale Bedeutung von Auschwitz für unser Jahrhundert und für unsere Zukunft. Auf die erst nebelhaft auftauchende Gattungsfrage hat Hitler, hat der Nazismus eine Antwort vorweggenommen: techni­sierte Barbarei, Rücknahme der Geschichte in Naturgeschichte.

Und (fast) unbewußt hat das deutsche Volk dieser Antwort zugestimmt — nach langem Schwanken, nach dem vorläufigen Versagen der beiden großen internationalistischen Zukunftsversprechen, also des Kapitalismus und des Sozialismus. Der Kapitalismus scheiterte in den Augen von Millionen in der großen Depression von 1928/32, und der Sozialismus sagte so oder so eine lange Wüstenwanderung voraus, ehe für alle Werktätigen der Welt das Heilige Land erreichbar würde. (Nebenbei: Vergessen wir nicht das Verblassen des christlichen Heilsversprechens!)

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Barbarei ist immer verlockend. Sie scheint eine Schwierigkeit spielend zu lösen: die Frage nach dem Eigenwert auch des wirtschaftlich, geistig, gesellschaftlich überflüssigsten und geducktesten Stammes­genossen — und die Zusatzfrage nach den Grenzen des Menschseins und damit der mitmenschlichen Verpflichtung. Bei vielen traditionellen Völkern und Kulturen deckt sich der Volksname mit dem Wort für Mensch. Nachbarn, Freunde, weiter weg Wohnende sind für dieses Bewußtsein nur Menschen auf Probe, auf Vertrag, auf Zeit. Ja, es gibt auf Neuguinea Stämme, die den Fremden nur nach einem komplizierten Geburtsritual als Bruder und damit als Mensch anerkennen können. Und die schottisch-keltischen Barden sangen an den Torffeuern der Halle:

Keine Macht gibt es auf Erden wie die des Clans MacDonald ......

Die Würde des bitterarmen Crofters in der Torfhütte war damit ebenso gesichert wie die des steinreichen Laird. Und der bitterarme Crofter war so oder so mehr wert als, sagen wir, der steinreiche Kaufmann der Londoner City, der das Pech hatte, kein MacDonald zu sein.

Das Hitlerprogramm hat diese Barbarei aufgerüstet, technisch wie ideologisch. Es hat zudem noch existierende Barbarei um vieles unmenschlicher gemacht — wohl für lange Zeit: die Hilfswilligen im Osten, die Letten, Ukrainer, Litauer, Kalmücken und wie sie alle heißen — von den haßgeübten Stämmen des Balkans ganz zu schweigen.

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Gut, das Programm hat sich nicht durchgesetzt — vorläufig. Hitler wurde durch ein Bündnis der alten, durch den Glauben an weltweite fortschrittliche Lösungen der Menschheitsprobleme geeinten Feinde in Ost und West niedergerungen. Aber widerlegt war er dadurch nicht. Und so hat er das selbst gesehen: Noch in seinem gespenstischen Bunkertestament vom April 1945 hat er erklärt, daß das deutsche Volk einfach nicht die Kraft und den Mut aufgebracht habe, mit ihm und für ihn zu siegen; mit anderen Worten: Die Stafette im darwinistischen Rennen war weitergegeben, vermutlich an die Russen, und künftige Geschlechter würden notgedrungen auf seine, Hitlers, Ideen zurückgreifen müssen.

Wurde er nun widerlegt? Und war die ganze zweite Hälfte des Jahrhunderts nicht der Versuch, ihn zu widerlegen — der scheinbar erfolgreiche Versuch?

Wissenschaft und Technik machten ungeheure Sprünge; ja, der “Produktionsfaktor Wissenschaft” kam jetzt erst so richtig zur Herrschaft, ins Reich der Fülle für alle. Die Heilslehre dieses Reiches, die Frohbotschaft des Ökonomismus, teilte sich nach bewährtem Muster in zwei Konfessionen, die beide zusammen der Welt durch ihren unerbittlichen kalten Krieg die Überzeugung aufzuzwingen versuchten, daß der Endkampf zwischen Gut und Böse, das Armageddon, daß sogar die Drohung mit Wasserstoff­bomben und letzten Endes ihre Anwendung rechtfertigte, einzig und allein im Kriegstheater dieses Konfessions­kampfes ausgefochten werden könne.

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In Wahrheit beschleunigte der Konflikt lediglich seine eigene Widerlegung, den Aufweis seiner Nichtigkeit. Diesseits und jenseits der Konfessionsgrenze nahm das Erscheinungsbild des Jahrhunderts spukhafte Züge an. Während die beiden Kämpfer auf Leben und Tod immer verwegenere Herkulesarbeiten unternahmen, um den endgültigen Sieg des Menschen über die alte Natur zu besiegeln; indem sie Menschen in den Orbit und auf den Mond schleuderten, Wasser mittels zertrümmerter Atome erwärmten, Ströme umleiteten, ganze Reiche durch künstliche Bewässerung versalzten und Bedürfnisse erfanden, ehe sie irgend jemand hatte, versuchten sie der jeweils anderen Seite und der Welt zu zeigen, wie weit man es selbst darin gebracht hatte, die alten Apokalyptischen Reiter in die Vergangenheit zu verweisen und den Menschen endgültig aus einem elenden Squatter auf diesem Planeten in den Hausherrn zu verwandeln, der alles, vom Keller bis zur Mansarde, im Griff hat.

Aber wie schon gesagt: Das alles beschleunigte nur die große Widerlegung. Leonardo da Vinci, ein bitterer Verächter, hat einmal die Mehrheit der Menschen als <Füller von Abortgruben> bezeichnet; heute müßte er wohl seine Charakterisierung etwas ins Allgemeine erweitern: der Endzweck, die causa finalis des Ökonomismus, ist die Füllung von Sondermülldeponien.

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Und der ganze fieberhafte Betrieb kann nicht verbergen, daß wir über das alte Bierhefe- und Schimpansen­programm noch nicht hinaus­gekommen sind; vermochte nicht einmal im Zwangspanzer des kalten Krieges zu verbergen, daß die Gattungsfrage, nach wie vor unbeantwortet, aus immer dunkleren Himmeln an uns gerichtet wird, und daß wir von einer menschenwürdigen Antwort himmelweit entfernt sind — ja, daß die des Adolf Hitler auf ihre Art schlüssiger war.

Es gibt in diesem trostlosen Drehbuch eine bedeutsame, wenn auch noch trostlosere Abweichung, einen Ausbruch aus der Weiterwurstelei: die Utopie des Pol Pot, den Alptraum vom urkommunistischen Kamputschea. Er ist auf seine Weise ein ebenso geschlossenes Kunstwerk der Gattungslogik wie Hitlers Rassenreich. Nur war sein Plan nicht auf Ausdehnung, sondern ganz konsequent nach innen gerichtet, auf und gegen das eigene Volk. Früh- und spätmarxistische, anarchistische, rousseauistische Gedanken flossen da in dem Pariser Studenten zusammen; aber wieder war der Sinn des Programms die eindeutige, geschichts­aufhebende Nachhaltigkeit, wie er sie verstand. Wenn erst einmal, nach dem Tod überflüssiger Millionen, niemand mehr irgend etwas zu verlieren hatte, sollte die zeitlose Sonne der bedürfnislosen Gleichheit auf alle scheinen. Die einzig verbleibende Schwierigkeit war die Beschaffung von Maschinenpistolen und Fahrrädern für die, die gleicher als die Gleichen waren.

Auch Pol Pot schien widerlegt — aber kehrt er nicht zurück? Und die Dutzende von Feuerherden, die aufreibenden Mordkriege, die unter allen möglichen Vorwänden geführt werden:

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Im neu aufflammenden Haß des Balkans, in der durchaus nicht vom Stifter gewollten Unduldsamkeit des islamischen Fundamentalismus, in riesenhaften afrikanischen Massakern — zeigen sie nicht, wie sich aufs neue die Kräfte der Barbarei verdichten, die durch den sogenannten Fortschritt keineswegs gelähmt, sondern durch seine Errungenschaften noch gestärkt werden? Und ist es nicht bezeichnend, daß alle diese Kräfte, auch der Neonazismus in Deutschland, die Le-Pen-Partei in Frankreich, der neosalonfähige Faschismus in Italien, in dem Augenblick wieder aufbrachen oder doch rasch an Bedeutung gewannen, als dem Kunstkonflikt des Ökonomismus, dem kalten Krieg, einfach die heiße Luft ausging

Wir alle, einschließlich so vieler geknickter Linker, stehen jetzt wieder am Ausgangspunkt des Jahrhundert­abenteuers, in den Morästen seiner Widerlegungen. Und die Jungnazis wissen in ihren dumpfen Hirnen, wo's wieder langgehen soll: Sie erschlagen Schwarze und schmeißen Behinderte aus der Straßenbahn — Fremdenhaß plus Eugenik, frisch aus dem Zeughaus der Königin aller Weisheit.

Zwei Dinge haben sich allerdings unumkehrbar verändert: der Zustand der Lebenswelt und der Zustand der Gesellschaft in unseren Ländern der sogenannten Hochzivilisation.

Was den Zustand der Lebenswelt betrifft, sind Worte unnötig. Es genügt der Blick in die Jahresberichte des Washingtoner World Watch Institute. Wer sie nicht lesen will, dem sagt auch dieser Aufsatz nichts, und für den Willigen gibt es mehr als genug Zeichen der Agonie einer aufs Blut geschundenen Natur.

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Und der innere Zustand unserer Gesellschaften?

 

Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, hat im Jahre 1972, im Jahr des großen prognostischen Umschwungs, eine Wiener Studiengruppe nicht wirtschaftliche oder ökologische, sondern gesellschaftliche, psychische, kulturelle Datensätze ins nächste Jahrtausend hinein verlängert. Dabei nahm sie spaßeshalber die üppigsten und rosigsten Voraussagen der Fortschrittler als gegeben an: Energie in Fülle, ständige Steigerung des Bruttosozialprodukts, der Löhne und Gehälter, der Mobilität, der individuellen Entscheidungsbreite und so fort. Die Gruppe kam zum Ergebnis, daß etwa im Jahre 2030 die freie, die kapitalistische, die G-7-Gesell­schaft oder wie immer man das nennen mag, nicht mehr imstande sein werde, die einfachsten Grundfunktionen wahrzunehmen, die zum Erhalt eines politisch-gesellschaftlichen Gewebes notwendig sind.

Das wird wohl stimmen. Wer sich nicht blind stellt, der sieht, wie schwierig es allmählich wird, dienstwillige Gemüter selbst für das funktionsloseste Ehrenamt aufzutreiben; wie sich in Feuerwehren und Schrift­steller­verbänden, in Parteien und Gemeinderäten die alte Lust an der Kampfabstimmung verflüchtigt hat; wie die öffentlichen Strukturen, alle aus der aufklärerisch, das heißt politisch gemeinten Verfolgung des allgemeinen Glücks geboren, mehr und mehr als treibende Walfischkadaver empfunden werden, die man nur abzuspecken braucht, ohne sich um ihre Herkunft oder auch nur um ihre Haltbarkeit zu kümmern.

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Man beachte die Schnapsflaschen in den unteren Schubladen der Büroschreibtische, oder auch die verschloss­enen Bargeldumschläge daselbst; man beachte den Jammerzustand unserer sogenannten Familien, der sich nicht etwa aus allgemein überschäumender Wollust, sondern aus der wachsenden Unfähigkeit ergibt, irgend­eine kräftige Verpflichtung länger als für die Dauer eines winzigen Lebens­abschnitts festzuhalten. Und man beachte vor allem die Weltmacht der Drogenkartelle! Man kann sich vor diesem Hintergrund auf eine finstere Weise damit vergnügen, der durch wohltrainierte Kühle gebändigten Panik zu lauschen, die in Diskussionen mit Themen wie “Wo nehmen wir den erforderlichen Gemeinsinn her?” als schriller Oberton mitklingt.

Wir sagten: Hitler wurde besiegt — vorläufig. Das kann heißen (und heißt es wahrscheinlich), daß er ein Vorläufer ist.

Wir sagten: Seine zwölf Jahre, sein Euthanasie- und Auschwitz-Programm, liegen keineswegs wie ein (ausge­brannter — ?) Meteor in der Mitte des Jahrhunderts. 

Das Jahrhundert, das XX., das Jahrhundert der großen Widerlegungen, ist vielmehr das erste, in dem unser hartnäckiges Betreiben des Bierhefe- und Schimpansen-Programms (des B&S-Programms, um es abzukürzen) so erfolgreich wurde, daß die Gattungsfrage offen und schrecklich zutage trat: die Gattungsfrage und die ersten Versuche, sie schlüssig, wenn auch auf der Grundlage einer hyper­modernen Barbarei zu beantworten. 

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Es hat also keineswegs die Geschichte beendet. Es hat vielmehr eine ganz neue Phase der Menschheitsgeschichte eingeleitet.

Das, was den Menschen zum Menschen macht, nämlich seine Reflexionsfähigkeit, sein Zurücktreten vom rein biologischen Drang, wurde bisher in der Geschichte fast immer nur dazu benutzt, die animalische Expansionsgier der Art noch wirksamer zu entfesseln. Damit stießen wir in den letzten zweihundert Jahren an eine Grenze vor, die von keiner anderen Lebensform überschritten wurde und überschritten werden kann. Und das ist der Kern der Gattungsfrage.

Sie zwingt uns in die nächste logische Folgerung, die Folgerung, die sich seinerzeit Karl Marx aufgrund einer viel zu bornierten Untersuchung der Geschichte erlaubte: daß diese Menschheitsgeschichte entweder in absehbarer Zeit aufhört (wenn wir nicht rechtzeitig von B&S herunterkommen), oder daß sie als solche, nämlich als die Geschichte des zu sich selbst und seinen wirklichen Möglichkeiten findenden Menschen, erst wirklich beginnt, beginnen muß — als Antwort auf die Frage:

Wirst du es fertigbringen zu überleben? 

Hitler, der liederliche Schwabinger, und Pol Pot, der fleißige Sorbonne-Student, haben auf die Frage die ersten zusammen­hängenden Antworten der Moderne gegeben. Wer auf den Titel MENSCH Anspruch erhebt, wird sie voll Entsetzen zurückweisen — aber das bedeutet nicht, daß sie überholt sind.

Vielmehr ist es an der Zeit, ohne Zugeständnisse an die Barbarei, aber auch ohne Angstsperre gegen die Lebens/Todes-Tatsachen nach Antworten zu suchen, die sowohl der Wirklichkeit dieses Verhältnisses wie der Unwiderruf­lichkeit unserer Humangeschichte angemessen sind. 

Leben, Tod und Würde: Das ist das Dreieck, in dem die Antworten zu finden sein müssen. Und sie müssen der Logik der Barbarei gewachsen sein, müssen eine angemessene Antwort auf ihre Herausforderung darstellen.

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Die Botschaft des Jahrtausends