Zwischenstand
93-96
Der zeitweilige Erfolg des B&S-Programms, der sich in diesem Jahrhundert aufgipfelt, ist in erster Linie dadurch bedingt, daß mit Hilfe der Artüberlegenheit des Menschen die alten Taten Gottes zurückgedrängt wurden: Pest, Hunger und Krieg, die Diener des Todes. Gerade aus diesem Erfolg ergibt sich der unvermeidliche Zusammenbruch des Programms, der wahrscheinlich weite Bezirke des übrigen Erdenlebens mit sich reißen und trostlose Wüsten schaffen würde, ehe sich GAIA neue evolutionäre Wege sucht.
Diese Tatsachen sind mindestens seit Beginn des Jahrhunderts bekannt. Ihre Wichtigkeit übertrifft logischerweise die jeder anderen Tatsache. Die politische und wirtschaftliche Welt zieht es vor, sie zu übersehen oder sie als »Umweltproblem« zu bagatellisieren.
Zwei Programme in diesem Jahrhundert machten eine Ausnahme: das Programm des Adolf Hitler in Europa und das des Pol Pot in Südostasien. Ihre Stoßrichtungen waren sehr verschieden, aber beide waren bewußt auf erdgeschichtliche, nicht nur humangeschichtliche Nachhaltigkeit angelegt.
Daß die beiden Programme niedergerungen wurden, war möglich, weil noch genügend Widerstand im zivilisierten Bewußtsein der Welt mobilisiert werden konnte. In diesem Bewußtsein spielt jedoch das Bewußtsein von der tödlich gefährdeten Nachhaltigkeit noch keine verändernde Rolle. B&S läuft unter verschiedenen Titeln weiter, ja, es hat in der zweiten Jahrhunderthälfte erst seine volle Vernichtungskraft gefunden. Sie ergibt sich aus der steigenden Gefährlichkeit der Abfälle (im weitesten Sinne) und dem dadurch gestörten Gleichgewicht der Leben/Tod-Wirklichkeit.
Daraus wiederum ergibt sich, daß weder Hitlers noch Pol Pots Programm als endgültig widerlegt gelten darf. Solange die Zivilisation keine Antwort findet, die sowohl mit der biosphärischen Nachhaltigkeit wie mit der Sonderentwicklung der Menschheit, also ihren vermehrten und sich vermehrenden Wahlmöglichkeiten, vereinbar ist, bleibt die Option für diese und ähnliche Barbareien offen.
Wird eine solche Antwort nicht gefunden, werden sie wiederkehren — natürlich nicht in der völlig gleichen Gestalt. Aber etwa die gegenwärtige Mord- und Brandpraxis der deutschen Neonazis (jung und alt) knüpft unmittelbar an sie an; und eine Reihe von Metzeleien, die sich nah und fern ereignen, sind höchstwahrscheinlich schon mitbedingt durch das Fehlen einer wirksamen, schlüssigen und der menschlichen Würde entsprechenden Antwort.
96
Lesefrüchte — zum Verständnis des Gelesenen und des Kommenden
97-104
Gottes Gutsein (Thomas von Aquin)
Gottes Gutsein kann nicht in einer einzigen Kreatur genugsam dargestellt werden; und so brachte er viele und vielfältige Geschöpfe hervor — so daß das, was in einem davon nicht an Gottes Gutsein aufscheine, von einem anderen ergänzt werde.
Das Gute, das in Gott einfach und einförmig ist, ist vielfältig und aufgeteilt in den Geschöpfen; und so nimmt das ganze Universum um so vollkommener an Gottes Gutsein teil und widerspiegelt es besser, als irgendeine einzelne Kreatur dies vermöchte.
Über den Falken (Buch Hiob)
Gott und Sein Falke
Wo warst du, als Ich die Erde gründete? Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt und über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler gegründet, und wer hat ihren Eckstein gelegt, als Mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne? ...
Fliegt der Falke empor dank deiner Einsicht und breitet seine Flügel aus dem Süden zu? Fliegt der Adler auf deinen Befehl so hoch und baut sein Nest in der Höhe? Auf Felsen wohnt er und nächtigt auf Zacken der Felsen und steilen Klippen. Von dort schaut er aus nach Beute, und seine Augen sehen sie von ferne. Seine Jungen gieren nach Blut, und wo Erschlagene liegen, da ist er.
Falke und Maus (Aldo Leopold, Biologe)
Die Maus ist eine nüchterne Person, die weiß, daß das Gras zu dem Zwecke wächst, daß Mäuse es in unterirdischen Mieten stapeln können, und daß Schnee fällt, damit Mäuse Tunnels von Miete zu Miete bauen können. Angebot, Nachfrage und Transport: alles sauber organisiert. Für die Maus bedeutet Schnee die Freiheit von Furcht und Not.
Ein langbeiniger Falke kommt über die Wiese gesegelt. Nun stoppt er wie ein Eisvogel, stürzt wie eine gefiederte Bombe ins Marschland. Er steigt nicht wieder auf, und so bin ich sicher, daß er eine nervöse Ingenieurmaus gefangen hat und auffrißt, welche die Nacht nicht abwarten konnte, um die Schäden zu inspizieren, die das Tauwetter ihrer wohlgeordneten Welt angetan hat.
Den Langbeinigen kümmert es nicht, warum Gras wächst, aber er weiß genau, daß der Schnee taut, damit Falken wieder Mäuse fangen können. Er kam aus der Arktis in der Hoffnung auf Tauwetter, denn für ihn bedeutet das Tauen die Freiheit von Furcht und Not.
Falke und Mönch (Thomas Merton, Karthäusermönch und Dichter)
Dann versuchte ich zu beten. Aber der Falke fraß gerade den Vogel. Und ich dachte an diesen Flug, wie er einer Gewehrkugel gleich aus dem Himmel hinter mir und über mein Dach herabgestoßen war, an das sichere Zielen, mit dem er den Vogel schlug, als habe er ihn aus meilenweiter Ferne ausgewählt. Einen Augenblick lang beneidete ich die Barone des Mittelalters, die ihre Falken hatten; dachte an die Araber auf ihren schnellen Rossen, am Rand der Wüste auf Falkenjagd, und ich verstand auch die schreckliche Tatsache, daß es Männer gibt, die den Krieg lieben. Aber schließlich begriff ich, daß Heilige und Kontemplative den Falken studieren müssen — weil er sein Handwerk beherrscht. Ich wünschte mir, das meine genausogut zu beherrschen.
98
Conditio Humana
Junge Unkrautart (Lynn Margulis, Mikrobiologin)
Homo sapiens sapiens ist eine sehr junge Unkrautart, die rasch wächst und ihre Umgebung stark modifiziert. Diese Phase des Aufblühens ist nicht neu, wir kennen sie von den Dinosauriern ... Wenn die Bedingungen günstig sind, wächst die Bevölkerung schnell, und kurz vor dem Abkippen stehen die Dinge zum besten ... eine sehr übliche biologische Strategie, auf Petrischalen sehen wir sie jeden Tag ... Nur unsere unglaubliche Egozentrik (die wir nicht abstellen können) hindert uns daran zu sehen, wie gewöhnlich das alles ist.
Mozart über dem Schlachthof (Claudio Magris, Kulturkritiker)
Es ist unmöglich, Tieren die universalen und unverletzlichen Rechte zuzugestehen, jedes Tier kantianisch als Zweck statt als Mittel zu betrachten; eine solidarische Brüderlichkeit kann die ganze Menschheit umfassen, aber darauf beschränkt sie sich auch. Diese Unmöglichkeit bewirkt eine unvermeidliche Trennung zwischen der Welt des Menschen und der Natur und zwingt die Kultur, die gegen das menschliche Leben ankämpft, ihre Gebäude auf dem Leiden der Tiere zu errichten ...
Auch wenn die Trompete aus Fidelio ertönen sollte, müßte sich die befreite Menschheit in der höchsten Etage des Wolkenkratzers, in der sie sich eingerichtet hätte, all jener Erniedrigten und Beleidigten in den unteren Stockwerken erinnern, die, wie Horckheimer schreibt, die oberen tragen. Im tiefsten Keller, am Fundament des ganzen Gebäudes, in dem oben ein Konzert von Mozart gegeben wird, befindet sich die leidende Kreatur, fließt des Blut des Schlachthofes.
Ökologie — mehr oder weniger tief (Arne Naess, Ökophilosoph)
Wie es heißt im ersten Buch Genesis: Die Ozeane sollen erfüllt sein von den Geschöpfen des Meeres. Die Menschen haben kein Recht, diesen vielfältigen Reichtum zu mindern, außer um Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Den Begriff <Lebensbedürfnis> können wir verschieden interpretieren, und wir sollten dabei nicht zu rigoros sein. Wenn wir Bedürfnisse von reinen Wünschen und unverantwortlichen Süchten unterscheiden, dann sollten die Lebensbedürfnisse für ein Leben genügen, das einfach in den Mitteln, reich in seinen Zielen ist.
Beim Anblick der Dritten Welt müssen wir zwischen humanitärer und ökologischer Politik unterscheiden. Wenn es darum geht, den Hungrigen und verzweifelt Armen zu helfen, so ist es unsere Pflicht, etwas für sie zu tun, auch wenn das todernste ökologische Anliegen wie Entwaldung und Erosion beeinträchtigt. Und es ist ganz klar, daß wir mehr Verantwortung für unsere Mitmenschen als für Löwen tragen.
99-100
Zwischenschichtinsekten (Theodore Roszak, Ökophilosoph)
Die meisten Klasseninteressen konzentrieren sich auf den Wohlstand und die Macht der Monopole, aber es gibt ein Interesse, das sich so tief in die Eingeweide der Metropole vergraben hat, daß es sich unsichtbar für jede Kritik machte: das Interesse der Intellektuellen als der Ureinwohner der urbanen Klassen.
Die Kultur der Metropole ist so speziell die ihre (ihre Schöpfung und ihre Sucht), daß sich der Drang der Metropole, zu expandieren und zu herrschen, als eine simple Forderung des gesunden Menschenverstands ausnimmt. Was immer sonst an Privilegien und Mächten es fördern mag: Das Imperium der Metropolen ist das Imperium der Intellektuellen.
LACHPAUSE
Das mit der Umwelt, das bekommen wir in den Griff. (Kanzlerwort)
Ein Benzinpreis von fünf Mark pro Liter ist sozial unzumutbar. (Umweltministerwort)
Auch die Umwelt muß ihren Beitrag zum Industriestandort Deutschland leisten. (Parlamentarierwort)
101
Kapitalistisch oder sozialistisch ? (DDR-Handbuch der politischen Ökonomie)
Die ununterbrochene Erweiterung der Produktion (ist) eine objektive Notwendigkeit, da es unmöglich geworden ist, ohne sie das stetige Anwachsen der Konsumtion des Volkes zu gewährleisten ...
Die bewußte Ausnutzung der ökonomischen Gesetze im ökonomischen System... hat zum Ziel, kontinuierlich eine hohe Steigerung der Arbeitsproduktivität zu sichern ...
Von der Steigerung der Arbeitsproduktivität hängen ab das Wachstum der Produktion und des Nationaleinkommens, das selbst wiederum Grundlage der erweiterten Produktion und der zunehmenden Möglichkeiten der Befriedigung der gesellschaftlichen und individuellen Konsumtionsbedürfnisse darstellt.
Tod / Leben
Das Dilemma (Hans Jonas, Philosoph)
Müssen wir Unmenschen werden, um die Menschheit zu retten?
Die Verständigung 1 (Milorad Pavíc, Romancier)
Der Hüter verschließt die Türe ... und läßt in ihr Dunkel den schweren Klang des Schlosses fallen, als lasse er drinnen den Namen des Schlüssels zurück. Mißgelaunt ... setzt er sich neben mich auf einen Stein und schließt die Augen. Als ich bereits glaube, daß er in seinem Teil des Schattens eingeschlafen ist, hebt der Hüter die Hand und zeigt auf eine Motte, die irgendwo im Säulengang der Türe schwebt, aufgeflogen aus unseren Kleidern oder den persischen Teppichen des Grabmals.
»Siehst du«, wendet er sich mir uninteressiert zu, »das Insekt befindet sich hoch oben unter der weißen Mauer des Säulenumganges, und man bemerkt es nur, weil es sich bewegt. Von hier unten könnte man auf den Gedanken kommen, es sei ein Vogel hoch droben am Himmel, wenn man die Mauer als Himmel auffaßt. Die Motte begreift diese Mauer wahrscheinlich auch so, und nur wir allein wissen, daß sie unrecht hat. Sie aber weiß nicht einmal, daß wir es wissen, noch weiß sie, daß wir existieren. Und jetzt versuche, dich ihr verständlich zu machen, wenn du dazu in der Lage bist. Kannst du ihr irgend etwas sagen, gleich, was es ist, doch so, daß sie dich begreift und du sicher bist, daß sie dich vollständig begriffen hat?«
»Ich weiß nicht«, gab ich zur Antwort, »vermagst du es denn?«»Ja«, entgegnete ruhig der Alte, klatschte die Handflächen zusammen, erschlug die Motte und zeigte sie mir, zerschmettert auf seiner Handfläche. »Meinst du, sie hätte nicht verstanden, was ich ihr sagen wollte?«
Unschuldig plötzlich (Slowakisches Gedicht)
Nur davor ängstigt der Tod.
Danach
Ist alles schön, unschuldig plötzlich,
Eine Karnevalsmaske, worin
Nach Mitternacht du Wasser schöpfst,
Um zu trinken oder den Schweiß abzuwaschen.
Die Verständigung 2 (Milorad Pavic)
Jemand, von dessen Gewand wir uns ernähren, trägt unseren Tod in seiner Hand, als Mittel der Verständigung mit uns. Indem er uns tötet, setzt uns dieser Unbekannte von sich selbst in Kenntnis. Und wir erschauen durch unsere Tode, wie durch eine halb aufgestoßene Tür, im letzten Augenblick neue Gefilde und neue Grenzen. Diese sechste und höchste Stufe der Todesangst hält uns, die unbekannten Teilnehmer im Spiel zusammen und verbindet uns. Die Hierarchie der Tode ist in der Tat das einzige, das ein System der Berührungen unter den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit in einem sonst unüberschaubaren Raum ermöglicht.
102-104
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Die Botschaft des Jahrtausends