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9  Leben / Tod / Würde:  Der Endgültige Test

Amery-1994

 

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Soviel ist klar: Wir stehen, was die mögliche Rettung der Lebenssphäre betrifft, am Anfang des Anfangs. Mit den bisher feststellbaren oder wenigstens erahnbaren Zielen eines planetarischen Managements muß von vorn­herein radikal gebrochen werden. 

Statt wie bisher an unserem eigenen tötenden Lebensstil festzuhalten und ihn, wenn und wo irgend möglich, dem Rest der Menschheit aufzudrängen, wobei wir höchstens Geburtenkontrolle als einziges Gegengift verordnen, gilt es, den genau umgekehrten Weg einzuschlagen: 

Vor allem andern gilt es, unseren Kultur­entwurf auf eine drastisch zurückgefahrene Energie­freisetzung einzurichten, die unmittelbaren und mittel­baren Preise für Transportkosten und Transportmittel jeder Art anhand der wirklichen ökologischen Kosten festzusetzen, darüber hinaus das Steuer- und Abgaben­system auf Energie-, Rohstoff- und Schadstoff­einheiten zu gründen.

Ganz recht: Das und nur das wäre der Weg zu einem gegenüber der Zukunft vertretbaren Zustand des Lebens in unserem Raum, er entspräche ungefähr den Normen der Jahre 1948-1952. 

Und der trügerische faule Glanz, den bisher unser Lebensstil zum Verderben der ganzen Welt ausstrahlt, wird erlöschen müssen.

Dabei werden wir kaum darum herumkommen, so zentrale, aber über die wahren Lebenskosten täuschende Säulen unserer Zivilisation wie Marketing und Zinseszins in Frage zu stellen. 

Hier ist nicht der Ort, um die genauen Gründe für diese Notwendigkeit auszubreiten; das geschieht und ist geschehen, oft und oft, ausgiebig und überzeugend. 

Und die meisten denkenden oder mitdenkenden Zeitgenossen wissen ohnehin Bescheid, auch wenn sie es nicht zugeben beziehungsweise durch ihre famose Existenz als Entscheidungs­träger und Entscheidungs­blockierer daran gehindert werden, es zuzugeben.

(Sie bekämpfen uns bei Tageslicht als Radikale und Traumtänzer, reden von Sachzwängen oder vom Prinzip Pflicht, und gestehen uns spätabends, ins vierte oder fünfte Bier weinend, daß wir alle Gefangene des Systems seien.)

Einen Vorteil, vielleicht einen entscheidenden, hätte dieser Umsturz, einen Vorteil, über den bisher nur andeutungsweise die Rede war: Unser Leben würde ärmer an Gütern, aber würdiger.

Nun ist WÜRDE ein schwieriges Wort — und furchtbar leicht zu mißbrauchen. Dennoch ist es nützlich, vielleicht sogar unentbehrlich, weil es eine kulturelle Vermessung des menschlichen Lebensgeländes erst möglich macht. Jüngst hat ein vieldiskutierter deutscher Autor eine bettelnde Zigeunerin würdevoll und die meisten seiner herausgefressenen Landsleute würdelos genannt; man spürt ziemlich genau, was er meinen könnte, aber der Teufel der Definition steckt auch hier im Detail.

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Da wäre, zum Beispiel, rückzufragen: Kommt sich die bettelnde Zigeunerin selbst würdevoll vor? Zwangs­läufig wirkt und wird jeder Mensch würdiger, wenn er unter dem Druck schlimmer Verhältnisse steht und dabei nicht völlig würdelos wird; ja, man kann eine Definition, die Ernest Hemingway einmal auf den Mut angewandt hat, auf den Begriff der Würde übertragen: grace under pressure — Anmut unter Druck.

Aber das schiebt die Grundfrage nur ein Wort weiter — in die Beschreibung oder Umschreibung der Anmut.

Die schwarze verkrümmte Greisin, die auf der steinernen Schwelle ihres mittelmeerischen Hauses hockt; warum wirkt sie auf viele von uns würdiger als die fesche blaugetönte Oma im Freizeitlook? Oder, noch schärfer und schonungsloser heraufgerufen: Was unterscheidet den alten Indianer, der sich freiwillig zum Sterben (das heißt zum Hungertod) in eine Mesa-Höhle zurückzieht, von dem einsamen Neunzigjährigen, der mehr oder weniger betreut, mehr oder weniger weggewünscht, in einem voralpenländischen geranien­geschmückten Pflegeheim erlischt?

Rasches Gefühlsurteil ist hier verlockend. Aber lassen wir uns nicht hastig auf Nostalgie oder Kultur­pessimismus ein — gerade nicht bei einem so mächtigen und so verhüllten Zentralgegenstand! Wenden wir uns zunächst (obwohl es nicht das oberste Problem dieses Kapitels ist) dem zu, was man im Mittelalter die ars moriendi, die Kunst des Sterbens, genannt hat!

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Und da können wir sicher sein, daß es wenige Kulturen gegeben hat, die so verdruckst und ratlos mit dieser Kunst umgegangen sind wie die unsere. Bis vor wenigen Generationen war der Tod (wenn nicht eine Gottestat den Übersprung ins Massensterben erzwang) eine feierliche und umständliche Angelegenheit; der Mensch (oft auch der junge Mensch) "fühlte sein Ende nahen" (ein Ausdruck, unter dem wir uns schon fast nichts mehr vorstellen können) und versammelte die Seinen ums Sterbebett, für ein letztes und den Letzten Dingen zugewandtes Gespräch in wort- und tränenreicher Trauer.

Der Tod wurde als Ritus des Übergangs gesehen und (sagen wir's) gefeiert; noch heute beten sehr alte fromme Menschen um eine glückselige Sterbestunde — und wünschen sie in Geburts- oder Namenstags­briefen ihren Freunden und Verwandten. Den Tod, der heute wohl von den meisten als der glücklichste bezeichnet und gefühlt wird (ein Herzschlag im Schlaf, eine plötzliche Embolie, ein rascher Unfall ohne nachfolgendes Leiden) hätten und haben diese abendländischen Sterbekulturen als eine persönliche Katastrophe empfunden, fast als eine Strafe des Himmels.

Heute neigen wir zur Vertuschung, zur Lüge, und damit zur wahren Würdelosigkeit des Sterbens. Seine "Medikalisierung", wie ein kluger Franzose das genannt hat, bringt fast zwangsläufig Zeremonien der falschen Ermutigung, der mehr oder weniger herzhaften Camouflage mit sich, in denen Ärzte, Verwandte und der Todgeweihte (man ist versucht zu sagen der Delinquent) einträchtig zusammenwirken.

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TOD ist in solchem Zusammenhang so etwas wie ein peinliches Stoffwechselgeschäft; er findet grundsätz­lich in der Klinik statt, seine Endgültigkeit wird durch Maschinen festgestellt, deren Oszillations­zacken in Geraden auslaufen. Das corpus delicti, der Leichnam, wird dann zwecks Freimachung eines begehrten (und gewinn­trächtigen) Bettes in eine geflieste Kellerkammer abgeschoben. Wer mehr Drama sucht, ist wohl auf das Ende eines Motorrad-Irren angewiesen, dem nach vierstündiger Operation und Entfernung der halben Innereien nicht mehr zu helfen ist.....

Der innere Zusammenhang mit der wachsenden Gewaltförmigkeit unserer Umgangsformen und unserer Spektakel, einschließlich Erotik und Schwarzer Messen, ist lächerlich klar: Unter den Betondecken unseres Bewußtseins bilden sich wegen solchen Verfalls der Sterbenskunst allemal Faulgase, die unser seelisches Bodenleben auf ihre Weise bereichern, das heißt vergiften.

 

Aber lassen wir uns durch offensichtliche kulturelle Gebrechen nicht ablenken, sondern zwingen wir uns in die Kernfrage zurück. Stellen wir möglichst klar nochmals fest, worum es geht, gehen muß:

Durch zwei Entwicklungen ist die Menschheit in eine Sackgasse geraten, aus der sie einen Ausweg zu finden hat. Diese beiden Entwicklungen sind die beschleunigte Bevölkerungsvermehrung und eine wachsende künstliche Energiefreisetzung mit dem Endeffekt der Herstellung eines Müllplaneten.

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Sie sprießen letzten Endes aus der gleichen Wurzel: dem blinden Streben des B&S-Programms nach Sicherung, Vermehrung und Verstetigung unserer Art. Durch unseren "überorganischen Faktor" und seinen siegreichen Kampf gegen die alten Taten Gottes ist ein Gleichgewicht aufs gefährlichste gestört, das wir, wenn überhaupt, nur durch unsere eigenen kulturellen Anstrengungen wiederherstellen können. Mit anderen Worten, wir haben eine Kultur (oder mehrere Kulturen) zu entwerfen, in denen sich ständige Erneuerung menschlichen Lebens und Verweigerung, Minderung, Begrenzung des blinden Lebensdrangs, also TOD, die Waage halten.

 

Vor einem hartnäckigen Trugschluß, der wohl bis in die Zeiten des Schwärmens für den edlen Wilden zurückgeht, sei hier ausdrücklich gewarnt. Was erforderlich ist, ist kein natürliches Programm. Es gibt keine natürlichen Programme für den Homosapiens, der ja gleichzeitig der Homodemens ist. Der bewußte Versuch einer Art, ihr eigenes Weiterbestehen durch kulturelle Mittel zu sichern, was nur im totalen Gegensatz zum B&S-Programm möglich ist, ist alles andere als ein "normaler" Vorgang der Evolution. Er ist vielmehr ein unerhörtes Wagnis — ein Wagnis, dessen notwendigen Umfang wir bisher nicht begriffen haben, weil wir ihn (noch) nicht begreifen mußten.

Gibt es für dieses Wagnis eine Weisung, einen neuen kategorischen Imperativ, der unser Verhalten in dieser Welt- und Erdkrise des ausgehenden Jahr­tausends gültig vorschreiben könnte — uns und unseren Kindes­kindern, die längst in diese Aufgabe der Welter­haltung einbezogen sind?

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Nun, es gibt mehr als genügend. Es gibt Dutzende von Veröffentlichungen philosophischer, theologischer, ethischer Art, die genau diese Frage beantworten — oder doch zu beantworten glauben; Veröffentlichungen, über denen teilweise erlauchte Namen stehen. Woher immer sie kommen; wie immer sie ihren Imperativ begründen — er läuft fast regelmäßig auf den Satz hinaus: Handle so, daß du die Erde den kommenden Generationen ohne Minderung oder Beeinträchtigung ihres Lebensreichtums hinterläßt!

Der Satz ist korrekt, ist logisch erarbeitet — dennoch: Welcher Mangel an Kenntnissen über die Welt und ihr Weben spricht aus ihm! Niemand, wirklich niemand auf Erden ist zur Zeit imstande, ihn einzulösen, nicht einmal ein Kindlein an der Mutterbrust. (Höchstens gibt es Verhungernde in afrikanischen Flüchtlingslagern, die halbwegs und sehr unfreiwillig an die Forderungen herankommen.) Wären wir 400 oder 500 Millionen Menschen auf Erden statt 6 Milliarden, könnten wir uns knapp mit diesem Imperativ einrichten, denn das stetige Einkommen aus der Sonnenergie würde unsere Entnahmen aus der organischen und anorganischen Welt sicherlich ausgleichen.

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Aber wie die Dinge heute zwischen uns und der GAIA stehen, ist eine auch nur auf wenige Generationen berechnete Nachhaltigkeit noch sehr, sehr weit entfernt, und sie zu erreichen (falls wir das wollen), wird noch sehr, sehr ernste Fragen aufwerfen — Fragen, die mit dem fleißigen Einsammeln von Aluminium­dosen und der Konstruktion von Sparmotoren noch lange nicht beantwortet sind.

Hier ein Beispiel, das ich sehr lehrreich fand:

Vor etwa zwanzig Jahren brach die erste große und vielbeachtete Dürre über die Sahelzone herein. Solche Katastrophen waren damals noch ungewöhnlich, und eine breite Flut von Hilfsbereitschaft brach in Europa und Amerika aus, lancierte ganze Getreideflotten für den ärgsten Hunger, die Westafrikas Häfen anliefen. Dort an den Kais warteten still und geduldig, in ihre weißen Burnusse gehüllt, die Nomaden aus dem Inneren zu Tausenden auf die rettende Fracht.

Da erschien in der evangelischen Zeitschrift Radius ein Aufsatz zu dem Thema, der, soweit ich mich erinnere, den Titel "Kurz- oder Langzeitethik" trug. Der Autor (einer der selbstlosesten Menschen, die ich je kennen­lernte) schrieb darin leidenschaftlich gegen diese Art von Hilfe an — ja, gegen die Praxis der Hungerhilfe überhaupt. Falls sich das einbürgere, so argumentierte er, und falls diese Dürre anhalte oder sich noch ausweite, würden immer mehr Nomaden ihre kärgliche Heimat für immer verlassen — oder würden auf jeden Fall wesentliche Geschicklichkeiten verlieren, mit ihrer Kargheit umzugehen.

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Damit wäre eine Weltgegend vom Menschen aufgegeben, ein Kulturmuster (sozusagen ein kultureller Schöpfungs­gedanke) wäre verschwunden. Während also die christliche Kurzzeitethik die Entsendung von Getreideschiffen gebieterisch verlange, lasse eine auf Nachhaltigkeit angelegte Langzeitethik genau diese Hilfe nicht zu.

 

Es ist dies ein Argument, das weiß Gott über den Grenzstrich geht. Ja, es überholt einen anderen berühmten Imperativ: "Schenke dem Hungrigen keinen Fisch, lehre ihn fischen!" Es fordert insgesamt (und, was zunächst irritierender ist, für eine ganz bestimmte Weltgegend) die Anerkennung einer Leben/Tod-Balance. Ist es denn vorstellbar, daß wir einem solchen Argument folgen?

Nun, die Art, sozusagen die Klasse solcher Argumente hat sich inzwischen kräftig entwickelt und verzweigt. Eine ganze Generation von großmütigen und selbstlosen Helfern der ersten Stunde ist dahin, teilweise zynisch und verbittert ausgestiegen; und der naive Techniktransfer ist unter Totalverdacht geraten. Durch böse Erfahrungen hat man gelernt, besser mit der tückischen Welt der negativen Rückkopplungen umzugehen. Man stellt etwa fest, daß ein großer Teil der schnelleren Verwüstung wasserarmer Gebiete auf das Bohren von Tiefbrunnen zurückgeht (sie werden von riesigen durstigen Herden aufgesucht, die in breiten Schwaden ringsum die Erde festtrampeln). Man entdeckt die Anfälligkeit gewaltiger Aufforstungen mit exotischen Monokulturen (etwa im schottischen Hochland) und noch vieles andere mehr.

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Und immer, das ist unausweichlich klar, geht es um Leben und Tod. Es gibt kein Argument für oder gegen das Leben, das nicht gleichzeitig ein Argument für oder gegen ein bestimmtes Verhältnis zum Tode wäre.

Wenn etwa eine (sagen wir die katholische) Kirche ein Lebensrecht der Tiere an sich, ohne unmittelbaren Nutzbezug auf den Menschen, feststellt, kann sie nicht gleichzeitig für eine weitere Vermehrung der Menschheit eintreten — selbst wenn, wie ein polnischer Kardinal gesagt haben soll, noch so viel Platz im Himmel ist.

Und wenn die gleiche Kirche den Liebesakt grundsätzlich offen für die Zeugung hält oder halten will und dies mit dem Naturrecht begründet, hat sie gleichzeitig gegen das bisher Erreichte in der Humanmedizin Stellung zu beziehen, damit die Natur auch das Recht auf der anderen Seite der Waagschale, nämlich das Recht zurückerhält, zumindest zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel des Nachwuchses vor dem Erreichen der Geschlechtsreife — durch eine der alten Taten Gottes aus dem großen Weltverkehr zu nehmen. Alles andere ist krasse Inkonsequenz.

Natürlich ist nicht im geringsten zu erwarten, daß Rom für die Abschaffung der Humanmedizin kämpft. Es wäre dies mit der Würde des Menschen, mit einem immerhin schon erreichten Weltethos nicht mehr vereinbar. 

Aber wie zwieschlächtig diese Würde ausgelegt wird, ausgelegt werden kann, läßt sich am Beispiel einer römischen Intervention sehr gut darstellen — und zwar an der Aufnahme, welche die Enyzklika <Humanae Vitae> des Papstes Paul VI. in Europa und in Lateinamerika gefunden hat.

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Bekanntlich hatte diese Enzyklika, in der zum ersten Mal vom obersten Lehrstuhl her fast alle technisch-chemischen Möglichkeiten der Geburten­beschränkung verurteilt wurden, unter den europäischen Katholiken höchsten Unwillen ausgelöst. Man empfand die römische Einmischung als einen Angriff auf die selbst­verantwortete und selbstgewählte Lebensgestaltung, geradezu auch als Angriff auf die persönliche Würde.

Ganz anders in Lateinamerika, wo sie breite und begeisterte Zustimmung fand. Dort hegte man nämlich höchstes Mißtrauen gegen die bevölkerungs­politische Einmischung des Nordens, die man als den Versuch beargwöhnte, die Welt der Armen am Aufstieg zu Eigenmacht und Eigenwürde zu hindern. Der Papst galt fortan als Verbündeter gegen solche Aggression.

 

WÜRDE ist also kein Maßstab, der unabhängig von der jeweiligen Befindlichkeit einer Kultur, einer Region, angewandt werden kann. Wo und wie ist ihr also Platz zu schaffen? Wie und wo hört sie auf — bei zweihundertfünfzig Menschen auf den Quadratkilometer, bei tausend, bei achttausend? Ist sie unantastbar bei einem Pkw auf dreißig Menschen, auf zwei — bei einem Menschen auf eins Komma sieben Autos? Wo bleibt die Würde im Rinnstein von Kalkutta? Wo die der alten Frau, die mitten in ihrem ostbayrischen Dorf die Bundesstraße 12 überqueren will und nicht kann? Ist der Rinnstein von Kalkutta der Unwürde freigegeben? Und ist das Nichtkönnen der Greisin vielleicht die Art Druck, die ihr Anmut verleiht?

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Und beachten wir: 

Der Mensch — vor allem der männliche — ist seit Jahrtausenden darum bemüht, gewissen Arten des Todes den Glanz besonderer Würde zu verleihen (oft sehr schlechten Arten). Er war bereit, zur Nahrungsbeschaffung für Huitzilopochtli zu töten und zu sterben, für die Reinheit der Lehre; für den König von Preußen; für einen Orden; für den Besitz eines Wasserlochs. (Der Letztgenannte war wohl noch der reellste von allen.) 

Und bei der Würde-Verleihung für solche Tötungs- und Sterbensarten kam und kommt es oft zu den merkwürdigsten Rangordnungen.

Für den Dichter der <Ilias> gibt es nichts Gewaltigeres als Kampf und Sterben auf der Walstatt; und dennoch beweint sein Achilleus zusammen mit König Priamos, dem Vater seines Opfers, das Menschenlos unter den finsteren Schwingen der Moira, des unpersönlichen Schicksals. Aber zu Anfang des 19. Jahr­hunderts hat der stockkonservative und scharfsinnige Joseph de Maistre ein brillantes Lob des Henkers verfaßt und es als völlig unsinnig bezeichnet, daß sein Name und Handwerk von Schande, die der Herren Offiziere aber von hohem Ruhm bedeckt seien. 

So zieht sich die Fragespur nach Sinn und Würde des Todes, ja des Tötens durch die Jahrtausende der Kunst und der Weltliteratur, bis in ihre heutigen Endspiele.

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Um so merkwürdiger ist es, wie vorsichtig der Tod und das Sterben in den meisten Schriften der Ökophilo­sophen umschlichen wird. In vielen dicken Büchern - gerade auch der Deep Ecology - wird man vergebens nach dem Stichwort TOD im Index suchen. Höchstens wagt man sich an die Anmut der Tiere heran, an den Tanz von Jäger und Beute, oder, ganz trockene Nüchternheit, an die Energiebilanzen von Opfer und Räuber. 

Viel unerschrockener redet da die Bibel — die sehr genau hinschauenden Texte der Weisheit und des Buches Hiob etwa; im Niederstürzen des Baums, im tödlichen Stoß des Falken, im plötzlichen, vom schmetternden Licht der Wahrheit erfüllten Sterben der Motte taucht auf jeweils eigene Art, flüchtig-huschend, immer wieder sich entwindend, aber immer wieder aus den Augenwinkeln wahrnehmbar, die nie ganz besiegte Würde auf.

Die gälte es zu entdecken — für uns alle. 

Das ist keine Kopfarbeit, jedenfalls keine Kopfarbeit allein. Dem ist standzuhalten, und dies ist auszuhalten. Dies ist der Fluchtpunkt, auf den letzten Endes alle Philosophie, aller Glaube zulief und zuläuft. Dahin waren wir sofort unterwegs, als wir den Grenzstrich überschritten haben. Sollten wir, das heißt die Menschheit, tatsächlich durchs Unvorstellbare, durchs Unvorhersehbare und Unabsehbare hindurch eine Zukunft erreichen, und zwar eine Zukunft, die etwas anderes ist als jammervolle Barbarei, dann, nur dann, wenn sie sich erfolgreich mit dem Leben/Tod-Gedanken auseinandergesetzt hat. Erfolgreich — das heißt sicher nicht, daß sie den Tod abgeschafft, verdrängt, abgeschaltet hat, im Gegenteil.

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Wenn die zukünftige Welt bewohnbar sein soll, muß sie fehlerfreundlich sein; und was heißt das anderes, als daß sie vielfältig sein muß? Das notwendige Straucheln und Irren, das nicht ins Verderben, sondern in immer neue Lösungsversuche münden muß, findet am besten in einer Welt vieler bunter Kulturen statt; Kulturen, die nicht im Glashaus gezogen werden können, sondern die auf vielfache Weise in den Mutterböden der geschichtlichen Vergangenheit wurzeln. Und viele dieser Wurzeln werden alte Traditionen, alte Worte, alte Bilder sein — ganz neu gesehen wie jede Tradition, die durch neu hinzukommende Tage und Werke verändert wird, zwangsläufig verändert wird.

So wäre es nicht nur vermessen, sondern ziemlich lächerlich, hier Soll-Vorschriften für künftige GAIA-freundliche Kulturen zu erlassen. 

Die große Frage lautet: Wer oder was kann unseren Fuß dahin leiten? Wo findet sich in dieser teils gleichgültig-kalten, teils schon von Panik erfüllten Welt des B&S-Programms die mehr oder weniger enge, mehr oder weniger verhüllte Pforte des Übergangs?

Die Politik wird es sicherlich nicht sein; ihre weißgetünchten Leichengruben halten höchstens die dümmsten Motten für einen Himmel. Sicher, es gilt politisch zu arbeiten, und zwar massiv. Aber dies wird um so eher möglich sein, je sicherer wir uns des Wegs zur Pforte und durch die Pforte sind. Und diese Sicherheit muß aus einem möglichst weiten, möglichst wirksamen Konsens kommen. Wir müssen als erstes entscheiden, daß sich die Arbeit für die Zukunft lohnt (wir wissen, daß diese Entscheidung vorläufig die einer Minderheit ist), und wir müssen zweitens dafür sorgen, daß sie auf eine Zukunft in Würde gerichtet ist.

Also auf eine Zukunft nicht in dumpfer kreatürlicher Angst, nicht in zähneknirschender Unterwerfung unter eine brutale Ökodiktatur oder ein unbewußt zynisches <planet management>, ohne Verzicht auf die Souveränität des Menschen, auf die in Jahrtausenden der Kulturgeschichte errungene Vielfalt der Möglichkeiten.

Aber ist das alles nicht doch gegen die menschliche Natur? 
Ist diese Natur in der Lage, sich der tödlichen Gefahren des B&S-Programms zu entledigen?

Die erste Antwort, eigentlich nur die Voraussetzung zu einer Antwort: 
Die Naturwissenschaften machen es immer deutlicher, was wir uns nicht mehr leisten können. Aber sie können uns natürlich nicht sagen, wo wir einen Sinn für eine bewohnbare Zukunft hernehmen sollen. Wiederholen wir, um diese Erkenntnis reicher, die Frage von neuem: 

Welche Bestimmung, welche causa finalis - im Sinne der alten Philosophie - vermag der Mensch, vermögen wir aus diesen strengen Voraussetzungen abzuleiten? 

Davon allein hängt es ab, ob wir uns den riesenhaften Mühen unterziehen wollen.

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