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Carl AmeryHitler als VorläuferAuschwitz - der Beginn des 21. Jahrhunderts?
1998 bei Luchterhand |
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1998 190 Seiten *1922 DNB.Buch (4 mit 2 Ü)
detopia: |
Inhalt Inhalt DNB pdf
1 Dracula im Keller oder Die große Verlegenheit (9)
2 Programm und Einlösung oder Was nicht so wichtig ist (17)
3 Das dunkle neunzehnte Jahrhundert oder Der Sieg der Volksaufklärung (21)
4 Wien und München oder Der amputierte Führerfisch (47)
EXKURS 1 - Wie dämonisch war Hitler? (51)
5 Der Fixpunkt oder Die grausame Königin aller Weisheit (59)
EXKURS 2 - Hitler und das real existierende Christentum (77)
6 Die vier Wege oder Die barbarische Quadratur des Kreises (89)
7 Die Shoah oder Der Große Plan wird umgesetzt (105)
EXKURS 3 - Hitler und die jüdisch-christliche Botschaft (124)
8 Das große Moratorium oder Freiheit von Furcht und Not (129)
9 Rückstände oder Er bleibt populär (147)
10 Planet-Management oder Die Globalisierung der Hitlerformel (163)
11 Zusammenfassung: Der große blinde Fleck (187)
Ein Lesebericht von Ludger Luetkehaus
In die Zukunft mit Hitler? Carl Amerys düsterer Blick auf das 21. Jahrhundert
DIE ZEIT 01/1998 zeit.de/1998/01/Schwarze_Metaphysik + PDF
Es ist erstaunlich, was alles man in einem Essay unterbringen kann: Auschwitz, die Geschichte, die Aufklärung und den Fortschritt; Hitler und das 21. Jahrhundert; die Eugenik und den Genozid; die Globalisierung und den neuen Rassismus; den jüdisch-christlichen Humanismus, das Böse und die heidnische Barbarei; das Prinzip Nachhaltigkeit und die ökonomische Wüste; die ökologische Jahrtausendfrage und das Planet-Management.
Themen ohne Raum, das gibt es jedenfalls in Carl Amerys Essay Hitler als Vorläufer nicht. Gelegentlich spricht Amery auch von einer "Kampfschrift". Aber das ist der hochgradigen Verdichtung nicht hinderlich gewesen.
Grob vereinfacht, skizziert Amery in den ersten Teilen seines Essays eine Geschichtspathologie vor allem des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Fortschrittsideologie, das Umschlagen der Aufklärung in Gegenaufklärung, auf Vulgärmaterialismus, Sozialdarwinismus und Eugenik konzentriert.
Dieser Teil ist wenig originell und muß sich die bekannten Einwände gegen die langsam zu Ende diskutierte Phrase von der "Dialektik der Aufklärung" gefallen lassen: daß es eben nicht die Aufklärung ist, die da zur Gegenaufklärung wird, sondern eine irrationalistisch verkürzte "Aufklärung", die um ihren originärsten Impuls gebracht ist. Voltaire ob seiner antinegroiden Ressentiments mit Hitler gleichzuschalten gestattet eine provokative Pointe, mehr nicht.
Auch der Versuch, Hitler in diesem "dialektischen" Zusammenhang als Erben einer entfesselten Moderne zu verstehen, unterliegt demselben Einwand. Zumal die politische Religiosität Hitlers, die neuerdings wieder verstärkte Betrachtung findet, dem Bild eines atheistisch und materialistisch entfesselten neuheidnischen Barbaren widerspricht. Amery selbst zitiert es: Hitler begreift sich durchaus als Arbeiter im Weinberg des "Herrn" - nur daß dieser Weinberg bei ihm das Aussehen einer Schädelstätte erhält.
Um so faszinierender Amerys Rekonstruktion von Hitlers "schwarzer Metaphysik", die einer präzisen, zugleich überaus spannend zu lesenden Neulektüre von <Mein Kampf> folgt. Eigentlich ist es eine psychologische "Metaphysik" - Hitlers mörderisch gewendeter Familienroman. Was an Amerys Analyse mythologisierend wirken könnte, verdankt sich Hitlers eigener Mythologie. Die "Natur" ist darin die "grausame Königin aller Weisheit", der "göttliche Wille" des "Allvaters", während der satanisch-böse Feind frommen Angedenkens in Hitlers paranoidem Weltbild als tödlicher jüdischer Bazillus zirkuliert.
"Unerbittlich rächt die ewige Natur die Übertretung ihrer Gebote" - so unerbittlich, daß bei einem Sieg "des Juden" die Menschheit im Ganzen untergehen und "wie einst vor Jahrmillionen" ein menschenleerer "Planet durch den Äther ziehen wird": Hitler als Apokalyptiker, als Prophet. Übertreten werden aber die Gebote der Natur, wenn ihr "aristokratisches Prinzip" negiert wird und die von ihr eigentlich zur Herrschaft berufene Rasse dem "jüdisch-marxistischen Bazillus" erliegt.
Hitler versteht sich als Akteur in einem Menschheitsdrama, in dem sich der Kampf ums Dasein vorab geopolitisch abspielt: als Kampf um den Lebensraum. "Es ist nicht genug für alle da", lautet im Gegensatz zur marxistischen Lehre Hitlers unfrohe Botschaft. Insgesamt vier Wege zur Regulierung und Behebung der Knappheit diskutiert er: die künstliche Geburtenkontrolle; die innere Kolonisation; Industrie und Handel; schließlich - und das ist sein Weg - den Erwerb neuen Raums für das "Volk ohne Raum", der freilich nicht ohne Umverteilung in den alten Räumen und die dafür erforderliche Selektion möglich ist. Konzentrationslager hier schaffen Raum da - das ist die Lösung, zu der Hitler sich von seiner "grausamen Göttin" inspirieren läßt.
So weit, so monströs. Doch eben in Hitlers geopolitischem Knappheitsszenario, in dem nicht genug für alle da ist, in seiner Apokalypse eines "menschenleeren Planeten" und seinen biopolitischen Selektionsvorstellungen, kurz: in der "Hitler-Formel" liegt für Amery seine fatalste Zukunftsbedeutung, die ihn zum Vorläufer, zu einer Art antihumanistischem Johannes des 21. Jahrhunderts machen soll.
Das bislang in der Deutung Hitlers und des Nationalsozialismus dominierende genealogische Interesse tritt hinter einem prognostischen zurück.
Das schließt freilich ein, daß Hitler in gewissem Umfang ein tatsächlich zukunftsträchtiger Problemhorizont zugebilligt wird. Natürlich liegt es Amery völlig fern, Hitler irgendwie zu nobilitieren. Er ist alles andere als ein Sympathisant dessen, was er analysiert. Aber manchmal spricht auch der Interpret unversehens mit der Stimme der "grausamen Königin aller Weisheit", die den "Selektionsprozeß gegen unsere Spezies eingeleitet hat", zumal wenn es darum geht, den "sorglosen Nießbrauch der Erde durch die lebende Generation" und die zwanghafte globale Wachstumsökonomie als "Verbündete der Wüste", als apokalyptische Wegbereiterin des "menschenleeren Planeten" zu attackieren.
Die Umwidmung des eigentlich ökologischen Begriffs der "Nachhaltigkeit", des schillerndsten dieses Essays, ist dabei irritierend genug: Hitler wird ein Interesse an "Nachhaltigkeit" nachgesagt, was fürwahr nur in einem "selektiven" Sinn richtig ist: Auf das Zuviel (an Menschen) und das Zuwenig (an Raum, an Ressourcen) reagiert er mit der Selektion zwischen nachhaltigkeitswertem und -unwertem Leben, mit Eugenik und Euthanasie, Versklavung und Völkermord.
Die Bedingungen aber, unter denen künftig eine (Wieder-)Anwendung der "Hitler-Formel" möglich oder sogar wahrscheinlich ist - die Krisenerfahrung der Knappheit und die Verwerfung humanistisch-"unrealistischer" zugunsten barbarisch-"realistischer", selektiver Lösungen - sieht Amery für durchaus gegeben an.
Von der "Hitler-Formel" zum "Planet-Management" droht der geschichtliche Weg zu führen.
Amerys Essay ist dagegen geschrieben: als Prävention. Aber es ist die Frage, ob er nicht in der Diagnostik und Prognostik erheblich zu weit geht.
Gewiß, es fehlt nicht an Anzeichen, die in die skizzierte Richtung deuten. Seitdem die Naturgeschichte der Menschheit im Zeichen des Genom-Projekts vollends in eine wissenschaftlich-technische Geschichte übergeht, ist klar: Es wird "selegiert" werden - nach welchen Maßstäben, ist die bedrohliche Frage. Die für Hitler so charakteristische Verbindung brutalster Modernisierung mit ideologischer Regression und antihumaner Barbarei könnte sich tatsächlich als zukunftsträchtig erweisen.
Dennoch tut die Deutung Hitlers als Vorläufer ihm - selbst unter negativem Vorzeichen - zuviel der Ehre an. Die "Menschheit", deren "Totenkranz" in <Mein Kampf> das Menetekel ist, hat ihn nie als solchen interessiert. Das "für alle", für die es "zuwenig" sein sollte, meinte immer nur das Volk mit zuwenig Lebensraum. Die Selektion als Lösungsvorstellung war schon Hitlers Diagnose eingeschrieben. Und auch seine Apokalypse des menschenleeren Planeten war nicht auf eine ökologische Katastrophe bezogen, sondern auf das Ende dessen, was er für die Naturordnung hielt.
Außerdem muß man schon sehr viele Prozesse der Gegenwart mit Amerys Refrainwort "Selektion" etikettieren, um sie mit Hitlers Begriff gleichschalten zu können: die "Selektion" von Arm und Reich, Erster, Zweiter und Dritter Welt, Alt und Jung, Gesund und Krank, Dazugehörig und Fremd und so weiter. Der Eugeniker Hitler wiederum war strikt gegen die "künstliche" Geburtenkontrolle - die Wissenschaft heute ist es wohl kaum. Hitlers "Selektion" hatte alles in allem einen sehr viel engeren und eben deswegen mörderischen Sinn.
Die Lage der Zukunft ist undurchsichtiger - zu undurchsichtig, als daß man sie im Zeichen Hitlers erhellen könnte, was sie freilich nicht harmloser macht.
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