4 Die Reichsreligion
Rede vor Freimaurer-Loge -Zur Kette- am 22.04.2002 - Amery
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Vor kurzem erschien auf deutsch ein Buch des eminenten US-amerikanischen Zoologen Edward O. Wilson mit dem Titel <Die Zukunft des Lebens>. Es ist ein umfassender Report über den Stand der natürlichen, das heißt der biosphärischen Dinge - und der Report ist höchst alarmierend. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß er das eben angebrochene Jahrhundert, das 21., als den schlechthin unvermeidlichen ökologischen Engpaß in der Verzahnung von Natur- und Menschengeschichte sieht.
Wenn es der Weltzivilisation erlaubt wird, so weiterzulaufen wie bisher (und es spricht vorläufig wenig dafür, daß sie ihren Kurs ändern wird), wird es zwar am Ende des Jahrhunderts noch erhabene Schneegipfel geben (wenn auch nur halb so viele wie bisher), es wird brandungsgepeitschte Klippenküsten, weiße Wasserfälle geben — aber das, was einst spontanes Leben darauf und darin war, ist so gut wie geschwunden.
Kultursteppe, Baumplantagen, Siedlungen, Fabrikkomplexe, Straßen, Flughäfen — technisch-industrielle Infrastruktur: Nur noch eine bis aufs Blut geschundene Natur wird übrig sein. Die Urwälder werden verschwunden sein, und mit ihnen die so genannten Hot Spots der biologischen Vielfalt, wo sich die Mannigfaltigkeit der Arten drängt. Der Zustand von Flüssen, von Korallenriffen, von Flußsystemen wird schwerkrank, wenn nicht todkrank sein. Nur winzige Überbleibsel werden noch an die majestätische Vielfalt erinnern, wie sie etwa Alexander von Humboldt oder der leidenschaftliche amerikanische Naturfreund und -schilderer Edward Muir erlebten.
Geben wir es zu, meine Damen und Herren: wenn wir solche Kunde vernehmen, werden wir sicherlich traurig, fühlen wir, mit den gemütvollen Resten ästhetischer Weltsicht, über die wir noch verfügen, etwas wie kosmischen Verlust, etwas wie Erschrecken vor einem kollektiven Frevel. Was wir jedoch nicht oder nur höchst selten fühlen, ist der hundsgemeine Schrecken, die körperliche Panik, die solcher Nachricht mindestens so angemessen wäre wie etwa die Panik beim Angriff auf die Twin Towers.
wikipedia Terroranschläge_am_11._September_2001 Edward Wallace Muir – Wikipedia
Wilsons Mitteilung bedeutet nicht nur, daß tausende, zehntausende von Gottesgedanken neben, über, unter uns aus der Welt verschwinden, so wie wir sie kennen (oder vielleicht überhaupt noch nicht kennen, denn mindestens die Hälfte der Lebensformen der Urwälder ist noch unerforscht und unbekannt); es bedeutet ganz schlicht, daß das Überleben unserer Menschenart selbst, zumindest das Überleben in einigermaßen lebbaren Umständen, aufs höchste gefährdet ist: es geht nicht nur um das Sumatra-Wollnashorn oder den oder jenen Schmetterling, es geht schon um unsere Kinder, bestimmt aber um unsere Enkel, um Max und Kevin und Tamara und Judith; um ein Leben für sie, das sich noch als würdevolles Leben in einer bewohnbaren Welt beschreiben läßt, und das wir ihnen weder durch fette Erbschaft noch durch weise Sozialgesetze mehr sichern können.
Zwei Fragen stellen sich damit ganz unmittelbar — die erste: wie konnte es zu diesem gefährlichen Weltzustand kommen? Und die zweite: warum werden wir seiner so schwer, wenn überhaupt gewahr? Warum steht er nicht im Mittelpunkt aller nationalen, kontinentalen, globalen Überlegungen, wo er, jedem gesunden Menschenverstand nach, ständig präsent sein und ständig bedacht werden müßte? Warum beherrscht er nicht die Parlamentsdebatten, warum haben sich vor seiner schrecklichen Erhabenheit nicht schon eine Menge individueller und kollektiver Egoismen verflüchtigt?
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Nun, man kann gelegentlich hören oder lesen, daß eine spezielle Grüne Partei heutzutage nicht mehr nötig sei, weil der Umweltgedanke längst alle anderen Parteien und die ganze Öffentlichkeit ergriffen habe; ja, es gibt schon Leute, die lautstark von Öko-Terror, Öko-Lüge, Machthunger der Umweltmafia reden.
Nichts ist unrichtiger als das.
Was wir (hierzulande, im satten Westen) mit Müh und Not erreicht haben, ist eine kleine Dependance, ein kleiner Anbau von Maßnahmen und Behörden, die das so genannte <Politikfeld Umwelt>, ein winziges Schrebergärtlein, betreuen. Manches an dieser Betreuung ist sinnvoll, manches unsinnig, das Meiste hat den Charakter des Ablaßhandels; von einer zentralen oder auch nur halbwegs angemessenen Bedeutung dieser Alibi-Veranstaltungen kann keine Rede sein. Und im internationalen Bereich ist es kaum anders; die Architekten der paar Abkommen, die wenigstens in die richtige Richtung weisen, geben selbst zu, daß von einer wirklichen Effektivität keine Rede sein kann; das Bossihemd der Wohlstands-Interessen ist allemal noch näher als der grüne Rock.
Im Zentrum aller öffentlichen Aufmerksamkeit und (mehr und mehr) aller Politik steht offensichtlich und entschieden die Wirtschaft, und diese Zentralstellung hat sie in den letzten Jahrzehnten systematisch ausgebaut. Unsere Art zu wirtschaften wird bestimmt von den Theorien und Praktiken des Totalen Marktes, zu dem es keine Alternative gibt — TINA, there is no alternative. 1989 wurde sozusagen das Siegel auf diese Alternativlosigkeit gesetzt, die, gerade im Zusammenhang mit dem Kollaps der realsozialistischen Häresie, im berühmtesten Titel jener Umbruchsjahre von dem Amerikaner Francis Fukuyama als das <Ende der Geschichte> proklamiert wurde.
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In der Zwischenzeit haben wir das besser gelernt, ein paar ordentliche Sturzwellen von Geschichte sind über uns hinweggegangen, haben, unter anderem, das World Trade Center mitgenommen. Was jedoch blieb und bleibt, ist die feste Überzeugung von der Alternativlosigkeit des Totalen Marktes, der seine Erfüllung in der so genannten Globalisierung findet.
Alternativlosigkeit. Das Wort soll uns nachdenklich machen. Im allgemeinen wird uns ja unsere Welt, die Welt des Wohlstands und der Spaßgeneration, als buntes Neben- und Ineinander von Optionen und Lebensentwürfen, als totale Multi-Kulturalität geschildert, als endgültiges Entrinnen aus allen muffigen ideologischen und überweltlichen Zwängen. Aber übersehen wir nicht, daß die Vokabel »Sachzwang«, die in der Ära Helmut Schmidt kometenhaft emporstieg und seitdem nicht aus dem Zenit unserer Wahrnehmung geschwunden ist, eine solche Gegenwartsdeutung von vornherein verdächtig macht.
Ich bin mit zahlreichen kritischen Zeitgenossen der Meinung, daß sich hinter dieser Vokabel meistens, ja vielleicht immer ein meisterhaft verborgenes Interesse, ja ein zur Ideologie verwobenes Interessennetz verbirgt. Und so tauchen in der Tat mehr und mehr kritische Hinterfrager auf, die nach einer anderen Welt- und Gegenwartsdeutung suchen. In die Gesellschaft dieser Hinterfrager bin ich hineingeraten.
Totaler Markt. Das klingt von vornherein nicht besonders optionsreich, aber selbst seine Befürworter widersprechen dem Wort nicht, wenigstens in der Sache nicht, wenn sie das wirtschafts-journalistische Mantra herunterbeten: there is no alternative — TINA. Und was nun, bei der Suche nach historischen Vergleichsmaßstäben für unsere Befindlichkeit, fast unwiderstehlich auftaucht, ist das Wort Imperium — es wurde und wird zunehmend zur Illustration, ja zur Definition unseres gegenwärtigen Weltzustands verwendet.
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So hat etwa der bekannte deutsche Schriftsteller Mathias Greffrath auf dem ersten Anti-WTO-Gipfel in Porto Allegre Anno 2001 ausdrücklich auf das spätrömische Kaiserreich Bezug genommen — und kürzlich ist ein gewichtiges Buch des Italieners Antonio Negri und des Amerikaners Michael Hardt erschienen, das den lakonischen Titel EMPIRE trägt.
Ich selbst bin dem Terminus auf eine umwegige, aber höchst interessante Art begegnet, über die Fußnote in einem Werk des Theologen Thomas Rüster mit dem schönen Titel <Der verwechselbare Gott>. In dieser Fußnote wurde auf ein Fragment Walter Benjamins aus dem Jahre 1921 verwiesen: <Kapitalismus als Religion>. Dieses Fragment (es sind nicht mehr als zweieinhalb Seiten, die am Ende in reine Stichworte übergehen), ist vermutlich das Profundeste, was je über das Thema geschrieben wurde; aber es ist zunächst ergiebiger, auf das Beispiel des spätrömischen Imperiums selbst zurückzukommen.
Dieses Imperium war höchst tolerant im religiösen Sinne (wie übrigens auch große Imperien Asiens). Man braucht sich nur einmal die Ausstellungsgegenstände des römisch-germanischen Museums in Köln anzusehen, die Weihe- und Grabinschriften, oder das Kartenmaterial im Vorraum des dortigen Prätoriums, um einen Begriff von dieser Toleranz zu bekommen. Uralte römische Kreuzweggeister; griechische, ägyptische, orientalische Kulte und Mysterien der Isis, der Demeter, des Mithras; die geheimnisvollen Drei Matronen der Gallier und natürlich die jüdische wie die christliche Botschaft — da war wirklich etwas für jeden Geschmack, jede Sehnsucht, jeden Trostbedarf zu finden.
Was jedoch die eigentliche Alternativlosigkeit, die eigentliche Allmacht des Imperiums ausdrückte, das war der Kaiserkult. Der Kaiser wurde vergöttlicht — das heißt, nicht eigentlich er selbst, sondern sein Numen, seine Aura gewissermaßen, oder auch sein Geschick, seine Schutz- und Schicksals-Göttin: Numen Caesaris, Fortuna Caesaris.
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Die mußten verehrt werden mit dem bekannten Einwurf des Weihrauchs; das war sozusagen der Verfassungseid des Imperiums. Jupiter, Juno, Apollo — das waren längst wieder Lokalkulte, Markierungen für Staatsfeiertage oder ins künstlerische Repertoire abgerutschte Gestalten.
Nun haben Juden und Christen (wenn sie standhaft waren) diesen Verfassungseid verweigert. Den Juden hat man das noch nachgesehen, weil man ihre eigenständige Volkhaftigkeit respektierte. Aber die Christen erhoben ja ihrerseits universale Ansprüche, und die konnten mit dem Verfassungseid, mit der Allmacht des Imperiums nicht zusammengehen. Die Folgen kennt man aus dem Heiligenkalender. Und ab 312, seit dem Edikt von Mailand des siegreichen Konstantin, änderte sich ohnehin alles, eine neue Alternativlosigkeit wurde proklamiert.
An die Stelle des Numen Caesaris ist in unserem Imperium etwas anderes getreten: das Wertgesetz des Marktes. Das ist zunächst genau so religions-, so transzendenzlos wie ein Kaiser Hadrian oder Commodus; aber es hat schon seine eigene Dogmatik. Sie läßt sich so formulieren: Alles hat seinen Preis, und wenn es noch keinen hat, werden wir einen anhängen. Man nennt das die »Erschließung neuer Märkte« oder auch, in einem weiteren Sinne, Globalisierung.
Und es lohnt sich, hier auf ein paar Beispiele einzugehen.
Da ist zunächst die ganze bunte Welt der sogenannten Dienstleistungen. In traditionellen Gesellschaften hatten die kein Preisschild angehängt — das Haareschneiden war noch keine Kunst, die Sandalen machte der Sandalenmacher, die Tücher für die Kleidung woben die Frauen, genauso wie sie das Essen zubereiteten — undsoweiter. Ein meßbares »Bruttosozialprodukt« entstand auf solche Weise überhaupt nicht. Es geht hier nicht darum, diese Phase der Produktion und Reproduktion zu romantisieren oder zu idealisieren, sondern nur darum festzumachen, was sich seitdem ereignete.
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Im Augenblick will die WTO, die Welthandelsorganisation, die zu einer Art unkontrollierten und unkontrollierbaren Weltregierung geworden ist, eine Runde der Globalisierung einleiten, die sich <Vereinbarung über Transporte und Dienstleistungen> nennt (abgekürzt GATS). Es geht um nichts weniger als die unbeschränkte internationale Handels- (und damit Preis-)konkurrenz aller vorstellbaren Dienstleistungen in Transport (bis hinab zu örtlichen Nahverkehrssystemen), Gesundheitsdienst (mit allen Krankenhäusern usw.), Grundversorgung (etwa Wasser) und Erziehung. All dies soll tunlichst privatisiert und damit natürlich auch profitorientiert betrieben werden.
Was daraus im Einzelnen werden kann oder könnte, zeigte sich bereits in Bolivien, wo die Regierung zunächst die Wasserversorgung einer auswärtigen Firma anvertraute. Das bedeutete de facto ihren Zusammenbruch für die Mehrheit, nämlich für die Armen, die sich die Preise nicht leisten konnten — was zu Revolten führte. Das Abkommen wurde gekündigt.
Es braucht nicht eigens erörtert zu werden, was eine solche Privatisierung etwa im Erziehungswesen bewirken würde. Die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung, heute schon in weiten Bereichen von Sponsoren aus der Wirtschaft relativiert, würde sich selbst für die Grundlagenforschung erledigen. Ähnlich liefe die Gesundheitsfürsorge immer mehr auf eine Zurichtung für den Arbeitsmarkt hinaus.
Hans-Olaf Henkel, hierzulande bekannt als einer der artikuliertesten Sprecher der Industrie, hat schon vor Jahren in einem Zeitschriften-Artikel sein Unverständnis darüber ausgedrückt, daß Forschungsergebnisse, welche mit Geldern der Privatwirtschaft erarbeitet worden seien, auf einmal der Allgemeinheit gehören sollten. Die logische Rendite müßte da doch zunächst vom Geldgeber einbehalten werden dürfen.
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Und damit stoßen wir auf das zweite, präzisere Beispiel: die Handhabung von Patentrechten auf Lebewesen und Lebensprozesse. Die Totalisierung des Marktes wird heute nirgends energischer und schamloser betrieben.
Heil- und Nutzpflanzen etwa, die seit Jahrtausenden von traditionellen Gesellschaften den Schatztruhen der Natur ohne Rechnung entnommen werden, finden sich, nach oft minimaler Bearbeitung oder auch nur Auswertung ihrer Eigenschaften, als Patente im Besitz der Profitwirtschaft, die von den bisherigen Nutznießern bei Strafe empfindlicher Sanktionen Lizenzgebühren einfordert.
(Das bekannteste Beispiel wurde der indische Neenbaum; ein Gutteil des Scheiterns von Seattle, Genua und Qatar geht auf die Verteidigung dieser uralten Medizinalpflanze durch indische Gelehrte und ihre dissidenten euro-atlantischen Verbündeten zurück, zu denen ein paar meiner Freunde gehören.)
Im Humanbereich, wo noch Gefechte auf manchmal ziemlich willkürlich gewählten Feldern geführt werden, ist das Prinzip der Preisfindung längst rüstig am Werke. Man denke nur an die Belieferung zahlungskräftiger Kunden mit qualitätsvollen Angeboten privater Samenbanken. Auch die Klonierungsdebatte im menschlichen Bereich wird in erster Linie nicht um künftige Herzenszwillinge geführt, sondern um die Höchstkompatibilität von organischen Ersatzteillagern — Herzen, Nieren, Lungen, Lebern undsofort —, die sogar auf Vorrat angelegt werden könnten.
Wie gesagt, Zahlungsfähigkeit ist dabei natürlich absolute Voraussetzung. Und damit enthüllt sich der letzten Endes zukunftsfeindliche, der fundamentalistisch-enggeführte Charakter des Totalen Marktes — ein ganz wesentlicher Unterschied zur Antike, in der die Deformationen durch den Kaiserkult im Vergleich lächerlich gering waren. Die neoliberalen Propheten des Marktes wollen das naturgemäß nicht wahr haben.
Sie betonen ausdrücklich und immer wieder, daß die unsichtbare Hand des Adam Smith zu ihrer Ergänzung, ja zur Sicherstellung ihres wohltätigen Wirkens sowohl eines Systems politischer Rahmenbedingungen wie auch eines kulturell-wertstützenden ethischen und sozialen Systems bedürfe — Michel Camdessus, der einstige Chef des Weltwährungsfonds und ein sehr kluger Kopf, spricht ausdrücklich von <drei Händen>.
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Das Argument wäre zwingend, lägen nicht genug bedrückende Beweise dafür vor, wie der eingebaute Expansionsdrang des Markts mit den beiden anderen Händen verfährt. Der »Markt« ist ja längst nicht mehr das, was man etwa im Mittelalter darunter verstand: ein Erdenfleck in der Mitte einer Stadt, wo man hinging, wenn man ein Wams, einen Schinken, einen Wagenreifen benötigte. Der heutige Markt, wie durch das Wort marketing schlüssig ausgewiesen, ist vielmehr eine beutehungrige Reiterarmee, die ihrer Kundschaft vielköpfig und vielhufig hinterher jagt.
Man hat ausgerechnet, in den USA wie im EU-Europa, daß der Durchschnittsbürger täglich durchschnittlich 3000mal in irgendeiner Form kommerziell und/oder politisch <angemacht> wird — die Anmache ist ja selber zu völliger Selbständigkeit als hochqualifizierte Wirtschaftsbranche herangewachsen.
Der klassische Lehrsatz von der Bedürfnis-Befriedigung durch die Wirtschaft ist ja längst dadurch widerlegt, daß niemand genau sagen kann, was ein Bedürfnis ist. Vielmehr: Man ist sich längst darüber klar, daß höchstens das Bedürfnis nach ein paar Kalorien und Nährstoffen, das Bedürfnis nach Temperaturausgleich durch etwas Kleidung und/oder Heizungswärme als naturbedingt gesehen werden können, aber daß schon die Sexualität komplizierter kultureller Überformung bedarf, um im Sinne der Arterhaltung zu funktionieren. Sämtliche anderen Bedürfnisse sind sozial bestimmt — sozial und durch das, was die Väter einmal die »Unruhe des menschlichen Herzens« nannten.
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Wer Märkte schaffen oder erschließen will, muß also zunächst das Bedürfnis nach den Produkten schaffen, die er dort verscheuern will. Und dieses Bedürfnis ist längst nur mehr dadurch zu schaffen, daß man dem politischen wie dem kulturell-sozialen Sektor laufend Kompetenzen entzieht. Das klingt zunächst ziemlich abstrakt. Aber es führt uns zurück auf ein Grundproblem, mit dem unsere Art seit Urzeiten zu kämpfen hat: der Asymmetrie ihrer Ausstattung für den Lebenskampf.
In ihr steckt, wie in jeder anderen Art auch, zunächst ein unbegrenzter Appetit, die Sucht, jede nur erreichbare Ressource zu ergreifen, sich zu sättigen, sichs Wohlsein zu lassen, sich zu vermehren, bis ihn die wachsende Unwirtlichkeit, die wachsende Unergiebigkeit, die wachsende Unzuträglichkeit der Umwelt zum Wandern, zur Umstellung seiner Verhältnisse — oder zum Sterben nötigt; das klassische Beispiel ist die Bierhefe, die nach rasendem Wachstum in den eigenen Exkrementen erstickt.
Darüberhinaus aber verfügt der Mensch über das, was wir ganz objektiv seinen Plus-Faktor nennen wollen: seine durch das Großhirn, den aufrechten Gang, die Sprache und die spezielle Entwicklung des Daumens um das Vielfache gesteigerte Ausrüstung. Der Mensch, jeder Mensch, ist sozusagen Sokrates und Berlusconi an einer Deichsel. Edward Wilson, der eingangs Erwähnte, kommt deshalb zu dem melancholischen Schluß: »Der edle Wilde hat nie existiert ... der Garten Eden, von Menschen besiedelt, verwandelt sich in ein Schlachtfeld. Das Paradies zu finden, heißt es zu verlieren.«
Die Weisen aller Zeiten haben diese Asymmetrie von jeher erkannt. Sie haben von jeher versucht, durch kulturelle, durch soziale, durch religiöse Systeme ihren mörderisch-selbstmörderischen Auswirkungen zu steuern. Einigen traditionellen Gesellschaften ist dies verhältnismäßig gut gelungen; die Seßhaftigkeit, ein wichtiger Schritt weg von der reinen Beutemacherei, brachte wieder neue, eigene Gefahren mit sich, an denen wir noch heute laborieren. Aber im Kontext einer Hochkultur ist diese Theorie, sagen wir ruhig die Reichsreligion des Totalen Marktes, ein wirkliches Novum.
Das aristotelische [griechisches Wort], das Wahre und Gute, um das Philosophen und Theologen jahrtausendelang und meist vergebens rangen, ergibt sich nach dem Dogma dieser Religion einfach daraus am sichersten und einfachsten, daß man den Bierhefe-Instinkt sein Werk möglichst unbehelligt tun läßt. Das politische, das kulturell-moralische System in Ehren — aber sie sollen sich gefälligst nicht in das Wirken und die Expansion des Marktes einmischen.
Darauf und auf nichts anderes laufen die Bemühungen der GATT- und später der WTO-Runden hinaus. Aber wie schon die bisherige Praxis, die bisherigen Entscheidungen der WTO-Organe zeigen, läuft dieses Zurückdrängen jeglicher politischer oder sozialer Einmischung auf nichts anderes als auf die Zerstörung der sozialen und ökologischen Mindeststandards hinaus, die sich wenigstens einige maßstäblich tätige Teile der Menschheit mühsam genug erarbeitet haben.
Wer solche Standards als nichts anderes zu deuten versteht denn als Wettbewerbsverzerrung, ja »Enteignung« (die Definition wurde hemmungslos schon bei den MAI-Verhandlungen vor 1998 verwendet), der kann natürlich nicht begreifen, daß damit die totale Herrschaft des Totalen Marktes zwangsläufig eingeleitet wird auf Kosten all dessen, was im Interesse der Menschheit, vor allem der zukünftigen Menschheit liegt.
Jedem unabhängigen Geist muß es klar sein, daß eine solche Alternativlosigkeit nichts anderes als den Entschluß zum kollektiven Selbstmord bedeuten kann. In den meisten Fällen wird dieser Entschluß nicht ausdrücklich gefaßt, wohl aber resignativ hingenommen werden. In meinem Buch, Global Exit, stelle ich den Kirchen vor, daß sie dieser Herausforderung eines fundamentalistischen Totalen Markts ihrem ganzen Selbstverständnis nach, aber auch im Interesse unserer Kinder und Enkel unmöglich mit Neutralität begegnen können, sondern daß sie ihn als die Herausforderung durch eine feindselige Reichsreligion begreifen müssen.
Was die Ethik Ihres Bundes betrifft, meine Damen und Herren, so fühle ich mich nicht berechtigt, unmittelbare Schlüsse zu ziehen. Als wohlwollender Außenseiter, wenn ich so sagen darf, neige ich allerdings dazu, als eines der gelungensten Manifeste Ihres Geistes die Sarastro-Arie aus der Zauberflöte zu begreifen. Sollten Sie mir darin zustimmen, könnte ich mir ein Bündnis zugunsten der bewohnbaren Zukunft durchaus vorstellen.
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