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 Protest von links 

Vorwort von Jean Amery 

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Seit langem schon ist mir kein so erschütterndes und - hoffentlich - aufrüttelndes Schriftwerk vor Augen gekommen wie die vorliegende Dokumenten­sammlung, die hier einzuleiten meine Aufgabe ist. Ein schlecht erfüllbarer Auftrag. Was ist noch zu sagen über das hinaus, was der Leser in diesen Blättern finden wird? Dies und das vielleicht doch.

In ihrer Einführung sprechen die Herausgeber von dem mir rätselhaften Faktum, daß die Linke in den west­europäischen Ländern das Problem der politischen Gefangenen in der UdSSR »verdränge«, und Ralph Giordano wird zitiert, der in diesem Zusammen­hang von einer »Internationalen der Einäugigen« spricht. Das eine Auge ist scharf, aber es blickt nur nach rechts. Dort erkennt es deutlich die ungeheuerlichen Verletzungen der Menschenrechte, worauf der Mund dann — rechtens natürlich, dreimal ist's zu unterstreichen — sich auftut zum Protest. 

Der Blick nach links aber ist diesem Auge offensichtlich verwehrt; so kommt ein falsches Weltbild zustande, erhebt sich ein Lärm, der nur gerechtfertigt wäre, wenn er sich auch vernehmen ließe, wo im eigenen oder verwandten Lager Menschenopfer unerhört fallen.

Vieles sei jenen, die hier reaktionäre Machenschaften wittern, gleich eingangs eingeräumt. Es stimmt: Die sowjetischen Zwangs­arbeitslager, wie wir sie aus diesen Zeugenschaften kennen, sind nicht vergleichbar mit denen Hitlers. Aus Auschwitz hätte niemand gewagt, protestierend an die Machthaber zu schreiben, und hätte er's versucht, er wäre auf der Stelle totgetrampelt worden. In Buchenwald gab es keinen Hungerstreik: die Häftlinge wurden, noch ehe man sie einlieferte, so vollkommen geknickt, daß auch kein Gedanke an aufrechten Gang ihnen kommen konnte. In Bergen-Belsen gab es keine Familien­besuche, welche die Behörden in letzter Minute aus purer Bosheit hätten verbieten können, keine Pakete, die gestohlen oder aus Gemeinheit zurückgehalten worden wären. Vor allem aber: In den sowjetischen Lagern wird - anders als in den Nazi-KZ - im Augenblick keine systematische Vernichtung betrieben; es gibt kein sowjetisches Treblinka.

Soweit dies. Aber berechtigt es uns zur Einäugigkeit? Und mehr noch: Sind nicht im Hinblick auf ideologische Prinzipien die russischen Lager und Gefängnisse noch fürchterlicher als die deutschen es waren, weil nämlich diese die konsequenten Äußerungs­formen eines a priori sich schon als unmenschlich eingestehenden Staatsdenkens waren, jene aber in gellendem Widerspruch stehen, nicht nur zur Verfassung der UdSSR, sondern zur gesamten marxistisch-humanistischen Ideologie, auf welche sich zu berufen die Herrschenden in diesem Lande nicht müde werden?

Wir haben darum nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, unsere Stimmen zu erheben, wenn wir von Verletzungen der Menschen­rechte in der Sowjetunion vernehmen. Und eben hier, in diesen wenigen Buchseiten, ist das zweifach Unerträgliche vor uns ausgebreitet, ich meine: das, was geschieht, als solches, und daß es geschehen kann in einem Staatswesen, das sich sozialistisch nennt, das sich gründet auf eine Theorie, deren äußerster Bezugspunkt der Mensch ist, der Mensch mit seinen unantastbaren Rechten. Man faßt sich, liest man weiter und weiter, in ständig wachsender Fassungslosigkeit an den Kopf, wenn man zugleich alle Hoffnungen sich vor Augen hält, die an die Oktoberrevolution sich einst knüpften und als ein mächtiger Atemzug der Geschichte erfühlt wurden.

Der Marxismus ward, so wird man es gewahr, in der UdSSR zu einem Potemkinschen Dorf des Gedankens. Produktionsziffern — und nehmen wir die offiziellen sogar als wahre — wiegen nicht auf, was in diesem Lande mit Menschen geschieht, die zu einem guten Teil nichts anderes wollen als echten Sozialismus. 

Keine Wunderwaffen sind mächtig genug, die Scham zu töten, die sich unser bemächtigt, die Schmach zu tilgen, welche die Verantwortlichen ihrem eigenen Lande antun. Oder anders gefaßt: Die Untaten des Kapitalismus und der Faschismen rechtfertigen nie und nimmer die Verbrechen, deren ein vorgeblich sozialistisches Regime sich schuldig macht.

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Gerade aber weil es sich um ein sozialistisches System handelt, mit dem wir es zu tun haben, und andererseits, wie sich erwiesen hat, Proteste nicht nur möglich, sondern in raren Fällen — ein Beispiel sei der inzwischen aus einer so benannten »Psychiatrischen Klinik« befreite und im Westen lebende Mathematiker Pljuschtsch — auch erfolgreich sein können, ist die Herausgabe dieser Dokumente und ihre weitestgehende Verbreitung so unerläßlich. Mit den Nazis war nicht zu reden: Sie waren gleichsam »Mörder von Geburt« und mordeten nach dem Gesetz, nach welchem sie angetreten, unangefochten von der Meinung der Welt. 

Die Gewaltherrscher der Sowjetunion jedoch sind verstockte Bürokraten der Grausamkeit und servile Diener eines Dogmas, das seinen Sinn in ihrem Lande längst verloren hat. Sie sind nicht völlig unempfänglich gegenüber der Entrüstung der Welt; allenfalls schütteln sie den Kopf, ungläubig, daß das für sie selbstverständliche Verhalten gegen Nonkonformisten überhaupt Empörung auslösen kann. Nun, man muß ihnen dies einbleuen, muß ihre aus Verständnis­losigkeit ins Schütteln geratenen Schädel beuteln, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.

Entscheidend ist hierfür, daß die Proteste von der Linken der Welt unterstützt werden, daß es nicht, um es in der Ritualsprache zu sagen, »Lakaien des Imperialismus und Monopolkapitalismus« sind, die sich aufbäumen, sondern Männer und Frauen, die sich ihrerseits auf den Sozialismus berufen. Ich bin überzeugt, es hat nicht wenig zur Befreiung des Mannes Pljuschtsch beigetragen, daß sich der französische Mathematiker Laurent Schwartz, ein den Kommunisten nahestehender Gelehrter, mit Vehemenz für seinen Schützling eingesetzt hat. 

Wenn ein Mann wie Heinrich Böll deutlich Position bezieht, dann ist die Wirkung unvergleichlich stärker, als wenn dasselbe eine ebenso angesehene, aber politisch farblose oder gar prinzipiell sowjetfeindliche Persönlichkeit täte. Es hat sich ja schließlich doch seit den Tagen Stalins in der UdSSR eine Entwicklung zum Besseren vollzogen, nur ein Narr kann das ableugnen. Die Zeiten, in denen Sartre, weil er den Stalinismus kritisierte, als »schreibende Hyäne« (von Fadejew) bezeichnet wurde, sind vorbei.

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Mag sein, es findet dieser oder jener, daß gerade die hier vorgelegten Dokumente gegen meine These sprechen. Die Fakten sind ja tatsächlich haarsträubend. »Täglich und stündlich wird in mir die Persönlichkeit und das Lebende getötet«, schreibt der Psychiater Semjon Glusman in einem aus dem Lager geschmuggelten Brief an seine Eltern. Und weiter: »Der Hund, der mich hinter dem Stacheldrahtzaun bewacht, bekommt kalorienreichere, wertvollere Nahrung (...) Ich bin kahlgeschoren, ich habe immer Hunger, ich erfriere auf dem Zementboden der Strafzellen ...« Er schreibt aber auch: »Ihr habt es schwer, aber wollt Ihr, daß ich Jan Palachs Mutter verrate? (...) Sie hat keinen Sohn mehr.«

So äußert nur ein Mann sich, der psychisch noch nicht völlig gebrochen ist. Ein Held, recht wohl. Aber es kann eben in den russischen Lagern, Zerstörungs­kliniken, Zuchthäusern, an Verbannungsorten Helden geben. In den Nazi-KZ-Lagern traf ich gleichfalls Helden: sie wurden im Handumdrehen, wie der Fachausdruck lautete, »fertiggemacht« oder verzichteten auf ihr Heldentum. Der Unterschied, von dem ich schon sprach, liegt auf der Hand. Er macht die sowjetischen Praktiken nicht entschuldbar; aber er würde, gerade weil er einsehbar ist, unser Schweigen unentschuldbar machen. 

Um es ganz rücksichtslos zu sagen: Es geht nicht an, die Stimme zu erheben gegen die Radikalengesetzgebung in der Bundesrepublik, wie — beiläufig — auch ich selber es tat, und zu schweigen im Angesicht der Verbrechen — jawohl: Verbrechen, ich wäge meine Worte! —, die in der UdSSR täglich immer noch, ganz als wollten sie dem Abkommen von Helsinki ausdrücklich Hohn sprechen und die gesamte Politik der Détente lächerlich machen, in grausamem Stumpfsinn oder stumpfsinniger Grausamkeit begangen werden.

Oder wäre Schweigen diplomatischer? Ich habe kein Urteil darüber, was Geheimdiplomatie hier vielleicht erreichen kann; die Vorgänge sind nicht eben angetan, mich von der Wirksamkeit geheimdiplomatischer Bemühungen zu überzeugen. Eines ist aber gewiß: Diplomatie ist Sache der Diplomaten, die erfahrungsgemäß leider glauben, sich über die moralischen Imperative hinwegsetzen zu dürfen. So bleibt der moralische Protest das Geschäft jener, die man konventionellerweise die Intellektuellen nennt.

Diese sind dem Geist verpflichtet und der moralischen Aktion, woran zu fügen wäre, daß der Geist seine Qualität verliert, wenn er nicht zugleich auch moralisch sich manifestiert: Heinrich Mann steht im allgemeinen Bewußtsein höher als Hamsun; Malraux und Sartre kommen besser weg als Celine oder Montherlant. Die Talentfrage wird sekundär.

Muß ich erst sagen, daß ich beschämt bin, diese knappe Einführung, die sich als Aufruf verstanden wissen will, allein unterzeichnen zu müssen, daß nicht alle Intellektuellen deutscher Sprache sich dazu drängten, daß nicht ein gewichtigerer Name als der meine hier fungiert? Wieder einmal glauben offenbar die Deutschen, sie seien die Welt, verbeißen sich in ihre eigenen Probleme, sehen nicht oder nur unzureichend, was jenseits ihrer Grenzen, und namentlich der östlichen, vor sich geht. 

Die hier ausgebreiteten Dokumente sprechen für sich, es ist ihnen nichts hinzuzufügen. Jetzt kann es nur noch darum gehen, daß die Zeugenschaften in Deutschland wahrgenommen werden. Hat eine solche Insistenz antisowjetische, antikommunistische Tonlage? Ich hoffe nicht, erkläre sogar, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, daß ich die oft undurchdachten Äußerungen Solschenizyns für politisch verkehrt halte, wie menschlich verständlich sie auch sein mögen. Rabiater Antikommunismus ist zu dieser Stunde eine geschichtliche Unmöglichkeit. Dezidierte moralische Stellungnahme aber ist allerwegen ebenso möglich wie auch unerläßlich, unter der Bedingung freilich, daß die Grenzen der »Realpolitik« überschritten werden. 

Sollten diese Blätter dazu beitragen, das moralische Gewissen breitester Kreise von Deutschen, die sich erfahrungsgemäß gerne süßem Schlafe hingeben, unsanft wachzurütteln, wäre viel gewonnen: für Humanismus und Sozialismus.

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Jean Amery 

 

 

 

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