Offener Brief von Wladimir Bukowski Antonjuk
201-204-205
An den Vorsitzenden
des Ministerrates der UdSSR
Alexej Kossygin
Bürger Ministerratsvorsitzender !
Konkrete Tatsachen der jüngsten Vergangenheit, die mir dieser Tage bekannt geworden sind, zwingen mich, meinen eigenen Grundsatz aufzugeben und mich direkt an Sie zu wenden, obwohl ich mir von vornherein bewußt bin, daß dies keinerlei praktischen Nutzen haben wird.
Es ist noch niemandem gelungen, Ihrer transzendentalen Existenz auf den Kremlhöhen das Schicksal der politischen Gefangenen in der UdSSR nahezubringen, die Sie als besonders gefährliche Staatsverbrecher einstufen. Weder Hungerstreiks, Krankheiten noch Selbstmorde haben dies vermocht. Ich bin kein Politiker. Wenn meine Worte auch nichts ändern sollten, so sehe ich mich gezwungen, mich heute zu äußern. Das ist meine Pflicht. Die Pflicht eines Russen.
Im April 1975 hat im Ural-Konzentrationslager WS 389/35 zwischen dem stellvertretenden Leiter des Lagers WS 389, Hauptmann Scharikow, und meinem Freund Tschekalin ein Gespräch stattgefunden. Scharikow hat Tschekalin unzweideutig chauvinistische Ansichten aufzuoktroyieren versucht und von ihm als einem Russen verlangt, er solle seine Beziehungen zu Juden, Ukrainern usw. abbrechen.
Ich bin Russe. Es schmerzt mich, daß in meinem Land offizielle Personen Chauvinismus predigen und die Russifizierung in den Rang der Staatspolitik erhoben wurde. Die zivile Eheverbindung der sowjetischen Staatsmacht mit der Elektrifizierung hat sich als unfruchtbar erwiesen, sie hat den Völkern keinen Internationalismus gebracht.
Für was sollten die Studenten der CSSR und Polens, die Bauern Litauens und der Ukraine mich, einen Russen, lieben? Man kann Iwan Dzjuba demoralisieren, aber nicht Dzjuba hat die Russifizierung hervorgebracht, sondern sie — ihn.
Es schmerzt mich, daß Rußland heute ein Völkergefängnis noch größeren Ausmaßes als vor 60 Jahren ist, bekanntlich leben Völker nicht aus freiem Willen in einem Gefängnis.
Ich bin Russe meiner Nationalität, Kultur und Sprache nach und erkläre hiermit, daß in der UdSSR nationale Diskriminierung und Zwangsrussifizierung existiert. Davon haben mich die im Lager und Gefängnis verbrachten Jahre überzeugt. Schon allein während des einen Jahres, das ich im Lager WS 389/35 verbracht habe, wurde ich Zeuge vieler Beispiele dafür.
Ihre Opritschniki mit den blauen Schulterklappen aus dem OKGB von Skalpinsk, Afanasow, Krapiwitschuk und Utyro haben mehrmals innerhalb der Lagerzone über ihr Agentennetz antisemitische Desinformation verbreitet, mit Zuckerbrot und Peitsche zwischenvölkischen Haß in der Zone zu säen versucht. Mittels ihrer Agenten aus den Reihen der Hilfspolizisten, Mörder und Abenteurer haben sie im Dezember 1974 versucht, die jüdischen Gefangenen physisch zu beseitigen.
Im Februar 1975 hat Hauptmann Utyro gegenüber Jagman offen seine antisemitischen Überzeugungen dargelegt, wobei er sich sogar bemüht hat, sie theoretisch zu untermauern.
Die Zwangsrussifizierung wird nicht nur durch die Verschickung von Ukrainern, Armeniern, Litauern und anderen zwecks »Umerziehung« nach Rußland durchgeführt, auch die bewußte »Umerziehung« zielt darauf hinaus; sie manifestiert sich in Kleinigkeiten wie das Zurückhalten von Briefen, die in nationalen Sprachen verfaßt sind, das Verbot, während der Verwandtenbesuche eine andere Sprache als die russische zu sprechen, usw.
Das Prinzip »teile und herrsche« ist die grundlegende Praxis bei der »Umerziehung« politischer Gefangener in der UdSSR. Man ist ständig bemüht, die Russen gegen die Ukrainer, Armenier usw., alle anderen gegen die Russen, die Juden gegen die Ukrainer aufzuhetzen...
Und dennoch lebt der Internationalismus. Gerade hier, im Milieu der sogenannten »bürgerlichen Nationalisten«, die unter den politischen Gefangenen überwiegen. Und wenn Bugadjan, Altman, Kalynytschenko, Switlytschnyj, Schachwerdjan, Lukjanenko, Glusman, Antonjuk - Nationalisten sind, so bin auch ich Nationalist.
Ukrainischer, armenischer, jüdischer, litauischer, tschechischer, polnischer, neuseeländischer, peruanischer (Nationalist) - weil Demokratie doch Freiheit des einzelnen Menschen und auch der einzelnen Völker bedeutet.
Leider bin ich gezwungen zu schließen, weil man mich antreibt.
Juni-Juli 1975, Wladimir Bukowski, Wladimirgefängnis
P.S. Entschuldigen Sie, aber aus verständlichen Gründen bin ich gezwungen, diesen Offenen Brief auf gar nicht »offene« Weise abzuschicken.
Ihre Gefängnisse sind nicht die besten Orte für aufrichtige Briefe.
203
Erklärung von Sinowij Antonjuk an das ZK der KPdSU
Antonjuk Z. P.
(verurteilt nach Art. 62. Nr.1 des Strafkodex der Ukrainischen SSR)
z. Z. WS 389/35An den Abteilungsleiter der Verwaltungsorgane des ZK der KPdSU
204-205
Ich wende mich noch einmal an Sie, diesmal in einer persönlichen Angelegenheit. Es geht um die Ankunft der Kommission und die »Untersuchung« der Beschwerde, die gegen Ende Mai 1974 dem ZK der KPdSU zugeleitet wurden. Wie sich später herausstellte, wurde die Kommission von dem bevollmächtigten Beamten des MWD, dem Oberstleutnant Anastasow und dem Beamten der Staatsanwaltschaft der RSFSR, Ryschow, repräsentiert.
Doch statt einer Untersuchung wurde ich Zeuge eines Ausbruchs des Großmachtchauvinismus des Oberstleutnants Anastasow, der meine nationalen Rechte, die in der Verfassung der UdSSR garantiert sind, verletzt hat. Er hat wörtlich erklärt:
»In welcher Sprache führen Sie Ihren Briefwechsel? Wäre es nicht besser. Sie schrieben Ihrer Frau, sie soll doch die Nachbarin bitten, ihr die Briefe auf russisch zu schreiben? Das ist doch ganz einfach. Natürlich soll sie nicht ständig darum bitten, es genügt, wenn sie es einige Male tut, bis sie selber gelernt hat, russisch zu schreiben.«
Man hätte dieses grobe Verhalten einem Nichtrussen gegenüber übergehen können, wie man tagtäglich ähnliche zahlreiche Ausfälle übergeht, indem man sie der mangelnden Bildung und der Primitivität des einen oder anderen Vertreters des Großmachtchauvinismus zuschreibt. Doch in diesem Fall geht es um einen Vertreter des MWD aus Moskau, der keine geringe Machtbefugnis hat und beauftragt wurde, die Praxis der Rechtlosigkeit und Willkür im Lager zu überprüfen.
Doch während der Untersuchung hat sich herausgestellt, daß der Vertreter des MWD-Apparates ein Chauvinist reinen Typs ist, an dem man nicht einmal kratzen muß (um sich mit Lenin auszudrücken). Zum ersten Male begegne ich einem Chauvinisten, der die Grundprinzipien der Verfassung der UdSSR mißachtet (daß ihm die Verfassung unbekannt ist, darf ich doch wohl nicht annehmen).
Die verächtlichen Redensarten an die Adresse von Ukrainern (die hier nur Chochols heißen) von Seiten der Feldwebel oder der diensttuenden Offiziere der Strafkolonie nimmt man schweigend hin, weil man sie dem niedrigen Bildungsniveau dieser Träger internationaler Ideen zuschreibt sowie der unglaublichen Vernachlässigung der ideologischen Erziehungsarbeit des Dienstpersonals der Strafkolonie.
Auf ähnliche ukrainerfeindliche Ausfälle von Seiten der Verwaltung kann man nur mit Empörung reagieren. Ich habe mich mit dieser Frage schon mehrfach an die höheren sowjetischen Organe gewandt. Der zynischen Ukrainophobie des Oberstleutnant Anastasow entspricht eine ganze Reihe von administrativen Maßregeln, die z. B. die Häftlinge zwingen, ihre Briefe russisch zu schreiben (übrigens ist meine Frau wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR und beherrscht die russische Sprache weit besser als der Oberstleutnant Anastasow, und nicht nur die russische, auch die englische und französische ...).
Wie soll man den Zynismus Anastasows deuten? Er verstärkt nur die negative Wirkung der Äußerung der Lagervertretung (die da lauten: »Ich mache mit dir, was mir paßt«. — »Wenn ich will, stelle ich dich auf den Kopf!« — »Wenn man uns befiehlt, euch aufzuhängen, werdet ihr aufgehängt!«) und verstärkt die Atmosphäre der Willkür in der Kolonie.
Da kommt eine repräsentative Kommission aus Moskau, die nicht nur die Ukrainophobie der Verwaltung nicht verurteilt, sondern sich selbst in dieser Hinsicht ausfallend grob benimmt. Ich war sehr erstaunt, bei einem Vertreter des MWD, bestimmt einem Mitglied der KPdSU, einen so ausgeprägten Chauvinismus zu erleben, den ich nur als politisches Verbrechen einstufen kann.
Ich mache Sie hiermit auf diese Frage aufmerksam und bitte Sie, anzuregen, daß die verantwortlichen Organe die Kommissionen aufmerksamer zusammensetzen, die die Situation in den Strafkolonien überprüfen sollen. Der Kommission in der Zusammensetzung Anastasow und Ryzkow kann ich kein Vertrauen entgegenbringen.
205
20.6.1974, Sinowij Antonjuk
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Ende